Europas expandierende Mächte weckten Emanzipationshoffnungen – eine
Parallele zwischen den Juden Nordafrikas und Osteuropas
Von Danny Leder
Logischerweise und ungeachtet obiger Reaktionen der
Moslems weckten der zunehmende Einfluss der europäischen Mächte und
schließlich die französische Kolonialherrschaft bei vielen Juden Nordafrikas
die Hoffnung auf eine Befreiung aus ihrer Bedrückung. Das schlug sich auch
darin nieder, dass sich allenthalben Juden aus ihrer gewohnten
Unterwürfigkeit zu lösen und auf die üblichen Beleidigungen und Angriffe in
völlig überraschender Weise (für die europäischen und maghrebinischen
Zeitgenossen) zu reagieren begannen.
Genau diese Haltungsänderung der unterworfenen Juden empfanden und
empfinden etliche gläubige Moslems als eine "skandalöse Umkehr der von Gott
befohlenen Ordnung", wie der Historiker Jacques Taieb, einer der
versiertesten Kenner der Geschichte der maghrebinischen Juden, schreibt (3).
Wie sehr die Mentalitätsänderung unter den Juden zu greifen begann, zeigte
sich wohl am deutlichsten in den von Pogromen heimgesuchten jüdischen
Vierteln Marokkos: zwischen 1894 und 1911 gelang es den Juden in vier
Fällen, teilweise mit Schusswaffen ausgerüstet, die angreifenden Pogromisten
erfolgreich abzuwehren und ihnen schwere Verluste zuzufügen. 1911 widerstand
das Ghetto von Meknes einer dreimonatigen Belagerung durch den Mob und
marodierende marokkanische Truppen. Schließlich wurde der Belagerungsring
von französischen Truppen unter Anleitung jüdischer Verbindungsmänner
gesprengt. In Fez, wo die Juden auf Anweisung französischer Offiziere ihre
Gewehre abgegeben hatten, fiel das Ghetto 1912 hingegen einem Massaker zum
Opfer. Die Überlebenden verdankten ihr Heil nur dem Erbarmen des Sultans,
der den Flüchtenden Schutz im königlichen Zoo bot, während das jüdische
Viertel in Flammen aufging.
Bezüglich der Hoffnungen auf den befreienden Einfluss der europäischen
Metropolen, die die Juden des Maghreb zum Teil hegten, besteht eine
deutliche Parallele zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Mittel- und
Osteuropa. Die Juden in Osteuropa, namentlich jene, die im russischen
Zarenreich unter zahllosen Beschränkungen und periodischen Gewaltwellen zu
leiden hatten, schauten bekanntlich nach Westen, vornehmlich nach Berlin und
Wien. Von daher erwarteten sie die Erlösung, die Ankunft der europäischen
Aufklärung und Zivilisation.
Diese Hoffnung in den Vormarsch der deutschen Kultur und der deutschen oder
österreichischen Verwaltung hielt sich ja unter den Juden Osteuropas, bis
dann der Deutschnationalismus einen immer rabiateren Antisemitismus
entfaltete. Der Holocaust begrub diese spezifische Form der
jüdisch-deutschen oder jüdisch-österreichischen Symbiose.
Bei den Juden Nordafrikas konnte sich der Glaube an die
Emanzipationsversprechen durch Frankreich erhalten. Auch wenn die
europäischen Siedler, die vielfach einem vehementen christlich geprägten
Judenhass anhingen, und später, während des Zweiten Weltkriegs, das
Kollaborationsregime von Philippe Pétain die jüdische Minderheit ihrerseits
zeitweilig erniedrigten und sogar verfolgten. Aber diese punktuellen
Rückschläge verblassten angesichts der positiven Gesamtbilanz der
französischen Präsenz für die jüdische Minderheit in Nordafrika und ihrer
anschließenden erfolgreichen Integration in Frankreich.
Die Dankbarkeit der meisten Angehörigen der jüdischen Minderheit gegenüber
der französischen Republik vergrößerte die Kluft zur moslemischen
Mehrheitsbevölkerung, sofern dies überhaupt noch möglich war. Als dann, ab
den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts, die Bestrebungen zur
Errichtung eines jüdischen Staats in Palästina deutlicher wurden, kam auch
noch der Zionismus als Vorwurf von moslemischer Seite hinzu und wurde zu
einem weiteren Auslöser antijüdischer Gewalttaten. Im Gegenzug betrachteten
viele Juden auch in Nordafrika die zionistische Bewegung mit Sympathie. Nach
der Staatsgründung Israels spitzte sich dieser Gegensatz noch mehr zu. Den
Juden Nordafrikas wurde somit von der moslemischen Mehrheit sowohl
Sympathien für Frankreich als auch für Israel vorgeworfen.
Für die Juden des Maghreb, von denen annähernd 400.000 nach Israel zogen
(insgesamt fanden 650.000 Juden aus arabischen Ländern in Israel eine neue
Heimat), bedeutete die Gründung eines jüdischen Staats sowohl die Erfüllung
einer religiös inspirierten Hoffnung als auch eine Revanche für die
Demütigungen, Diskriminierungen, Massaker und Vertreibungen, die sie in der
islamischen Welt erlitten hatten. Die Entstehung Israels hatte für sie also
durchaus eine ähnliche Bedeutung wie für die Mehrheit der überlebenden
europäischen Juden nach dem Holocaust.
Man muss diese Darstellung insofern relativieren, als es in Tunesien und in
Marokko, bis in die sechziger Jahre hinein, etliche jüdische Intellektuelle
gab, die sich auf Seiten der linken arabischen Nationalisten engagierten und
bestrebt waren, am Aufbau unabhängiger arabischer Staaten mit all ihrem
Wissen und Können voll teilzunehmen. Der Großteil dieser Personen wurde dann
aber auch ins Exil getrieben.
Die komplexen Erfahrungen der jüdischen Einwanderer aus Nordafrika resümiert
der aus Marrakesch stammende Rabbiner Michel Serfaty, der eine kleine
Gemeinde in der Trabantenstadt Ris-Orangis östlich von Paris leitet.
Serfaty war im Oktober 2003 von einem jungen Franko-Araber auf offener
Straße beschimpft worden, er hatte daraufhin den Burschen zur Rede gestellt.
Dieser versetzte ihm einen Faustschlag, rannte aber dann schnell davon.
Serfaty, ehemals Teamspieler der marokkanischen
Basketball-Nationalmannschaft, ist etwa zwei Meter groß und ziemlich breit
gebaut, also eine stattliche Erscheinung. Als Spätfolge dieses Vorfalls rief
Serfaty, gemeinsam mit moslemischen Persönlichkeiten, eine
jüdisch-moslemische Freundschaftsvereinigung ins Leben. Im November 2004
beteiligten sich über 1000 Personen aus beiden konfessionellen Milieus an
einer ersten Tagung dieser Vereinigung in Paris. Seither organisiert Serfaty
alljährlich im Sommer eine Bus-Tournee der jüdisch-moslemischen Vereinigung
durch dutzende Vororte-Siedlungen in ganz Frankreich. Trotz des besonders
herzlichen Empfangs, den moslemische Persönlichkeiten und Passanten dem
Freundschaftsbus stellenweise bereiten, betrachtet Serfaty die
Gesamtsituation weiterhin als beängstigend.
Der heute 64 jährige Serfaty kam erst im Alter von 22 Jahren nach
Frankreich. "Ich bin in einer Atmosphäre des ständigen Auf-der-Hut-sein, ja
auch der begründeten Angst aufgewachsen, " erinnert sich Serfaty: "Wir
trauten uns kaum aus unserem jüdischen Viertel in Marrakesch. Wir wussten,
dass es Gegenden gab, wo Juden Gefahr liefen, getötet zu werden. Man kann
zwar nicht sagen, dass wir direkt vertrieben wurden. Aber als mein kleiner
Bruder eines Tages mit blutigem Gesicht heimkam, haben unsere Eltern
beschlossen, alles liegen und stehen zu lassen und nach Frankreich zu
ziehen. 30 Jahre haben wir an diese Dinge kaum mehr gedacht. Und jetzt ist
es wieder soweit, dass ich hier, in Frankreich, bestimmte Viertel meiden
muss, dass jüdische Kinder auf der Hut sein müssen. Es ist so, als wären wir
um eine Generation zurückgefallen. So, als hätte uns Marokko wieder
eingeholt."
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(1) ANNE-SOPHIE MERCIER: "La vérité sur Dieudonné, Paris 2005.
(2) Siehe dazu : BAT YE’OR: Le facteur dhimmi dans l’exode des Juifs des
pays arabes. In : L’exclusion des Juifs des pays arabes, Pardès 34, Paris
2003.
(3) In : JACQUES TAIEB: Etre juif au Maghreb à la veille de la colonisation,
Paris 1994. |