Der jüdische Feind
Von Lutz Eichler
Antisemitismus war eines der konstitutiven Elemente bei der polnischen
Staatsgründung
Der langjährige Vorsitzende der Polnischen Sozialistischen Partei PPS, Jozef
Pilsudski, konnte sich bis zu seinem Tod 1935 gegen den rechten
Nationaldemokraten und Verehrer Mussolinis, Roman Dmowski, durchsetzen.
Pilsudskis Partei, die die national ausgerichtete Arbeiterbewegung
repräsentierte, paktierte mit der kleinen polnisch-katholischen Bourgeoisie, dem
Militär und den Großgrundbesitzern und konnte mit Hilfe des Westens einen
unabhängigen polnischen Staat gründen. Die Organisation der Internationalisten,
die Kommunistische Partei Polens (KPP) um Rosa Luxemburg und Leo Jogiches, wurde
hingegen schon 1919 verboten.
Der neue polnische Staat führte in den ersten drei Jahren seines Bestehens
gleich sechs Gründungskriege. Der größte und folgenreichste war jener von
1920/21 gegen die ebenfalls junge Sowjetunion. Dabei folgte die Mehrheit der
Arbeiterschaft Pilsudski und verhielt sich im entscheidenden Moment staatstreu.
Die Rote Armee hatte auf die Unterstützung der polnischen Arbeiter gehofft. Die
auf Warschau vorrückenden sowjetischen Truppen wurden jedoch als russische und
nicht als sozialistisch-revolutionäre Armee betrachtet.
Die nationale Befreiung hatte nun auch faktisch die internationalistische, an
die Sowjetunion angelehnte Strömung geschlagen. Die KKP spielte keine wichtige
Rolle mehr und wurde 1938 von Moskau aufgelöst. Darüber hinaus verfestigte sich
die Vorstellung, Kommunismus sei gleichbedeutend mit russischer Vorherrschaft
und grundsätzlich antipolnisch. Die Staatsgründung und Staatsdoktrin Polens war
innen- wie außenpolitisch, aus polnischer wie aus westlicher Perspektive,
antisowjetisch. Polen war als Teil des neuen Staatensystems Osteuropas, das
einen cordon sanitaire rund um die Sowjetunion bilden sollte, von Frankreich,
Großbritannien und den USA konzipiert worden.
Während der Kriege und danach versuchte der neue polnische Staat sich an einer
Homogenisierung seines Staatsvolks. Der Konstituierung als Nationalstaat standen
jedoch Minderheiten entgegen, die 30 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Zwei
Drittel der Bürger der Zweiten Republik waren polnische Muttersprachler, 15
Prozent Ukrainer, neun Prozent Juden, fünf Prozent Weißrussen und zwei Prozent
Deutsche. Unmittelbar nach dem Krieg von 1918/19 fanden, quasi als Teil der
"Nationwerdung nach innen" (1), zahlreiche Pogrome an der jüdischen Bevölkerung
statt.
Zentrale Träger des polnischen Antisemitismus waren zunächst die rechten
Christdemokraten, deren Antisemitismus sich religiös und ökonomisch begründete.
In der katholischen Kirche vermischten sich Gottesmörder-, Ritualmord- und
Wuchervorwürfe mit modernem nationalistischen Antisemitismus. Die Kirche
verbreitete auch die Mär der unauflöslichen Verbindung von Religion und Nation,
von Polentum und Katholizismus. Darüber hinaus denunzierte die
nationaldemokratische Partei von Dmowski, die Endecja, die jüdische Bevölkerung
als anti-polnisch, links, internationalistisch. Politische Forderungen der
Antisemiten waren die Isolation von Juden durch Verdrängung aus dem öffentlichen
Leben und ein Wirtschaftsboykott. In den ersten Jahren der Republik spielte die
so genannte Judenfrage in der Alltagspolitik nur eine sehr untergeordnete Rolle.
Doch nach der Wirtschaftskrise 1929 und vor allem nach dem Tod Pilsudskis im
Jahr 1935 steigerte sich der Antisemitismus sukzessive. Dmowski und die Endecja
hielten die Nation für ein gottgegebenes, natürliches und durch Blutsbande
untrennbar verbundenes Kollektiv, dem sich der Einzelne zu unterwerfen habe.
Pilsudski hingegen vertrat in seinem Sanacja (Gesundung), genannten Programm die
Position eines multinationalen Staats.
Nach seinem Militärputsch im Jahr 1926 konnten Verbesserungen der rechtlichen
Lage der Minderheiten durchgesetzt werden. Beispielsweise wurde 600 000 Juden
aus dem ehemals zaristischen Teilungsgebiet die zunächst verwehrte
Staatsbürgerschaft zuerkannt. Gleichzeitig radikalisierte sich in den späten
zwanziger Jahren jedoch der Straßenantisemitismus. Die Nationaldemokraten
entwickelten sich zur offen faschistischen und antisemitischen Bewegung, riefen
zu Pogromen und dem Boykott jüdischer Händler auf und forderten im Sejm
Sondergesetze.
Nach dem Tod Pilsudskis im Jahr 1935 änderten seine Anhänger schrittweise ihren
Standpunkt - die Situation der Minderheiten und insbesondere der Juden
verschlechterte sich. Während noch 1933 die Organisation Lager großes Polen
wegen der Anstiftung zu antijüdischen Straftaten verboten wurde, suchten die
Anhänger Pilsudskis bereits 1937 den Brückenschlag zu ihrem einstigen größten
Gegner, der Endecja.
Im März 1938 passierte ein Gesetz den Sejm, das allen die Staatsbürgerschaft
verwehrte oder entzog, die länger als fünf Jahre außerhalb Polens lebten. 17 000
Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit, die in Deutschland lebten, wurden 1938
nach Polen abgeschoben. Der polnische Staat ließ sie zunächst nicht einreisen,
sodass an der polnisch-deutschen Grenze Flüchtlingslager entstanden.
Das Regime, das Pilsudski folgte, bezeichnete Juden 1938 als "extra-staatliche
Gruppe mit unabhängigen nationalistischen Zielen, die eine normale Entwicklung
des polnischen Nationalstaats schwächt". Durch Assimilation oder Emigration
sollte die "Judenfrage" auf legale Weise gelöst werden. Die Regierung erklärte
die Beschleunigung der Auswanderung und die Reduzierung des jüdischen
Bevölkerungsanteils zu nationalen Zielen.
Zwei Wochen nach dem deutschen Einfall in Westpolen im September 1939 wurde
Ostpolen von sowjetischen Truppen besetzt. Die jüdische Bevölkerung hoffte, dass
die Rote Armee sie besser vor Pogromen schützen würde. "Zunächst wähnten sich
viele Juden tatsächlich privilegiert, doch die Sympathie für die neuen
Machthaber verflog sehr schnell." (2) Die Führung der jüdisch-sozialistischen
Partei (Bund) wurde verhaftet, der Parteiapparat von der KP übernommen,
zionistische Gruppen wurden systematisch verfolgt.
Während bei der ersten Deportationswelle im Februar 1940 fast ausschließlich
Polen, Ukrainer und Weißrussen verschleppt wurden, erfolgte im Juni 1940 die
Deportation von praktisch allen polnischen Bürgern - die meisten von ihnen waren
Juden -, die aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten geflohen waren und nun
der Spionage verdächtigt wurden. Dabei kamen Schätzungen zufolge etwa 30 000
Juden ums Leben. Da sie nicht in die Hände der Deutschen fielen, wurden durch
die Verschleppungen hingegen fast 100 000 gerettet. (3)
"Der Holocaust hat nicht in einem sozialen Vakuum stattgefunden. Es gab in jedem
der betroffenen Länder ein ganz konkretes, wirtschaftliches und moralisches
Umfeld, das dem Holocaust in jedem einzelnen Land eine andere Gestalt verlieh",
stellt Feliks Tych, der Direktor des Jüdisch-Historischen Instituts in Warschau,
fest. (4)
In diesem Zusammenhang sei es nach Ansicht von Tych wichtig, dass die Jahre
1918/19 und die zweite Hälfte der Dreißiger die "schlimmste Zeit der
polnisch-jüdischen Beziehungen" waren. Gerade diese Tatsache habe wesentlich zur
Gleichgültigkeit der Mehrheit der polnischen Bevölkerung gegenüber der
Vernichtung der Juden durch die Nazis beigetragen.
"Die polnische Gesellschaft, ihre Wortführer und Autoren, waren der Religion
nach katholisch und in ihrer Weltanschauung nationalistisch. Die Judenheit
hingegen lebte unverkennbar jüdisch. (...) Aus der Sicht des Großteils der Polen
waren die Juden, obwohl sie immer wieder ihre Loyalität zum polnischen Staat
beteuerten, nicht fähig, den Geist und die Sehnsüchte des polnischen Volks zu
verstehen. Mit Beginn der Okkupation vertiefte sich die Kluft", fasst Raul
Hilberg die Situation in den Jahren von 1939 bis 1941 zusammen (5).
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 21. Juni 1941 versuchten die deutschen
Besatzer, sich die antisemitische Einstellung der polnischen, litauischen und
ukrainischen Bevölkerung zunutze zu machen. SS-Obergruppenführer Reinhard
Heydrich hatte angewiesen, einheimische Bevölkerungskreise zu "spontanen"
Judenpogromen anzustiften. (6) Unter der von den Deutschen zugesicherten
Straffreiheit bei Judenmord fanden nach Schätzung des Jüdisch-Historischen
Instituts in Warschau im ganzen ehemals sowjetisch besetzten Ostpolen, der
Bukowina und Nordostrumänien 60 bis 100 Pogrome statt. Die Täter waren Ukrainer,
Litauer, Rumänen und Deutsche.
Unbekannt waren bisher die von Polen durchgeführten Pogrome. Der nun bekannt
gewordene Massenmord an den jüdischen Einwohnern von Jedwabne stellt jedoch
keinen Einzelfall dar. Mittlerweile gibt es Informationen über weitere Massaker
im Bezirk Bialystok.
Die Pogrome fanden alle unter ähnlichem Vorwand statt. Traditionelle
antijüdische Feindbilder wurden mit dem des "jüdischen Kommunisten" kombiniert.
Juden hätten mit den Sowjets kollaboriert und seien gegen die jeweilige Nation
aggressiv eingestellt. Auch in Jedwabne waren derartige Feindbilder eine
entscheidende Ursache des Pogroms. Die "Judenkommune" (Zydokomuna) war dabei
nicht das Ergebnis einer Paranoia einiger weniger, sondern die Kehrseite des in
den späten dreißiger Jahren forcierten polnisch-nationalen antikommunistischen
Staatsprojekts.
Ohne Zweifel schufen die deutschen Besatzer erst die Voraussetzung für das
Pogrom von Jedwabne. Sie übten eine uneingeschränkte Herrschaft aus und hätten
zu jeder Zeit das Massaker stoppen können. Die Zusicherung der Straffreiheit
ermunterte die polnischen Täter, die Entscheidung zum Massaker und sein Verlauf
lagen in ihren Händen.
So handelte es sich weniger um klassische Kollaboration, sondern vielmehr um
eine originär polnische antisemitische Tat. Der Pogrom von Jedwabne gehört
weniger zur Geschichte der Shoah als vielmehr zur Geschichte des Antisemitismus
in Polen. Die Deutschen und ihre Vernichtungsindustrie haben die so genannte
Judenfrage auf andere, auf ihre Weise "gelöst".
Anmerkungen:
(1) Beyrau, Dietrich: Antisemitismus und Judentum in Polen, 1918-1939. In:
Geschichte und Gesellschaft, 8.Jg/1982/Heft 2. S.205ff.
(2) Lustiger, Arno: Rotbuch. Stalin und die Juden. Aufbau 1998, S.95
(3) ebenda, S.97
(4) Tych, Feliks: Deutsche, Juden, Polen: Der Holocaust und seine
Spätfolgen. Vortrag, gehalten im Gesprächskreis Geschichte der
Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 17. Februar 2000. Als Download unter:
www.fes.de/fulltext/historiker/00809002.htm
(5) Hilberg, Raul: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden
1933-1945. Fischer 1997, S.225
(6) Krausnick, Helmut: Hitlers Einsatzgruppen. Die Truppe des
Weltanschauungskrieges 1938-1942. Fischer 1998, S.179
Weiterführende Literatur:
Edelman, Marek: "Es ist besser, etwas zu tun
als nichts zu tun". Ein Gespräch zwischen Marek Edelman stellv. Kommandant
des Warschauer Ghettoaufstands 1943) und der Zeitschrift Czas (Zeit), Nr.
4/5, 1985, Poznan. Deutsche Übersetzung Anna Langer. In: Claussen, Detlev:
Vom Judenhass zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten
Geschichte. Luchterhand 1987
Davies, Norman: Im Herzen Europas: Geschichte Polens. C.H. Beck 2000
Holzer, Jerzy: Polish Political Parties and Antisemitism. In: Polonsky 1994
Maurer, Trude: Abschiebung und Attentat. In: Pehle, Walter H. (Hg.): Der
Judenpogrom 1938. Von der Reichskristallnacht zum Völkermord. Fischer 1994
Pohl, Dieter: Die Ermordung der Juden im Generalgouvernement. In: Herbert,
Ulrich (Hg.): Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945.
Fischer 1998
Tomaszewski, Jerzy: The Civil Rights of Jews in Poland 1918-1939. In:
Polonsky, Anton et al: Polin. Studies in Polish Jewry, Vol.8. Jews in
Independent Poland. Littman 1994
hagalil.com
20-04-2002
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