Gesellschaftliche Verantwortung:
Der Judenmord
Editorial von Yves Kugelmann, Tachles, 24. Feb
2006
Mord. In eine Falle gelockt, entführt, drei
Wochen lang gefangen gehalten, erbärmlichst gequält, sozusagen zu
Tode gefoltert, sterbend aufgefunden und im Krankenwagen verstorben:
Die tragische Geschichte des 23-jährigen Pariser Juden Ilan Halimi
schockiert Frankreich und erschüttert die Juden weltweit (vgl. S.
23). Denn der Sohn eines Rabbiners ist gemäss Aussagen der
Ermittlungsbehörden und von Verdächtigen zum Opfer geworden, weil er
Jude war. Und er wurde ein Opfer, weil alle, die hätten sehen
können, was geschah, zuschauten und schwiegen: zwölf verdächtige
Täter, Menschen im Umfeld der Bande, ein Quartier in der Pariser
Umgebung.
Antisemitismus. Und so wird der Foltermord zu etwas mehr als
"nur" einer Einzeltat. Er wird zu einer Tat, die eine ganze
Gesellschaft in die Verantwortung nimmt: Weil alle, die wussten,
hätten wissen können, schwiegen und so Komplizen wurden. Weil das in
der Öffentlichkeit kolportierte Bild der Juden, das sich die Täter
zu eigen machten und das vermutlich wesentlich für das Verbrechen
ist, von einer Gesellschaft über Jahre hinweg regelrecht verfeinert
und weitervermittelt, nicht aufgeklärt und bekämpft wurde. Das Bild
der Juden als Täter, das Bild der Juden als Mächtige, das Bild der
Juden als Reiche, das Bild der Juden als Privilegierte, das Bild der
Juden als das "Andere" – leider auch immer wieder unter Mitwirkung
jüdischer Organisationen –, in einem Paris, das vor kurzem die
Früchte sozialer Missstände einer verkorksten Einwanderungspolitik,
einer verpassten Integration bei den Ausschreitungen in den Banlieus
erfahren musste. Wer ein Stereotyp lange genug öffentlich verankert,
der schafft eine neue Realität; so wie Max Frisch dies in "Andorra"
oder Albert Camus in "Die Pest" anschaulichst beschrieben haben.
Werke, in denen die Autoren gesellschaftliche Mechanismen radikal
offen legen, die dazu führen können, dass ein Kollektiv ein anderes
Kollektiv oder Individuen rassistisch ausgrenzt – was bis zu Mord
führen kann. Der Foltermord von Paris wird die gesellschaftlichen
Schattenseiten beleuchten und ins Rampenlicht zerren müssen, bis
alle Brandstifter, die mit Worten und Messern angreifen, bis die
Urheber von Propaganda und Ideologie, die Aufhetzer und
Wortverbrecher in Gotteshäusern entlarvt sind, bis Stereotypen und
Vorurteile nicht mehr zu Ausgrenzung oder Mord führen, bis die
Gesellschaft Zivilcourage und Verantwortung als wesentlichen
Bestandteil eines Rechtsstaats betrachtet. Denn, wie einst Max
Frisch schrieb: "Die Unverbindlichkeit, das Schweigen zu einer
Untat, die man weiss, ist wahrscheinlich die allgemeinste Art
unserer Mitschuld".
Frankreich. Antisemitische Vorfälle sind gemäss neuen Zahlen
in Frankreich im letzten Jahr um 30 Prozent zurückgegangen. Eine
frohe Botschaft. Doch 70 Prozent der Vorfälle bleiben, 70 Prozent
Antisemitismus, von dem bereits der Philosoph Jean-Paul Sartre
forderte, dass die Mehrheitsgesellschaft für diese Verantwortung
übernehmen müsste. Konkret heisst dies heute, dass sich Bürger eines
Landes – gleich welcher Ethnie oder Religion – konsequent gegen jene
richten müssen, die in Worten, Bildern, Taten die Grundlage für
Morde schaffen, Taten, die weder mit Herkunft noch mit sozialem
Notstand der Täter legitimiert werden dürfen. Gerade auch
Gutmenschen und Falken sollen diese Tat nicht in die eine oder
andere Richtung vereinnahmen, sondern künftig Bestandteil einer
Gesellschaft werden, die verantwortlich ist für alles.
http://www.tachles.ch Partout en
France s’organisent des rassemblements citoyens pour rendre
[HOMMAGE AU
JEUNE ILAN HALIMI]...
Fotostrecke:
Demonstration zum Andenken an
Ilan Halimi
Am Sonntag kamen zu einer Pariser Demonstration für das Andenken an
Ilan Halimi rund 50.000...
Der Mord an Ilan Halimi:
Geld vom Juden
Entführung, Folter, Mord: Das brutale Verbrechen
an einem jüdischen Jugendlichen in einer Pariser Vorstadt hat in
Frankreich Angst vor einer neuen Welle des Antisemitismus
ausgelöst...
Youssouf Fofana gefasst:
Chef der "Gang der
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Der wahrscheinliche Gruppenguru und Anstifter jener Vorstadtgang,
die den jungen französischen Juden Ilan Halimi entführt,
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Herkunftsland seiner Eltern abgesetzt. Sein Fluchtversuch wurde
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Der ehem. Botschafter Israels kondoliert:
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Zum Mord an Ilan Halimi:
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Überlegungen zu einem Verbrechen an der Schnittstelle zwischen
moslemischem Judenhass und zunehmend barbarischer Jugendkriminalität
in Frankreich...
Mörderische Antisemiten?
"Geht und bettelt in euren Synagogen!"
Ilan Halimi (23), lebte in einem Pariser Vorort und war
Angestellter in einem kleinen Laden für Mobiltelefone. Er wurde
entführt und von seiner Familie wurden 450.000 Euro Lösegeld
gefordert. Eine so hohe Summe könnten sie unmöglich aufbringen,
antworteten die Angehörigen, worauf die Erpresser spotteten: "Geht
und bettelt in euren Synagogen!"...
Neue Entwicklung im Mordfall Ilan Halimi:
Untersuchungsrichter nehmen antisemitisches Tatmotiv auf
Staatspräsident Jacques Chirac rief am Dienstag persönlich die
Familienangehörigen des ermordeten Ilan Halimi an und versprach
ihnen volle Aufklärung des Verbrechens, besonders auch bezüglich der
Frage, ob es antisemitischer Natur sei...
Spektakulärer Mord bei Paris:
"Die Gang der Barbaren"
Ein außerordentlich brutales Verbrechen hält
Frankreich in Atem: Am Montag voriger Woche wurde an einem
Eisenbahngleis in der Nähe eines Vorstadtbahnhofs dreißig Kilometer
südlich von Paris der 23jährige Ilan Halimi nackt, gefesselt und
geknebelt aufgefunden... |