Von Wladimir Gall
"antifa" - Magazin für
antifaschistische Politik und Kultur
Als Hitler im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, hatte ich gerade als
Germanist die letzten Examen an der Moskauer Hochschule für Geschichte,
Philosophie und Literatur bestanden. Gemeinsam mit meinen Kommilitonen und
den jüngeren Lehrkräften meldete ich mich sofort freiwillig zur Armee. Das
erste Kriegsjahr erlebte ich als Flaksoldat an der Moskauer Front der
Luftverteidigung. Im Sommer 1942 wurde ich zu einer Einheit kommandiert, die
Aufklärungsarbeit unter deutschen Soldaten leistete. Zu dieser Einheit
gehörte später auch Konrad Wolf, mit dem mich von da an bis zu seinem frühen
Tod eine tiefe Freundschaft verband.
In den letzten Apriltagen 1945 nahmen wir teil am Kampf um Berlin. Am 1.
Mai, fast die ganze Stadt war schon in unseren Händen, gab es nur noch
einzelne Widerstandsnester. Eines davon war die Zitadelle in Spandau.
Strategisch lag sie so, dass sie unsere über die Juliusbrücke nach
Brandenburg ziehenden Truppen gefährdete, also musste sie genommen werden.
Dem Oberkommando der 47. Armee war aber bekannt, dass sich außer der
militärischen Besatzung hunderte Frauen, Kinder und Greise in der Zitadelle
befanden, die dorthin geflüchtet waren. Bei einem Sturmangriff wären sie
unweigerlich mit getötet worden. Obwohl sich die faschistischen Militärs in
den letzten Kriegswochen an keinerlei internationales Kriegsrecht mehr
hielten und auch nicht davor zurückschreckten, Parlamentäre zu erschießen,
beschloss das Oberkommando, der Besatzung der Zitadelle die Kapitulation
anzubieten und so den sinnlosen Tod vieler Menschen zu verhindern. Dazu
wurden zwei Parlamentäre aus unserer Einheit entsandt.
Obwohl alle wussten, dass diese Mission so kurz vor Ende des Krieges fast
einem Todesurteil gleichkam, war jeder aus unserem Trupp bereit, zusammen
mit unserem Kommandeur, Major Grischin, die Aufgabe zu übernehmen. Die Wahl
fiel wegen meiner guten Sprachkenntnisse auf mich. Ich war damals 26 Jahre
alt, mein Dienstgrad war Hauptmann. Die Geschichte unserer Aktion hat Konrad
Wolf später in seinem Film "Ich war neunzehn" erzählt. Der Kommandant der
Zitadelle - ein Oberst, doch kein Militär, sondern ein zur Wehrmacht
einberufener Professor für Chemie, stieg mit seinem Stellvertreter über eine
Strickleiter aus der verbarrikadierten Zitadelle herunter. Er war nicht
abgeneigt, zu kapitulieren, fürchtete jedoch, dass seine Offiziere, darunter
einige SS-Leute, dem Führerbefehl folgen und bis zum letzten Mann kämpfen
würden. Daraufhin stiegen Grischin und ich mit ihm zusammen hoch und
erläuterten den versammelten Offizieren die militärische Lage und unser
Angebot.
Seitdem sind fast 60 Jahre vergangen, doch niemals werde ich die
Anspannung dieser Minuten vergessen. Der Hass der deutschen Offiziere, die
sehr wohl verstanden hatten, dass ihre Sache verloren war, war
unbeschreiblich. Ein Funken hätte gereicht, eine Explosion der Gewalt gegen
uns auszulösen. Wir gaben ihnen drei Stunden Bedenkzeit, stiegen hinab und
gingen in normalem Schritt zu unseren Linien zurück. Bis zur letzten Sekunde
rechneten wir damit, mit einer MP-Garbe erledigt zu werden. Doch nach Ablauf
der drei Stunden ergaben sie sich.
Unser Einsatz war nicht umsonst gewesen, hunderte Menschen waren
gerettet!
Nach dem Sieg wurde ich Leiter der Kulturabteilung der Sowjetischen
Militäradministration in Sachsen-Anhalt, danach Dozent an der
Antifazentralschule in Krasnogorsk. Nach meiner Demobilisierung habe ich bis
zur Rente als Dozent an der Hochschule für Fremdsprachen in Moskau gelehrt.
Zum 60. Jahrestag der Befreiung werde ich, wie seit dem schon oft, in Berlin
sein und gemeinsam mit meinen deutschen Freunden und allen friedliebenden
Menschen der Opfer gedenken, die der schreckliche Krieg unsere Völker
gekostet hat.
Deshalb muss unsere Losung bleiben: Nie wieder Faschismus! Nie wieder
Krieg!