Auschwitz ohne Juden
Antisemitismus ist in Polen immer ein Thema. Der Holocaust nicht.
Von Lutz Eichler
Über ein andauerndes Feindbild
"Wer den Antisemitismus erklären will, muss den Nationalsozialismus
meinen." (Max Horkheimer) Die Spezifik des polnischen Antisemitismus
entwickelt sich aus dem Begriff dessen, was Deutsche zu leisten imstande
waren - zu einem guten Teil vor den Augen von Polen. Die großen
Vernichtungslager befanden sich auf dem ehemaligen und heutigen
Staatsgebiet Polens: Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Majdanek und Belyec.
Dort wurden, nach Raul Hilberg, knapp die Hälfte der insgesamt sechs
Millionen Juden vernichtet. Heute leben in Polen noch etwa 5 000 bis 10
000 Menschen jüdischen Glaubens. 1939 waren es 3,35 Millionen, 1945 noch
50 000. Dennoch hat der Holocaust im kollektiven Bewusstsein Polens
vierzig Jahre lang kaum Spuren hinterlassen, und der Antisemitismus ist
von diesem Ereignis nahezu unberührt geblieben. Wie groß die Bereitschaft
ist, auch heute noch ziemlich unverhüllt antisemitische Stereotype im
öffentlichen Diskurs einzusetzen, zeigten in der ersten August-Woche die
Reaktionen in der Öffentlichkeit auf die Entschädigungsforderungen
jüdischer Polen, die nach den Pogromen zwischen 1945 und 1947 das Land
verlassen hatten.
Während im Land der Täter der Antisemitismus gewissermaßen "durch Auschwitz
hindurch muss" und sich dabei zu dem spezifischen sekundären Antisemitismus
transformierte ("Die Deutschen verzeihen den Juden Auschwitz nie"), blieb er im
polnischen öffentlichen Diskurs stets präsent. Das lag zunächst an der anderen
symbolischen Aufladung von Auschwitz, das von den Staatskommunisten als Ort des
Martyriums des polnischen Volkes und insbesondere seines antifaschistischen
Widerstandes umgedeutet wurde und der Legitimation des volksrepublikanischen
Staatsprojekts diente. Noch in dem 1988 erschienenen offiziellen Standardwerk
der Gedenkstätte Auschwitz (Interpress Verlag) heißt es: "(...) die KZ waren das
Hauptinstrument zur (...) Vernichtung der unterjochten Völker, vor allem der
slawischen, darunter besonders des polnischen Volkes und der Völker der UdSSR,
sowie der Juden und der Menschen, die nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 als
Juden angesehen wurden".
Erst seit dem 1987 veröffentlichten und vieldiskutierten Artikel des
Literaturhistorikers Jan Blonski in der liberal-katholischen Tageszeitung
Tygodnik Powszechny, "Die armen Polen blicken aufs Ghetto", reagiert die
polnische Gesellschaft auf die Shoah. Blonski erkennt die Verantwortlichkeit der
gesamten christlichen Welt für den Massenmord an den Juden an und meint, dass
Polen sofort nach Entschuldigungen und Rechtfertigungen für die häufige
stillschweigende Billigung suchen würden, statt sich ihre Schuld einzugestehen.
Diese bestehe nicht im Massenmord, an dem Polen ja tatsächlich keinen Anteil
hatten - es gab keine nennenswerte Kollaboration, sondern im Zögern, Widerstand
zu leisten. Seit Blonski nimmt sich die Intelligenzija zunehmend des Themas
Antisemitismus an - häufig mit Sentimentalität. Es ist nachgerade hip, die
Jahrhunderte lang andauernde "polnisch-jüdische Symbiose" zu romantisieren, in
der Ahnenforschung auf jüdische Großonkel zu stoßen, koscher zu essen und von
Klezmer begeistert zu sein. In weiten Teilen der Öffentlichkeit wird die
Konfrontation mit dem Holocaust jedoch als nationale Kränkung verstanden, da
jetzt der Opferstatus geteilt werden muss. Der polnische Nationalismus speist
sich aus der Überzeugung einer kollektiven Märtyrer- und Messias-Rolle, die ein
Opfer neben sich nicht duldet. Das nationalistische Sendungsbewusstsein hat eine
religiöse Tiefe, die die lange Zeit verzögerte Nationenbildung mythisch auflädt.
Die Dreiteilung Polens durch die Großmächte wird als heilige Dreifaltigkeit
interpretiert, der polenfeindlichen Politik der Teilungsmächte wird der
ehrenvolle Märtyrertod entgegengesetzt, der über den Widerstand zur
"Auferstehung" des "Christus der Völker" führen müsse. Die Vorstellung, zum
auserwählten Volk zu gehören, wird durch die schiere Präsenz "der Juden", aber
darüber hinaus durch die vermeintliche jüdische Reklamierung von Auschwitz als
Martyrium, empfindlich gestört.
Die Aufstellung des Waldes von christlichen Kreuzen vor den Toren Auschwitz' ist
mehrfach antisemitisch: Sie beschwört die katholisch-polnische Identität, die
sich gerade auch in Abgrenzung zur jüdischen Identität definiert, verweigert den
Juden Auschwitz als Ort des Gedenkens und der Trauer und leugnet die Shoah als
die Vernichtung der europäischen Juden. Die Kreuze wurden, bis auf ein vom Papst
geweihtes, letzten Monat entfernt, unter anderem mit der Begründung, dass es
"dem Ansehen Polens in der Welt" schade. Die katholische Kirche hatte schon in
der Teilungszeit von 1795 bis 1918 die Funktion der nationalen
Identitätsstiftung gegenüber dem protestantischen Preußen und dem orthodoxen
Russland. Wer Pole ist, bestimmte sich in Zeiten des fehlenden Nationalstaats
weitgehend über den Katholizismus und produzierte die ausschließende Verbindung
des Katholik-Polen, die den religiösen Antisemitismus mit modernem Nationalismus
verkoppelte.
Die ausbleibende polnische Staatlichkeit und die fortdauernde Fremdherrschaft
produzierte einerseits eine anarchische Grundhaltung, übergeordnete
Institutionen wurden abgelehnt - der sprichwörtliche polnische "Freiheitsdrang"
hat hierin seine Wurzel -, andererseits wurden große Teile des Landes von der
technischen Entwicklung abgeschnitten, dort entwickelte sich kein
Industriebürgertum, sondern verblieb alles in archaischem Kollektivismus, der
heute noch in Ostpolen vorherrscht. Die Repräsentanten des Marktes - häufig
Juden - wurden als Kollaborateure der jeweiligen Staatsmacht betrachtet. Die
eigentümliche Mischung aus revolutionärem Freiheitspathos, romantischer
Verklärung der spätmittelalterlichen Adelsrepublik, der Überzeugung, der
"Christus der Nationen" zu sein, zementierte einen Nationalismus, der sich als
"Nation ohne Staat" über Religion und Kultur definiert. Das Polentum sollte
kraft seiner Geistesstärke existieren, nicht qua ethnischer oder biologisch
rassischer Homogenität.
Nach der Staatsgründung 1918 tauchte mit der "Nationaldemokratie" (endecja)
unter der Führung Roman Dmowskis eine moderne, faschistische panslawistische
Bewegung auf, die die romantischen, antimodernen, religiösen Motive als Hemmnis
einer funktionierenden Staatspolitik ansah. Die endecja suchte eine
militärische, anti-intellektuelle, rassische Begründung der Nation gegenüber der
geistig-kulturell-religiösen auch mit den neuesten Mitteln der Propaganda zu
etablieren. Diesen Wechsel exekutierte der aus dem nationalistischen Flügel der
Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) hervorgegangene langjährige Staatschef
und Oberbefehlshaber der Armee, Jozef Pilsudski. Unter seiner autoritären
Herrschaft brachte der Antisemitismus auch jenen Pseudo-Antikapitalismus, wie er
auch für die deutschen Nationalsozialisten kennzeichnend war und ist, hervor,
verband sich jedoch nicht mit deren säkularisiertem protestantischen
Arbeitsethos. Die Glorifizierung von Arbeit sans phrase fand zu keinem Zeitpunkt
großen Anklang. Weder in der Zwischenkriegsphase, in der die "soziale Frage"
national gestellt und beantwortet wurde, noch in der Nachkriegszeit, die von der
staatskommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei dominiert war.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg durch die Rücksiedlung aus dem Innern der
Sowjetunion die Zahl der Juden in Polen bis Juli 1946 wieder auf 137 000 an.
Von ihnen kamen bis 1947 schätzungsweise 1 500 bis 2 000 meist bei Überfällen
und Anschlägen ums Leben. Mitte August 1945 kam es in Krakau zum ersten bekannt
gewordenen Pogrom nach der Shoah, Parczew folgte und im Juli 1946 Kielce. Dort
hatte eine jüdische Organisation ein Zentrum zur Beherbergung und Verpflegung
zurückkehrender Juden, deren Wohnungen von Nicht-Juden belegt waren oder die
auf der Suche nach Verwandtschaft in Polen umherirrten, errichtet. In Kielce
wohnten vor dem deutschen Überfall rund 25 000 Juden, etwa 4 000 starben im
ortseigenen Ghetto an Typhus, 21 000 wurden in Treblinka ermordet. Das Pogrom
wurde in Kielce durch den unmittelbaren Anlass einer Kindsentführung
losgetreten. Einen Tag lang konnte sich der christliche Mob ungehindert
ausleben: 42 jüdische Einwohner wurden ermordet. Weitere sechs Menschen wurden
aus einem Zug hinausgetrieben und getötet, eine unbekannte Zahl von Juden oder
"jüdisch aussehenden" Menschen an Bahnhöfen der Umgebung umgebracht.
In der Bevölkerung mischten sich religiöser Antisemitismus mit Antikommunismus,
der sich wiederum auf die polnisch-russische Geschichte bezog, in der Russland
als Unterdrücker galt. Es bildete sich ein umfassendes
"Judäo-russischer-Kommunist"-Stereotyp, welchem un- oder antipolnische Absichten
unterstellt wurden. Dieses konservativ-reaktionäre Ideologem erhielt sich über
die gesamte Phase der Volksrepublik bis heute in rechten Kreisen inklusive der
Solidarnosc. Doch schon in den fünfziger Jahren gesellte sich ein anderes, ein
linkes Feindbild hinzu.
In Folge der "Verschärfung des Klassenkampfes in der Übergangsphase vom
Kapitalismus zum Sozialismus" (Stalin) Anfang der fünfziger Jahre in den
Ostblock-Staaten begann 1952/53 auch in der Polnischen Vereinigten
Arbeiterpartei (PVAP) eine Säuberungskampagne, die sich vor allem gegen die
ehemaligen West-Emigranten richtete, die - ob jüdischer Herkunft oder nicht -
des "Kosmopolitismus", der "antisozialistischen" Haltung und erstmals des
"Zionismus" beschuldigt wurden.
Die größte staatliche antisemitische Kampagne begann jedoch 1967, bei der
Parteichef Wladyslaw Gomulka, dem zuvor noch von einer parteiinternen Gruppe um
General Mieczyslaw Moczar "Nachsicht gegenüber den Juden" vorgeworfen worden
war, selbst von einer "Fünften Kolonne" schwadronierte und die reformorientierte
Fraktion durch Moczarianer ersetzte. Dieselben Vorurteilsmuster dienten auch der
Unterdrückung der studentischer Proteste 1968. Auch hier hatte die Partei die
"Zionisten" als Drahtzieher ausgemacht, vom Ausland finanzierte
Konterrevolutionäre, die die polnische Jugend den Imperialisten in die Arme
treiben wollten. Die Agenten des "Weltjudentums" arbeiteten angeblich mit den
"Revisionisten" in Deutschland zusammen und bildeten eine gegen Polen gerichtete
"Achse Bonn-Tel Aviv". Zehntausende verloren ihre Stellung, knapp 20 000
verließen das Land. Mit der Ausreise verloren die "Zionisten" automatisch die
polnische Staatsbürgerschaft und wurden staatenlos. Der Angriff hatte neben den
innerpolnischen Auseinandersetzungen auch eine außenpolitische Note. Israel
hatte im später so genannten Sechs-Tage-Krieg einen überwältigenden
militärischen Sieg gegen die von der Sowjetunion unterstützten arabischen
Staaten errungen. Israel war Kriegsgegner, was in Polen praktisch hieß: Die
Juden sind Feinde.
Der Vorwurf, jüdisch zu sein oder Kontakte zu Juden zu haben, ist bis heute aus
allen politischen Lagern zu hören. Etwas diffus "Jüdisches" wird wahlweise für
den Kommunismus, das Scheitern desselben, für die soziale Krise 1989 ff., für
den "Ausverkauf des Landes" oder gerade für das Ausbleiben ausländischer
Investitionen verantwortlich gemacht. Während bis 1945 alles "Jüdische" als
"fremd" galt, wurde später alles "Fremde" als "jüdisch" denunziert. Das
antisemitische Vorurteil kommt völlig ohne konkreten Juden aus, dafür ist
Antisemitismus in Polen empirischer Beleg. Das bürgerliche Subjekt ist
strukturell antisemitisch (Joachim Bruhn) und sucht sich halbwegs willkürlich
sein Objekt. Der polnische - ob säkularisiert oder nicht - katholische
Nationalismus orientiert sich eher kulturalistisch als biologisch, ist eher
staatskritisch als anhimmelnd, eher antimodern und irrationalistisch als modern
und instrumentell.
hagalil.com
20-04-2002
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