Spektakulärer Mord bei Paris:
"Die Gang der Barbaren"
Kriminelle Motive mischen sich mit
möglichen antisemitischen
Von Bernhard Schmid, Paris
"Das
Gehirn der Barbaren": Diesen Namen hatte sich der schwarze Franzose
Youssouf Fofana, nach dem seit dem Wochenende in ganz Frankreich, an
den Grenzen und Flughäfen steckbrieflich gefahndet wird, selbst
gegeben. Der 26jährige agierte mutmaßlich als Chef einer Bande, die
durch eine außerordentlich brutale Geiselnahme die öffentliche
Aufmerksamkeit erweckte. Dabei mischten sich pure Kriminalität und
Geldgier mit einer Faszination für Gewalt als Selbstzweck - und
möglichen antisemitischen Motiven.
Dreiwöchige Freiheitsberaubung und Folter
Ein außerordentlich brutales Verbrechen hält
Frankreich in Atem: Am Montag voriger Woche wurde an einem
Eisenbahngleis in der Nähe eines Vorstadtbahnhofs dreißig Kilometer
südlich von Paris der 23jährige Ilan Halimi nackt, gefesselt und
geknebelt aufgefunden. Der in einem südlichen Stadtteil von Paris
arbeitende Handyverkäufer war am 20. Januar 2006 entführt, nachdem
ihm eine "verlockend" aussehende junge Frau eine Verabredung gegeben
und ihn in eine Falle gelockt hatte, und im Anschluss fieberhaft
polizeilich gesucht worden. 24 Tage lang wurde er in einer
Hochhauswohnung in Bagneux (einer südlich an Paris angrenzenden
Vorstadt) festgehalten, dort zunächst geschlagen und später
gefoltert. Dabei wurden ihm Messerstiche am Hals und Brandwunden
zugefügt, schließlich wurde er mit einem Brennstoff (White Spirit)
übergossen – das Opfer, dessen Körper zu 80 % von Verletzungen
bedeckt war, starb am vorigen Montag noch während der Fahrt ins
Krankenhaus. Am Freitag wurde Ilan Halimi, unter großer Anteilnahme
der öffentlichen Meinung und der Medien, vor circa 500 Personen auf
dem jüdischen Friedhof von Pantin – einer nordöstlich an Paris
angrenzenden Kommune – beerdigt.
Die Bande, die ihn festhielt, hatte zunächst
finanzielle Motive, wobei ihre an die Familie erhobenen Forderungen
aber im Laufe der Zeit stark variierten, zunächst von 50.000 bis zu
450.000 Euro – später forderte die Gang plötzlich nur noch 5.000
Euro, um dann aber wieder zur 450.000-Forderung zurückzukehren. Zur
konkreten Anberaumung einer Geldübernahme seitens der Bande kam es
jedoch nie. Anscheinend mischten sich bei ihr einerseits
hochprofessionelles Vorgehen, auf was ihr technisches Vorgehen
schließen lässt: die benutzten Handys waren im Ausland - allem
Anschein nach in dem westafrikanischen Bürgerkriegsland
Elfenbeinküste - gekauf tworden und ließen sich nicht räumlich
orten, da die Telefonate über eine Kette von Anbietern geführt
wurden; ihre E-Mails sandten die Erpresser von Internetcafés aus,
die direkt an einer Métrostation lagen und schnelles Entkommen
ermöglichten. Andererseits legte sie amateurhaftes oder zögerliches
Auftreten an anderen Punkten an den Tag. Laut Presseberichten machte
die Bande immer dann, wenn sie (laut Polizeijargon) ihr Spiel hätte
"aufdecken" und eine konkrete Geldübergabe vorschlagen bzw.
organisieren müssen, einen Rückzieher. Nach Angaben der
Sonntagspresse prüfen die Ermittlungsbehörden jetzt, ob
Zusammenhänge mit vorausgehenden Erpressungsserien wie jener gegen
Notare in mehreren westlichen Pariser Vororten (2003/04) oder gegen
Pariser Ärzte im März 2005 bestehen könnten.
Faszination für Gewalt - welche Rolle spielte antijüdischer
Hass?
Gleichzeitig legten die Bandemitglieder,
angetrieben von ihrem mutmaßlichen "charismatischen Chef" Youssouf
Fofana (den die Ermittler als Psychopathen und "Perversen"
beschreiben, und der bereits zweimal wegen Raubdelikten im Gefängnis
gesessen hatte), offenkundig eine Faszination für Gewalt als
Selbstzweck an den Tag. Den Ermittlern zufolge zeigten sie sich von
Fernsehfilmen inspiriert, aber auch von Geschehnissen im Irak:
sowohl von den Folterbildern (US-amerikanischer Herkunft) aus Abu
Ghraib als auch von den Videoaufnahmen islamistisch oder kriminell
motivierter Geiselnehmer.
In jedem Fall ist von einem über die bloße
Erfüllung des finanziellen Zwecks der Entführungs"operation" hinaus
gehendes Gewaltelement zu beobachten. Denn wer mit Hilfe einer
festgehaltenen Geisel Geld erpressen will, sieht sich allein dadurch
noch nicht veranlasst, die entführte Person – in diesem Falle bis an
den Rand des Todes – zu foltern. Es ist freilich denkbar, dass
dieser Ausgang so nicht vor vornherein geplant war, sondern dass
sich die Bandenmitglieder zwischen Unsicherheit über die Folgen des
eigenen Tuns, eigener Unfähigkeit und "Flucht nach vorn "-Verhalten
in ihrer Brutalität immer weiter aufschaukelten. Aber die gegen die
Geisel ausgeübte Gewalt war nicht unmittelbar an den
Erpressungszweck gebunden, da man ansonsten etwa Fotos von dem
Misshandelten hätte benutzen können, um seine Angehörigen in Sachen
Lösegeldzahlung zusätzlich unter Druck zu setzen – dies ist aber
nicht geschehen.
Dass ihr Entführungsopfer jüdischer Herkunft war,
könnte die Urheber seiner Misshandlungen, nach ersten Darstellungen
in den Medien, zusätzlich angespornt haben. Die Bande hatte
Libération (Samstagsausgabe) zufolge seit dem Dezember 2005
insgesamt sieben Entführungen versucht, die bis auf die letzte
scheiterten. Dabei waren allem Anschein nach die Mehrzahl der
potenziellen Opfer jüdischer Herkunft, aber nicht alle. Der
ermittelnde Staatsanwalt Jean-Claude Marin bestreitet eine primär
antisemitische Motivation. Er erblickt in finanzieller Habgier das
Hauptmotiv. Während der ersten Vernehmungen, die bisher stattfanden,
sollen die Bandenmitglieder die Überlegung geäußert haben, "die
jüdische Community hätte sich ja zusammentun können, um die 450.000
Euro gemeinsam aufzubringen" (zitiert nach der Sonntagszeitung JDD).
Nicht unwahrscheinlich erscheint nach den
bisherigen Darstellungen, dass die Gang oder einige ihrer Mitglieder
der Auffassung wären, Juden müssten ja Geld haben, und ferner würden
sie ja alle zusammenhalten. Hass auf Juden als primäres, leitendes
Motiv wird durch die Staatsanwaltschaft nicht angenommen. Er könnte
jedoch zumindest eine sekundäre Rolle bei der Auswahl der Opfer,
und/oder bei der psychischen Enthemmung gegenüber dem wehrlosen
Entführten gespielt haben. Wie Le Monde am Freitag Abend auf ihrer
Homepage zu berichten wusste, sollen bei den Telefonaten von
Gangchef Youssouf Fofana auch mehrfach antijüdische Beschimpfungen
geäußert worden sein.
Fofana hatte sich noch nach dem Tod des Opfers
telefonisch bei der Familie Ilan Halimis und seiner Freundin
gemeldet. Letztmalig rief er am Freitag morgen um 08.00 Uhr – am
Vormittag vor der Beerdigung – bei ihnen an, um sie mit dem Tode zu
bedrohen, falls sie die 450.000 Euro jetzt nicht bezahlten. Erst
danach brach jeglicher Kontakt zu Fofana ab, der sich inzwischen
zweifellos auf der Flucht befindet.
Zu den Hintergründen der Bande
In allen Fällen wurden "verführerisch aussehende"
junge Frauen, in einem Fall auch ein "schöner Junge", als Lockvögel
eingesetzt – sie gaben ihren Opfern (wie etwa auch Ilan Halimi) ein
Date, an dessen Ort dann jedoch nicht nur die erwartete Schönheit,
sondern Bandenmitglieder mit maskierten Gesichtern warteten. Dieses
Szenario scheint ziemlich originalgetreu dem Drehbuch des Films
L’Appât (Der Köder) entnommen worden zu sein.
Dabei ging die Gang in diesem Falle wiederum eher
"unprofessionell" vor, denn die "Lockvögel" scheinen (zum Teil
zumindest) außenstehende Personen gewesen zu sein, die nicht in die
wahren Ziele und Motive der Gangster eingeweiht waren. Wohl deshalb
erwiesen sich auch als "Schwachstelle". Es war die Aussage der
blonden jungen Frau (Audrey X.), die bei früheren
Entführungsversuchen als "Lockvogel" benutzt worden war, welche die
Ermittler der Polizei auf die Spur der Bandenmitglieder brachte. Die
24jährige hatte ihr Portrait in den Medien wiedererkannt, nachdem
sie von Bekannten darauf aufmerksam gemacht worden war. Am
Donnerstag stellte sie sich der Polizei, am späten Samstag Abend
wurde sie dem Untersuchungsrichter zwecks Inhaftierung vorgeführt.
Die Aussagen der jungen Frau, die – nach zwei
vorherigen vergeblichen "Anlockversuchen" vor der Entführung Ilan
Halimis, an welcher sie nicht beteiligt war - durch die Gang
"hinausgeworfen" worden war, brachten die Polizei schnell auf die
Spur des harten Kerns der Bande. In der Nacht vom Donnerstag zum
Freitag, gegen 4 Uhr morgens, wurde der größte Teil ihrer
(mutmaßlichen, da die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind)
Mitglieder aus den Betten heraus verhaftet. Dabei scheint es
jedenfalls in einem Fall, laut einem Bericht von France Soir, zu
polizeilicher Brutalität gegen die Familie gekommen sein. Man muss
wohl hinzusetzen, dass die Ermittler seit Tagen unter Höchstdruck an
der Auflösung dieses "Falles" arbeiteten und hochgradig nervös
waren.
13 Mitglieder der Bande – unterschiedlicher
Hautfarben und Herkunft (von Weißen über arabischstämmige Franzosen
bis zu Schwarzen), fast alle arbeitslos und zwischen 17 und 32 Jahre
alt - wurden in der Nacht zum Freitag festgenommen. Zwei weitere
stellten sich am Samstag nachts bzw. vormittags selbst den Behörden,
so dass derzeit circa fünfzehn Personen in polizeilichem Gewahrsam
sind. Letzterer kann bis zu vier Tagen dauern, da es sich um ein
Verfahren wegen "Organisierter Kriminalität" handelt; im Anschluss
muss entschieden werden, ob sie in Untersuchungshaft überstellt
werden und gegen wen ein Strafprozess eingeleitet wird. Ihr
mutmaßlicher Chef befindet sich auf der Flucht, ebenso seine "rechte
Hand", sowie die junge Frau, die in diesem konkreten Entführungsfall
als "Lockvogel" gedient hatte. Nach ihnen wird Frankreichweit, aber
auch an den Grenzen und Flughäfen gefahndet. Die Sonntagspresse
vermutet, dass Youssouf Fofana sich allerdings bereits im Ausland
befinden könnten. Konkrete Hinweise auf seinen Aufenthaltsort gibt
es aber bisher nicht.
Kein Amalgam!
In den Pariser (und anderen französischen)
Trabantenstädten, die durch ein hohes Maß an Zusammenballung
gesellschaftlicher Probleme, durch soziale Zerrüttung und teilweise
Ghettoisierung dort lebender Migrantengruppen geprägt sind,
existieren zahlreiche Jugendbanden und –gangs. Oft entstehen sie aus
einer Mischung aus Langeweile, räumlicher Einengung (es ist nicht so
einfach, aus den Trabantenstädten heraus- und in die städtischen
Zentren zu kommen, vor allem ohne Geld für Transportmittel),
"Sich-Respekt-verschaffen-Wollen" und einer Art Sozialneid heraus.
Die konservative Boulevardzeitung France Soir vom Samstag schreibt
etwa über Bagneux, den Ort des Verbrechens oder jedenfalls der
Gefangenschaft von Ilan Halimi: Jugendliche aus Migrantenfamilien
"kreuzen sich in der Ghettosiedlung (der Cité des Tertres, wo Ilan
Halimi in einer Hochhauswohnung eingesperrt war) und sehen jeden Tag
die jungen Leuten aus den benachbarten Reihenhaussiedlungen, die
aktuell gerade vom Skifahren kommen, während ihnen selbst zum
'Ausbrechen' nur das Haschischrauchen bleibt."
Nur die allerwenigsten Jugendgruppen oder –banden
legen jedoch ein derartiges Maß an Gewalttätigkeit und Brutalität an
den Tag wie jene um Youssouf Fofana. Letztere scheint aus drei
voneinander abgeschotteten Gruppen bestanden zu haben: Jene
Personen, doemit der Entführung befasst waren, wussten nicht
(unbedingt), was die Bewacher der Geisel taten, und waren nicht
(unbedingt) mit den "Verhandlungsführern" in Kontakt. Die Fäden
schienen im Wesentlichen in der Hand von Youssouf Fofana zusammen zu
laufen. Dieser hat allem Anschein nach als eine Art Gruppenguru
agiert, der z.T. Personen wesentlich jüngeren Alters (zehn Jahre
jünger als er selbst) als eine Art charismatische Führungsfigur um
sich zu scharen vermochte und durch besonders hartes, skrupelloses
Auftreten zu beeindrucken suchte.
Der Soziologe Marwan Mohammed, der sich auf
Jugendgewalt spezialisiert hat, unterscheidet (in einem Interview
mit Libération vom Wochenende) zwischen Gangs jüngerer Jugendlicher,
die bis etwa um die Volljährigkeit aktiv sind und deren Mitglieder
dann aber im Alter von 18 mehrheitlich ins "normale Leben"
umschwenken, da sich ihnen die entscheidende Frage der Eingliederung
oder des dauerhaften Lebens auf der "schiefen Bahn" dann
eindringlich zu stellen beginnt – und jenen Gruppen oder Individuen,
die dieses "Umschwenken" nicht schaffen. Manche von ihnen rutschen
dann in straffer organisierte Gruppen der organisierten Kriminalität
ab. Andere, und darum scheint es sich im vorliegenden Fall zu
handeln, kombinieren eine amateurhafte Kriminalität (sozusagen in
"Eigenregie") mit dem Versuch, ebenso hart wie "echte",
strukturierte Mafiagruppen aufzutreten und sich dadurch "Respekt" zu
verschaffen. Um einen solchen Fall, kombiniert mit einer
Gruppendynamik rund um einen unberechenbaren und gefährlichen
Psychopathen, scheint es sich in dieser Sache zu handeln.
Dies kann und darf zu keinerlei Amalgambildung
zwischen den Vorstädten und ihren Bewohnern im allgemeinen, der
sozialen Banlieue-Problematik und/oder den (sozial motivierten, aber
sich scheinbar sinn- und ziellos Bahn brechenden bzw. " entladenden
") Unruhen vom Oktober und November 2005 Anlass geben. Dabei ist es
wichtig festzustellen, dass es etwa gerade in der Cité des Tertres –
dort, wo Ilan Halimi gefangen gehalten wurde – anlässlich der Riots
vom Spätherbst 2005 vollkommen ruhig geblieben ist: "Dort brannte
während der Gewaltausbrüche im November kein einziges Auto".
(Libération vom Wochenende) Zu behaupten oder zu denken, wer Autos
anzündet oder Steine auf eine (in den Banlieues allzu häufig
gewalttätige) Polizei wirft, der entführt und foltert auch
unschuldige Opfer, wäre ein absoluter Kurzschluss. Im Gegenteil:
Dort, wo organisierte Bandenstrukturen örtlich existieren, blieb es
eben während der Riots meistens ruhig – denn ihre Mitglieder können
es absolut nicht "gebrauchen", wenn aufgrund spontaner Ausbrüche der
Jugendlichen Polizeikräfte in "ihr" Quartier gezogen werden.
Es handelt sich vielmehr um sehr unterschiedliche
Wege, auf denen eine – allgemeine, in diffuser Form (besonders, aber
nicht nur) in den ghettoisierten Zonen permanant vorhandene –
soziale Gewalt Entladung findet. Im Fall des jüngst bekannt
gewordenen Verbrechens handelt es sich um die denkbar schlimmste
Form.
Umstritten in den französischen Medien ist
derzeit, ob es richtig und vernünftig wäre, in so starker Form über
die Medien zu kommunizieren und Details dieses erschreckenden
Verbrechens mitzuteilen, wie dies der Fall war. Die konservative
Boulevardzeitung France Soir meint "Ja"; sie titelt "Die
Medienkommunikation hat sich ausgezahlt" und verweist darauf, wie
die vormalige "Lockvogel"spielerin Audrey dazu bewegt worden sei,
sich der Polizei zu stellen. Die linksliberale Tageszeitung
Libération ist gegenteiliger Auffassung und verweist darauf, der Law
& Order-Minister werde dieses Verbrechen dazu ausnützen, eine
allgemein repressive Politik insbesondere in den Banlieues (die die
vorhandenen Probleme sicherlich nicht verbessern wird)
durchzusetzen. Ferner könnte man das Risiko ansprechen, durch die
Kommunikation neue Faszination für die Gewalt der "Barbarengang" zu
wecken oder Trittbrettfahrer zu animieren.
Am Sonntag nahmen "über 1.000 Personen" (Le Parisien) bzw.
"mehrere tausend Personen" (Le Figaro) an einem Schweigemarsch für
Ilan Halimi im Zentrum von Paris teil. |