Holocaust-Gedenken statt Aufarbeitung von Kolonialismus und Sklaverei?
Von Danny Leder
In den vergangenen zwanzig Jahren hatte es in
Frankreich eine erneuerte, ganz besonders gründliche Beschäftigung mit dem
Holocaust und der französischen Beteiligung an der Judenverfolgung unter dem
Kollaborationsregime von Philippe Pétain gegeben.
Diese Aufarbeitung fand breiten Niederschlag an den
Schulen und in den Medien. Jacques Chirac hatte unmittelbar nach seinem
Amtsantritt als Staatschef, im Juli 1995, die aktive Mithilfe des
französischen Behördenapparats bei der Deportation der Juden aus Frankreich
in die Vernichtungslager der deutschen NS-Okkupanten gegeißelt (wozu sich
sein Vorgänger, der Sozialist Francois Mitterrand, niemals durchringen
konnte). Chirac sprach diesbezüglich von einer "untilgbaren Schuld"
Frankreichs.
Endlich, kann man nur sagen. Endlich haben zumindest in Westeuropa die
Meinungsträger und Regierenden den Holocaust in seiner vollen Dimension zur
Kenntnis genommen und zum Angelpunkt eines neuen europäischen
Selbstverständnis gemacht. Aber genau diese Wucht und Gründlichkeit, mit der
etwa in Frankreich der sechzigste Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
begangen wurde, haben Reaktionen bei Bevölkerungsteilen hervorgerufen, die
mit diesem historischen Kapitel in keiner Weise direkt verbunden sind. Ein
Teil der Jugendlichen aus Familien, die aus Frankreichs ehemaligen Kolonien
in Nord- und Schwarzafrika oder aus den noch immer französisch verwalteten
Karibik-Inseln stammen, reagieren auf die öffentliche Erörterung des
Holocausts mit Fragen nach der Verfolgungsgeschichte der eigenen Familien,
was als höchst legitim erscheint, teilweise aber auch mit Neid und Hass auf
die jüdische Minderheit.
Die Beschäftigung mit der Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei
erhält zusätzliche Brisanz durch die häufige Diskriminierung, die
Jugendliche aus arabischen oder schwarzafrikanischen Familien gegenwärtig
erleiden, sei es auf dem Arbeitsmarkt, bei den beruflichen
Aufstiegsmöglichkeiten, bei der Wohnungssuche oder im Freizeitbereich, etwa
bei Diskobesuchen.
Gegen diese Diskriminierungen haben sich Präsident Chirac und etliche
weitere Entscheidungsträger zumindest verbal immer wieder engagiert. Es gibt
Gesetze gegen Diskriminierung und Kampagnen gegen Ausgrenzung und Rassismus.
Dieser öffentliche Diskurs greift aber in der gesellschaftlichen Realität
nur ansatzweise und viel zu langsam. Die wirtschaftspolitischen
Rahmenbedingungen sind denkbar ungünstig: fast ein Viertel der (in keinem
Ausbildungsverhältnis stehenden) Jugendlichen sind ohne Job. Damit
verzeichnet Frankreich eine der höchsten Jugendarbeitslosenraten der EU. Bei
Jugendlichen aus Migrantenfamilien ist diese Rate fast doppelt so hoch. Die
Wut der dermaßen ausgegrenzten Jugendlichen entlud sich im November 2005 in
wochenlangen brachialen Unruhen in Frankreichs Vorstadt-Gürteln.
Was aber hat das alles im Besonderen mit den Juden zu tun? Wohl nichts.
Bei Teilen der Jugendlichen aus Migrantenfamilien hat sich aber trotzdem,
wider alle Vernunft, die Vorstellung verbreitet, ihre Probleme und das
Unrecht, das ihren Vorfahren widerfahren ist, würde man nicht genügend zur
Kenntnis nehmen, weil die Juden eine "Monopolstellung" als Opfer erlangt
hätten. Der Essayist Alain Finkielkraut hat treffend formuliert: "Der
Vorwurf des Neo-Antisemitismus an die Juden lautet, sie wären in allem
Kapitalisten und jetzt auch besonders im Bezug auf das menschliche Leid."
Die Juden, so lautet der aktualisierte Mythos, hätten alle Macht in ihren
Händen und würden diese gezielt nutzen, um Arabern und Afrikanern den Weg
nach oben zu versperren und um sie an ihrer eigenen Geschichtsaufarbeitung
zu hindern.
Der "Komiker" Dieudonné M’Bala M’Bala
Juden in
Migrantenvierteln: eine Minderheit in der Minderheit
Die Vorgeschichte im Maghreb: eine Geschichte
der Gegensätze
Europas expandierende Mächte weckten
Emanzipationshoffnungen – eine Parallele zwischen den Juden Nordafrikas und
Osteuropas |