Judenverfolgung und Antisemitismus in Osteuropa
Ein Überblick
An dieser Stelle sind Texte zu
Judenverfolgung und Antisemitismus in einigen osteuropäischen Ländern
zusammengestellt. Die Perspektive der AutorInnen auf und das
Erkenntnisinteresse an den Entwicklungen des Antisemitismus sind
unterschiedlich.
Chaim Frank gibt einen kurzen historischen Überblick über die Phasen der
Verfolgung an Juden und Jüdinnen in Albanien. Er geht dann auf die Situation
nach 1990 ein, und speziell auf die Rolle der KSK bei der Vertreibung von Roma,
Juden und anderen verfolgten Minderheiten während des Kosovo-Krieges. Die
historische Beschreibung über Georgien/Kaukasus gibt einen Einblick in die
Vielfältigkeit jüdischen Lebens in dieser Region, die von der vorletzten
Jahrhundertwende bis zum Einmarsch der Deutschen neben- und miteinander
existiert. Ende der 1980er Jahre, im Rahmen der Unabhängigkeitsbestrebungen,
standen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus wieder auf der Tagesordnung
und veranlassten viele jüdische Überlebende der Shoah und ihre Nachkommen das
Land zu verlassen. Aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien geht der Autor
exemplarisch auf die Entwicklung in Kroatien und auf die Rolle und rassistischen
und antisemitischen Parolen des Revisionisten und Politikers Franco Tudjman ab
1990 ein. Im gleichen Zeitraum wird in Serbien die Hetze gegen Roma, Juden,
AlbanerInnen und KroatInnen von den Tschetniks forciert.
Chaim Frank gibt wiederum einen Überblick der Verfolgungsgeschichte in
Polen. Am Fallbeispiel des antisemitischen, erst 1997 suspendierten,
Kaplans Jankowski wird die spezielle Agitation eines, wenn auch nicht
mehrheitlichen, Teils der katholischen Kirche verdeutlicht. In einem
weiteren Teil geht Frank auf die Entstehung rechtsextremer
Gruppierungen seit Beginn der 90er Jahre in Polen ein.
In Rumänien folgten seit der Jahrhundertwende auf Pogrome
Auswanderungswellen der jüdischen Bevölkerung. In den 20er Jahren
gründete sich hier eine eigenständige, sich an dem italienischen
Vorbild orientierende, faschistische antisemitische Organisation. Die
90er Jahre zeichnen sich durch die Rehabilitierung der nationalen
faschistischen Geschichte aus und der Etablierung eines
intellektuellen Diskurses der Neuen Rechten. Chaim Frank berichtet von
antisemitischen Übergriffen und zur Situation der jüdischen Gemeinde.
Es folgt ein historischer Überblick des Judenverfolgung in Russland,
der stalinistischen antisemitischen Politik bis zur aktuellen
Formierung rechtsextremer Gruppierungen in den gebieten der GUS und
die Geschichte und Aktualität des Antisemitismus in der Ukraine.
Lutz Eichler analysiert in dem Artikel: "Auschwitz ohne Juden" die spezifischen
Ausprägungen des Antisemitismus in der Gesellschaft Polens vor und nach der
Shoah. In einer zweiten Analyse stellt er den Antisemitismus als konstitutives
Element bei der Staatsgründung Polens heraus und zeigt Kontinuitäten des
Antisemitismus auf hin zu dem Pogrom in Jedwabne.
Andrea Übelhack untersucht Geschichte und Aktualität von Rassismus und
Antisemitismus in der Tschechischen Republik. Den Abschluss bildet die
Auswertung einer 1995 vom "Antisemitism World Wide Report"
durchgeführten Meinungsumfrage.
Magdalena Marsovszky stellt in der diesen Reader abschließenden
Analyse den Antisemitismus in Ungarn in den historischen Kontext seit
der Jahrhundertwende und untersucht seine Bedeutung in einem
gegenwärtig stattfindenden Kulturkampf.
Die Texte und Analysen sind der Übersicht halber alphabetisch nach
Ländernamen geordnet.
Antijudaismus - Antisemitismus
Antijüdischer Stereotype sind eine historische Dauererscheinung und
die Grundstrukturen antisemitischer Stereotype sind in Ost und West
bis zur Entwicklung des rassistischen Antisemitismus in Deutschland
ähnlich.
Im staatszentrierten Polytheismus des römischen Reiches stand die
Verfolgung unter dem religiösen Vorzeichen des Antimonotheismus - die
sich nicht nur gegen Menschen jüdischen Glaubens richtete. Auch in der
Phase des aufsteigenden, gesellschaftliche und religiöse Hegemonie
beanspruchenden Christentums bis zum Mittelalter war religiöse
Intoleranz und die damit einhergehende "Verteufelung" der Juden
dominant. Der Antijudaismus mündete in Inquisition und Vertreibung der
Juden und Jüdinnen von der iberischen Halbinsel.
Zeitgleich zur Entwicklung des kapitalistischen Systems während des
18. und 19. Jahrhunderts fand eine Emanzipation der Juden statt: Aus
dieser zeitlichen Parallele machte der Antisemitismus eine
Identifizierung des Juden mit dieser gesellschaftlichen Umwälzung
(Kettner), wirtschaftliche und soziale Stereotype wurde bedeutender -
das Bild des Wucherers, der sich an der Not der Armen bereichert oder
das Bild des Zersetzers, der die vertrauten Strukturen zerstörte. Das
jiddische Wort "risches" umschreibt eine Mischung aus Ärger und Neid,
die Juden entgegengebracht wurde gegenüber ihrer Fähigkeit sich neu
eröffnende Nischen zu Nutze zu machen. Risches wurde projiziert
ungeachtet der realen gesellschaftlichen Situation der jüdischen
Bevölkerung, die nach wie vor von etlichen Berufssparten
ausgeschlossen war und in ihrer großen Mehrheit in Armut lebte.
Es gab zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Varianten des
Judenhasses und Antisemitismus - religiöse Intoleranz, Risches und
Fremdenhass vermischten sich und das gilt für alle Zeiten. Im alten
Rom wie im Mittelalter hatten sicherlich politische Faktoren Einfluss
auf die Entwicklung der religiöser Intoleranz, und Risches wurde durch
religiöse Vorurteile verstärkt. Eine historische Analyse des
Antisemitismus erfordert eine Analyse der jeweiligen Konfiguration des
Judenhasses und jede Untersuchung des Judenhasses muss dessen
qualitativ unterschiedliche religiöse, soziale und politische
Ausdrucksform herausarbeiten (Bronner).
Die Entwicklungen des Antisemitismus in Osteuropa nahmen einen
zeitlich anderen Verlauf als im Westen: Im 13. Jahrhundert etwa, als
die Juden aus Deutschland und Österreich vertrieben wurden, fanden sie
Aufnahme in Polen, Litauen und Mähren und in einigen Städten wie
Wilna, Warschau, Krakau, später Czernowitz, Kishinew und Odessa
entstanden jüdische kulturelle Zentren, obwohl es auch in diesen
Regionen Phasen von Verfolgung und Pogromen gab. Im 18. Jahrhundert
wurde die mehr oder weniger geltende Autonomie der Juden, die sich
über Grenzen hinweg in der Vierländer-Sejm organisiert hatten, durch
die Teilung Polens und die Neuaufteilung der osteuropäischen Länder
zwischen Preußen, Österreich und Russland zerschlagen.
Die Deutschen und die Ideologie der Nationalsozialisten brachten die
rassistische Variante des Antisemitismus nach Osteuropa. Der Begriff
des Antisemitismus wurde in Deutschland von Wilhelm Marr Mitte des 19.
Jahrhunderts kreiert und er bezog sich mit diesem Begriff nicht mehr
direkt auf die Juden, wie etwa der "Judenhass" oder "Judenverfolgung".
Der direkte Angriff gegen die Juden hatte sich zumindest in den
westeuropäischen Ländern im Kampf gegen Emanzipation als nicht wirksam
genug erwiesen. Es galt in einer liberaler und aufgeklärter
erscheinenden Gesellschaft eine adäquate Form der
Feindbildbeschreibung zu entwickeln. Marr bekundete seine Ablehnung
des Semitismus, eine Abstraktion, die alle vermeintlichen
Eigenschaften der semitischen Rasse implizierte (Volkov). Zeitgemäß
stellte er diese Theorie in einen vermeintlich wissenschaftlichen
Kontext und schaffte die Voraussetzungen für die Rassetheorie, die
eine Grundlage der Ideologie der Nazis werden sollte.
Erst dieser ideologische Antisemitismus - "Erlösungsantisemitismus"
(Friedländer) - des Nationalsozialismus hatte die völlige Vernichtung
der Juden zum Ziel. In dieser Ideologie wurden die unterschiedlichen,
teilweise jahrhundertealten, Diskurse um den Antijudaismus mit Formen
des Rassenhasses vermengt und systematisiert: Juden standen für
Säkularismus und Wissenschaft, Rationalismus und Materialismus,
Kapitalismus und Sozialismus, Gleichheit, Liberalismus und Marxismus
gleichermaßen. Die Beteiligung einzelner Bevölkerungsgruppen in den
osteuropäischen Ländern an der Judenvernichtung war unterschiedlich -
Ukrainer, Litauer und Weißrussen etwa stellten Hilfsgruppen in den
Mordkommandos und setzten die Ideologie der Nazis mit praktisch um.
Nach 1945 entwickelte sich in Deutschland der "Antisemitismus nach
Auschwitz", auch sekundärer Antisemitismus genannt. Diese spezifisch
deutsche Variante übernimmt die Mischvarianten des modernen
Antisemitismus und zeichnet sich zusätzlich aus durch aggressive
Erinnerungsabwehr gegenüber der Shoah aus bis zu ihrer Leugnung. Die
Verweigerung, sich mit Vernichtung und Täterschaft zu konfrontieren,
schlägt um in Ressentiments gegen Juden, die - wenn auch in geringer
Zahl sowohl in west- wie osteuropäischen Ländern - durch ihre bloße
Existenz an die Verbrechen erinnern.
Auffällig in den Länder Osteuropas ist nach 1989 eine Nivellierung
alter nationaler Rivalitäten in Bezug auf die Entwicklung der
antisemitischen Stereotype - oder auch in Bezug auf Ressentiments
gegenüber Deutschland: Die Leugnung der Shoah und die Behauptungen der
westeuropäischen Revisionisten verbindet nationalistische und
rechtsextreme Gruppierungen in Ost und West. Eine weitere Parallele,
die die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit und Bekämpfung von
Antisemitismus deutlich macht, ist das Existieren des Antisemitismus
ohne Juden.
Nicht behandelt werden in den Texten die spezifischen Varianten des
Antizionismus, bzw. die Rolle die der Staat Israel in antisemitischen
Konstruktionen spielt.
Von Gudrun Schröter
Quellen / Weiterführende Literatur: Hanna Arendt: Elemente und Ursprünge
totaler Herrschaft, FfM 1993 Stephen E. Bronner: Ein Gerücht über die Juden.
Die Protokolle und der alltägliche Antisemitismus, Berlin 1999 Ulrich
Enderwitz: Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer
Krisenbewältigung, Freiburg 1991 Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die
Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-39, München 2000 Fabian Kettner: Zur
Entstehung des Antisemitismus,
www.hagalil.com Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus, Bd.
1-8, FfM 1988 Lars Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus.
Studien zu Struktur, Erklärungspotential und Aktualität,Hamburg, 1998
Shulamit Volkov: Antisemitismus als gesellschaftlicher Code, München 2000
hagalil.com
20-04-2002
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