
Emigranten der dreißiger Jahre:
"Kommst du aus Überzeugung oder aus Deutschland?"
Von Anke Schwarzer
Jungle World
14 v. 06.04.2005
"Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig.
Wir tragen den Zettelkasten mit den Steckbriefen unserer Freunde wie einen
Bauchladen vor uns her. Forschungsinstitute bewerben sich um die
Wäscherechnungen Verschollener, Museen bewahren die Stichworte unserer
Agonie wie Reliquien unter Glas auf. (…) Greift zu, bedient euch. Wir sind
die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig."
Die Worte, die Hans Sahl 1973 in dem Gedicht "Die Letzten" genervt wie
mahnend niederschrieb, bilden den Titel eines von Anne Betten und Miryam
Du-nour herausgegebenen Buches. Es lässt deutschsprachige Juden zu Wort
kommen, die in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts nach Palästina bzw. in den 1948 gegründeten Staat Israel
auswanderten.
Waren es vor 1933 nur rund 2 000 Männer und Frauen, die die Alija wagten,
wie die Einwanderung nach Israel bezeichnet wird, gingen nach Angaben der
Herausgeberinnen zwischen 1933 und 1940 mindestens 55 000 nach Palästina.
Andere Schätzungen sprechen von 90 000 Menschen. Manche kamen nicht
unbedingt wegen einer zionistischen Grundhaltung. Für die meisten war es
vielmehr eine Notwendigkeit. "Kommst du aus Überzeugung oder kommst du aus
Deutschland?" Das geflügelte Wort jener Jahre lässt ahnen, mit welch
zwiespältigen Gefühlen die bereits etablierte jüdische Gemeinschaft die
späten Neuankömmlinge aus Deutschland, die "Jeckes", wie sie halb spöttisch,
halb liebevoll genannt werden, empfing. Zudem trafen sie in Israel Menschen
aus Polen, Ungarn und Litauen, die "nicht gerade sehr jeckenfreundlich
eingestellt" waren, wie Joseph Walk in dem Buch berichtet. Viele Migranten
aus Deutschland hatten das Land nicht mehr rechtzeitig verlassen können,
konnten aber der Vernichtungsmaschinerie entkommen und emigrierten nach der
Befreiung durch die Alliierten ebenfalls in den neuen Staat Israel.
Heute leben nur noch einige Tausend dieser Generation. Mit 150 dieser
Einwanderer haben die Herausgeberinnen Interviews geführt. Sie haben sie
über ihre Kindheit und Jugend, über ihren Weg zum Zionismus und ihre
Entscheidung, nach Palästina zu emigrieren, befragt. Themen waren auch die
Vernichtung des jüdischen Lebens in Europa, das Schicksal der Familie und
die Aufarbeitung der Vergangenheit. Darüber hinaus drehten sich die Fragen
um den Beginn des neuen Lebens und das persönliche Verhältnis zu Deutschland
und zur deutschen Sprache.
Das Buch setzt voraus, dass die Leser gründliche Kenntnisse der Geschichte
der Juden in Europa und Israel besitzen, da es auf eine historische
Einführung verzichtet. Es lebt von den Schilderungen und Einsichten der
Befragten. Irritierend wirkt zunächst, dass die Interviews mit den einzelnen
Auswanderern nicht in einem Stück präsentiert werden. Sie wurden unterteilt
und – nach Themen sortiert – in kleinen Häppchen wieder zusammengestellt.
Außer dem Namen und dem Geburtsjahr werden keine Angaben über die befragte
Person gemacht. Doch nach und nach setzt sich aus den Fragmenten ein Bild
der Interviewten zusammen.
Die bereits zwischen 1989 und 1994 interviewten Männer und Frauen sind
nunmehr zwischen 70 und 100 Jahre alt. In den dreißiger und vierziger Jahren
des 20. Jahrhunderts kamen sie als Kinder und junge Erwachsene, oft ohne
Eltern, nicht selten als einzige Überlebende ihrer Familien, die in
Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei, Polen oder Rumänien in der
deutsch-jüdischen Kultur verankert waren.
Im Kapitel über das Sprachenproblem berichten sie von ihren Erlebnissen mit
der deutschen und hebräischen Kultur in Israel. "Als wir nach Kfar
Schmarjahu kamen, war ich entsetzt, wie deutsch dieses Dorf war und dass sie
keine Ahnung von hebräischer Kultur hatten. Ich wurde in den Kulturausschuss
des Ortes gewählt, und da habe ich gesagt: ›Jetzt ist Schluss mit deutschen
Veranstaltungen, jetzt werden wir mal hebräische machen!‹ Ich habe aus Tel
Aviv hebräisches Theater und hebräische Vorträge bestellt", sagt Ayala
Laronne, die 1916 in Zwickau geboren wurde und später in Berlin eine
hebräische Sprachschule besuchte, bis sie 1933 nach Palästina emigrierte.
Auch wenn manche nach Jahrzehnten noch kein Hebräisch sprechen konnten,
nahmen die Deutschsprachigen ganz allmählich an der sich entfaltenden, neuen
hebräischen Kultur teil. Viele legten sich einen neuen Namen zu, andere
weigerten sich, als Ben Gurion die Devise ausgab, alle Israelis mit einem
öffentlichen Posten sollten ihren Namen hebräisieren. Fritz Schwarzbaum hat
seinen Namen in Efraim Orni geändert. Seinen ursprünglichen hebräischen
Zweitnamen, Israel, habe er verworfen, weil die Nationalsozialisten alle
männlichen Juden so nannten, berichtet er. Und aus Schwarzbaum wurde nach
einer ausführlichen Beratung mit seiner Ehefrau der Nachname Orni – in
Anlehnung an Oren, das hebräische Wort für Kiefer.
Recht pragmatisch ging die Namensänderung bei Hilda Grossmann vonstatten,
die sich in dieser Angelegenheit an ihren Lehrer wandte. "Und der hat den
Namen genommen, in hebräischer Schrift vor sich hin gelegt, dreimal gekuckt
und dann den letzten Buchstaben von Hilda abgestrichen und, statt von rechts
nach links, von links nach rechts gelesen. Und daraus ist entstanden Dalia.
Und da das dieselben Buchstaben waren, war mein Vater einverstanden",
erzählt Dalia Grossmann, die mit 14 Jahren nach Palästina kam.
Gleichwohl gab es einige Jeckes, die sich lange Zeit als "deutsche
Patrioten" verstanden und die auf der Suche nach anderen Jeckes waren, wie
Ernst Schwarz, der 1938 nach Palästina reiste, um sich nach einem Ort
umzusehen, wo er leben wollte. "Ich wollte einfach ein Jeckendorf finden, in
dem wir uns ansiedeln konnten", erzählt er. "Wir gehen nach Kfar Jedidija!
Und wir haben dann im Herbst ’38 eines dieser Reihenhäuser, die die Sochnut
(die Einwanderungsbehörde Jewish Agency; d. Red.) dort gebaut hat, bezogen.
Mein Bruder hatte vorher alles ausgemessen, und wir haben uns die Möbel in
Deutschland angeschafft nach der Größe dieses Hauses. So sind wir dann
hierher gekommen im Jahre ’38", sagt er.
Andere freilich hatten nicht mehr die Möglichkeit, mit den so genannten
Transfers, die jüdische Organisationen mit den Nationalsozialisten
ausgehandelt hatten, nach Palästina zu kommen. Viel Berichte beschreiben,
wie schwierig die Ausreise und die illegale Einwanderung zu organisieren
war. Nicht selten sind sie voller Schmerz darüber, dass man Angehörigen
nicht mehr helfen konnte oder die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt hatte.
Die in Dortmund geborene Helga Lilie ging als junge Frau 1935 nach
Palästina, ihre große Familie blieb zurück – alle kamen ums Leben. "Meine
Eltern waren noch 1937 bei uns im Land zu Besuch, und dann sind sie zurück,
weil sie doch mit dem Haushalt kommen wollten. Und ’38 konnten sie nicht
mehr raus. Meine Eltern konnten sich nicht vorstellen, dass man illegal
bleibt. Das konnten sich viele geradlinige Jeckes gar nicht vorstellen. Und
das war ein großer, großer Fehler, der größte und schlimmste, den wir
gemacht haben", erzählt sie.
Das aufschlussreiche Buch spiegelt die subjektiven Gefühls- und Denkwelten
der deutschsprachigen Juden in Israel. Die Aussagen changieren zwischen
Sarkasmus, Humor, tiefer Erschütterung und beschwingter Erinnerung. Die
Männer und Frauen erzählen Anekdoten, verknüpfen historische Ereignisse wie
die Pogromnacht mit ihren persönlichen Erlebnissen und analysieren
gesellschaftliche Entwicklungen. Mitglieder der Jüdischen Brigade geben
Details preis, Überlebende berichten – sehr verhalten, oft mit betonter
Sachlichkeit und Wortkargheit überspielt – einen kleinen Teil des
Unfassbaren.
Anne Betten und Miryam Du-nour, die inzwischen verstorben ist, zeigen ein
vielschichtiges Bild der Einwanderung in das Land Israel, das Menschen
verschiedener Schichten und Herkunftsorte und mit unterschiedlichen
Weltanschauungen gestaltet haben. Die Absicht des Buches sei es, so die
Herausgeberinnen, den Jeckes ein lebendiges Denkmal zu setzen, das Verstehen
und Anteilnahme ermöglicht. Das ist ihnen in großartiger Weise gelungen.
Vierzig Jahre deutsch-israelische
Beziehungen:
Die Jeckes als Seismografen
Das ferne Land, so nah - Die aus Deutschland
geflohenen Juden prägen und lieben die neue Heimat, und können die alte doch
nicht abstreifen...
Jeckes-Maimuna:
Sehnsucht nach Schlagsahne
Vor einer Woche ging die große Jeckes-Konferenz in Mishkenot
Sha'ananim in Jerusalem zu Ende, und danach wurden die statistischen Angaben
abgeändert, die nun lauten: die Jeckes vermehren sich...
Konferenz in Jerusalem:
Die
Rückkehr der Jeckes
Am 2. Mai wurde in Jerusalem eine internationale Konferenz, die erste ihrer
Art, über die Jeckes eröffnet. Die Konferenz befasst sich mit dem Beitrag
der Einwanderer aus Zentraleuropa zum Aufbau und der Entwicklung des Landes
und zur Erziehung, Wirtschaft, Justiz, Kunst u.m...
Deutsche Juden:
Die "Jeckes" im israelischen
Humor
Über die deutschen Juden, die "Jeckes", kursierten nach ihrer
verstärkten Einwanderung nach Palästina aufgrund des Machtantritts der Nazis
nach 1933 zahlreiche Anekdoten und Witze, denn dieser Gruppe haftete lange
etwas Auffälliges, Besonderes an...
Persönliche Erinnerungen:
Deutsch-israelische Beziehungen
1965 nahmen die Bundesrepublik und Israel
diplomatische Beziehungen auf. Ich war 15 Jahre alt und besuchte als
einziger Deutscher eine Schule für Diplomatenkinder in Sèvres bei Paris...
Dossier:
40 Jahre diplomatische Beziehungen Deutschland-Israel
Am 12. Mai 1965 haben Israel und die Bundesrepublik Deutschland offiziell
diplomatische Beziehungen aufgenommen. "Aus der Geschichte lernen - die
Zukunft gestalten" lautet das Motto dieser Verbindung, die nun schon 40
Jahre andauert...
hagalil.com 12-05-2005 |