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Koscher leben...
 
 

 

Das jüdische Volk und sein Gesetz:
Ruhe heißt nicht unbedingt Ausruhen

Die ganze Welt der Stofflichkeit, der der Mensch sonst als schaffender und verändernder gegenübersteht, ist für den Juden am Sabbat und in dieser Beziehung nicht existent.

Von Erich Fromm


 

Das rabbinische Judentum hat das Sabbatgesetz mit demselben Rigorismus, der schon für das biblische Verbot typisch ist (sogar die Arbeit des Sklaven und der Tiere wird verboten), ausgebaut und erweitert. Vor allem in der mündlichen Tradition war man bestrebt, im einzelnen festzustellen, welche Arbeiten am Sabbat verboten sind. Es werden 39 Hauptarbeiten für verboten erklärt (wobei unter eine Hauptarbeit jeweils eine Vielzahl von speziellen Tätigkeiten fallen).

Die mündliche Tradition erreichte mit diesem System von Verboten schließlich, daß der Jude am Sabbat von der Welt des Werktags völlig abgetrennt und losgelöst ist. Die angestrebte Ruhe will dem Menschen jede Möglichkeit nehmen, irgendwie auf die Welt schöpferisch einzuwirken. Die ganze Welt der Stofflichkeit, der der Mensch sonst als schaffender und verändernder gegenübersteht, ist für den Juden am Sabbat und in dieser Beziehung nicht existent.

Für das rabbinische Gesetz bedeutet Ruhe nicht "Ausruhen", sondern Schaffen in der Sphäre des Religiösen und Unterlassen allen Schaffens in der Sphäre der stofflichen Welt. Nur von diesem Prinzip aus sind die Einzelbestimmungen über die Arten der verbotenen Arbeiten zu verstehen. Hierin liegt auch der tiefere Sinn der Analogie von Sabbatruhe und Ruhe Gottes am siebten Tag der Schöpfung. Seine ganze Schöpferkraft soll und muss sich infolge dieses Gesetzes auf die geistig-religiöse Sphäre erstrecken und hier wirken.

Der Sabbat ist aufgrund dieses Gesetzes weit mehr und etwas völlig anderes als ein Tag des Nichtarbeitens. Er ist ein Tag höchster geistiger Schöpfertätigkeit des einzelnen. Mit ungeheurem Radikalismus hat das Gesetz dieses Prinzip des Abbruchs aller tätigen Beziehung zur Welt durchgeführt. Dies führt so weit, dass das Löschen eines Brandes, bei dem das ganze Vermögen eines Juden auf dem Spiel steht, verboten wird. Nur bei Lebensgefahr ist die Übertretung des Sabbatgesetzes - wie auch anderer Gesetze - gestattet.

Sabbatjahr

Die Tendenz, den Menschen aus der Gebundenheit der werktäglichen Welt zu lösen und ihm die Möglichkeit religiösen Schaffens zu geben, drückt sich nicht minder deutlich im Sabbatjahr aus. Es befiehlt, jedes siebte Jahr den Boden unbestellt zu lassen und den wildwachsenden Ertrag den Armen zu lassen. Gewöhnlich wird das Sabbatjahr nur unter einem sozialfürsorglichen und agrarischen Aspekt gesehen.

Die Bedeutung des Sabbatjahrgesetzes liegt jedoch darin, dass es in größeren Zeiträumen in das Leben eingreift, um dann auch einen verhältnismäßig großen Zeitraum ganz für das religiöse Schaffen in Beschlag zu nehmen.

Die Gesetze, die die Gebetszeiten regeln, haben ebenfalls vor allem den Sinn, je neu Ruhe und Abgetrenntheit von der Welt inmitten der Welt zu erreichen. Dreimal am Tag verpflichtet das Gesetz den Juden zu beten, also sein Tagwerk zu unterbrechen, um religiös zu schaffen. Diese Pflicht gilt gleichermaßen für den Gelehrten, der sein Studium unterbricht, wie für den Arbeiter, der seine Arbeit unterbrechen muss, um dieser Pflicht zu genügen. Es erhellt ohne weiteres, wie stark diese Gesetzesbestimmung dem werktäglichen Leben die Hast nimmt und dem einzelnen immer wieder die Herrschaft über die Zeit und dadurch religiöses Schaffen sichert. Das Pflichtgebet ist in ganz besonderem Maße der Ausdruck "tätiger Weltheiligung". Es wird dem einzelnen nicht überlassen, dann zu beten, wenn er in religiöser Stimmung dazu ist; es wird ihm vielmehr auferlegt, sich selbst immer wieder in Unterbrechung seines Tagwerks die seelische Haltung zu "schaffen", in der Gebet möglich ist. (Vgl. hierzu M. Bubers [1916, S.11ff] Rede vom "motorischen" Menschentyp, zu dem er auch die Juden zählt.)

Ein anderer Aspekt des Gebets hängt mit dem Zuvorgesagten zusammen: Das Gebet des Judentums ist das Gemeindegebet, von dem sich außerhalb des Judentums (außer später im Christentum) nur kümmerliche Spuren und Keime aufweisen lassen. (Vgl. F. Heiler, 1920, S. 421ff.) Der Mittelpunkt des Gebetes ist das Achtzehngebet, das in seiner heutigen Form erst nach dem Untergang des zweiten Tempels (70 n. Chr.) abgefaßt wurde, dessen Grundlagen aber schon in die Zeit vor der Entstehung des Christentums zurückreichen. Wie F. Heiler (1920) richtig bemerkt, ist das Achtzehngebet ein "Gebetsformular", das von jedem einzelnen Beter mit seinem individuellen religiösen Inhalt erfüllt werden soll. Der kollektiv gültige Gebetstext ist nur Motiv und Möglichkeit individuellen religiösen Schaffens, wie übrigens das gottesdienstliche Gemeindegebet überhaupt. Innerlich im Geiste prophetischer Frömmigkeit wurzelnd, ist es ein unmittelbarer Ausfluss des individuellen prophetischen Gebetslebens. So fügt sich das Gebet durchaus in den Rahmen des gesamten Gesetzes ein, insofern dieses ja auch als eine Form anzusehen ist, die dem religiösen Eigenleben des einzelnen Freiheit lässt.

Es ist außerordentlich bezeichnend, daß sowohl der Karäismus wie die Reformbewegung das Gesetz in seiner objektiv gültigen Form aufheben wollten und deshalb sofort einen Angriff gegen das jüdische Gemeindegebet unternahmen, indem sie an die Stelle des Achtzehngebets solche Gedichte und Psalmen setzten, die einen viel individuelleren religiösen Charakter tragen als das "Gebetsformular" des Achtzehngebets. Ebenso bezeichnend ist es, daß der Chassidismus mit seiner Bejahung des Gesetzes auch das Achtzehngebet beibehielt, obwohl angesichts seiner neuen schöpferischen religiösen Kraft eine Änderung des Gebets verständlich gewesen wäre.

Das Gesetz hat die Aufgabe, jedem Menschen aus dem Volke den Weg zur Erkenntnis Gottes zu bahnen. Es will keine "innerweltliche Askese", sondern "tätige Weltheiligung". Was die Erkenntnis Gottes selbst sei, darüber schweigt das Gesetz. Jenseits des ganz elementaren Glaubens an die Einzigkeit Gottes ist im Gesetz nichts gedanklich formuliert, was für die Gesamtheit verbindlich wäre. Nur im geheimen, vertrauten Kreise werden "die Geheimnisse enthüllt" (vgl. H. Cohen, 1920, S. 399).

Exkurs I:
Arbeit und Beruf im rabbinischen Judentum

Wir haben als eine wesentliche religiöse Grundlage des Gesetzes die Tendenz festgestellt, dem Menschen Ruhe und damit die Möglichkeit zu Kontemplation und zu religiösem Schaffen zu geben. Für eine ganze Gruppe von Gesetzen haben wir gerade darin ihr Spezifikum gesehen, wobei wir hier nur den Sabbat, das Sabbatjahr und das Pflichtgebet hervorgehoben haben.

Es liegt deshalb nahe, nach der Stellung zu fragen, die das rabbinische Judentum überhaupt zu Beruf und Arbeit eingenommen hat. Diese Aufgabe wird durch die Arbeiten von Max Weber erleichtert, der in klassischer Weise den Zusammenhang zwischen der Wertschätzung und Bedeutung des Berufes und der Arbeit einerseits und den vorherrschenden religiös-sittlichen Anschauungen andererseits am Beispiel der Wirtschaftsethik des Protestantismus aufgewiesen hat. Er hat dabei sogar schön in wenigen Sätzen das Problem und die Lösung im Hinblick auf das Judentum angedeutet: "Wenn also, wie mehrfach schon die Zeitgenossen, so auch neuere Schriftsteller die ethische Grundstimmung speziell des englischen Puritanismus als "English Hebraism' bezeichnen, so ist dies, richtig verstanden, durchaus zutreffend. Man darf dabei nur nicht an das palästinensische Judentum aus der Zeit der Entstehung der alttestamentlichen Schriften, sondern an das Judentum, wie es unter dem Einfluss der vielen Jahrhunderte formalistisch-gesetzlicher und talmudischer Erziehung allmählich wurde, denken und muss auch äußerst vorsichtig mit Parallelen sein." (M. Weber, 1920, Band I, S. 180f.)

Die insgesamt unbefangene Wertschätzung des Lebens im alten Judentum liegt weit ab von der spezifischen Eigenart des Puritanismus; ebenso fern lag dem alten Judentum - und das darf nicht übersehen werden - die Wirtschaftsethik des mittelalterlichen oder neuzeitlichen Judentums, die bei der Entwicklung des kapitalistischen Ethos eine wichtige Rolle spielte. Dieses Judentum stand nämlich auf der Seite des politisch oder spekulativ orientierten Abenteurerkapitalismus. Sein Ethos war das des "Pariakapitalismus". Der Puritanismus vertrat das Ethos des rationalen bürgerlichen Betriebs und der rationalen Organisation der Arbeit. Er entnahm dabei der jüdischen Ethik nur, was in seinen Rahmen passte.

Wir wollen im Folgenden näher untersuchen und zeigen, daß der Gegensatz, den Max Weber zwischen dem Wirtschaftsethos des Puritanismus und dem des Judentums empfindet und andeutet, tatsächlich besteht. Es gibt ihn nicht nur für das Alte Testament, sondern gerade auch für das rabbinisch-talmudische Judentum. Zunächst sollen in Kürze die Hauptpositionen Max Webers über den Puritanismus nachgezeichnet werden, um sie dann dem jüdischen Verständnis gegenüberzustellen.

a) Die Wirtschaftsethik des Puritanismus

Schon bei Martin Luther bekommt der Beruf eine im katholischen Mittelalter unbekannte Bedeutung. Er gewinnt einen religiös-ethischen Sinn. "Nun ist unverkennbar, dass schon in dem deutschen Worte "Beruf ebenso wie in vielleicht noch deutlicherer Weise in dem englischen 'calling', eine religiöse Vorstellung - die einer von Gott gestellten Aufgabe - wenigstens mitklingt und, je nachdrücklicher wir auf das Wort im konkreten Fall den Ton legen, desto fühlbarer wird... ...

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Seit frühester Zeit hat sich das Judentum in unterschiedlichen Gesellschaften behauptet. Erich Fromm untersucht  die Faktoren, aus denen das "Jüdische Gesetz" des Zusammenlebens entstand.
Erich Fromm
, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Nach seiner Promotion in Soziologie 1922 in Heidelberg kam er mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds in Berührung und wurde Psychoanalytiker. 1933 emigrierte er in die USA, wo er an verschiedenen Instituten lehrte, und anschließend, von 1950 bis 1974, an der Universität von Mexiko City unterrichtete. Er starb 1980 in Locarno in der Schweiz.

haGalil onLine 14-01-2003


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