Die jüdischen Wurzeln:
Das humanistische Denken Erich Fromms
Nicht die
Assimilierung an das gesellschaftlich Vorgegebene
garantiert Selbsterleben und Identität, sondern eine Lebenspraxis,
in der sich durchgängig ein und dieselbe Haltung ausdrückt,
nämlich das überlieferte religiöse Ethos.
von Rainer Funk
I. Einleitung
Väterlicher- wie mütterlicherseits
entstammte Erich Pinchas Fromm Familien jüdischer Schriftgelehrter. Er wurde am
23. März 1900 als erstes und einziges Kind seiner Eltern Naphtali und Rosa Fromm
in Frankfurt am Main geboren. Der Vater handelte mit Obst- und Beerenweinen, der
Sohn ging auf die Wöhler-Schule in Frankfurt, eine nichtjüdische Schule. Doch
das familiäre Leben war ganz geprägt von der konservativen jüdischen
Lebenspraxis.
Seinen ersten Talmudunterricht bekam
Erich Fromm bei seinem Großonkel mütterlicherseits, bei dem aus der Posener
Talmudschule stammenden Ludwig Krause, der seine letzten Lebensjahre bei den
Fromms in der Liebigstr. 27 in Frankfurt verbrachte. Lange Zeit wollte Erich
Fromm selbst Talmudgelehrter werden und nach Posen gehen. Als großes Vorbild
diente ihm sein Urgroßvater, der Würzburger Raw, der der Führer der jüdischen
Orthodoxie in Süddeutschland war. Der Großvater war Rabbiner in Bad Homburg vor
der Höhe und später Hausrabbiner des Barons Willi Carl von Rothschildt in
Frankfurt.
Mit 16 Jahren etwa schloß sich Fromm
einem Kreis von Jugendlichen um den konservativen Rabbiner der Synagoge am
Börneplatz in Frankfurt, Nehemia Nobel an. Für eine Zeitlang war Fromm in einer
zionistischen Jugendgruppe. Die Bekanntschaft mit Ernst Simon und Leo Löwenthal
nahm ihren Anfang in dieser Gruppe um Rabbiner Nobel. Nach dem Abitur 1918 ging
er dann doch nicht nach Posen, studierte statt dessen erst 2 Semester Jura in
Frankfurt, um dann zum Sommersemester 1919 nach Heidelberg zu gehen und
Soziologie, Psychologie und Philosophie zu studieren. Neben dem universitären
Lehrer, Alfred Weber, lernte er den als Privatlehrer in Heidelberg lebenden
Rabbiner Salman Baruch Rabinkow, einen Chabad-Chassiden und Sozialisten, kennen,
bei dem Fromm zwischen 1920 und 1925 fast täglich zum Studium war.
Alle Lehrer und Vorfahren kamen aus dem
Kreis einer konservativen jüdischen Orthodoxie - oder besser gesagt
"Orthopraxie", denn für alle war die Praxis einer ganzheitlich gelebten
Religiosität typisch. Diese aber ließ sich nur in einer - im guten Sinne des
Wortes - "konservativen" Abgrenzung sichern. Die Abgrenzung vom damals üblichen
Reform-Judentum und von den Assimilierungsbestrebungen der Juden an das liberale
christliche Bürgertum war das besondere Kennzeichen der im Elternhaus gelebten
und von Erich Fromm auch 25 Jahre lang praktizierten jüdischen Orthodoxie.
Das Elternhaus, die Tradition, aus der
Fromm kam, der "Geist", in dem er groß wurde, die religiösen und die geistigen
Lehrer Fromms: ich möchte aus diesem "Wurzelgeflecht" des Menschen und Denkers
Erich Fromm einige Wurzeln näher betrachten, von denen ich glaube, daß sie
seinen Lebensbaum und sein Lebenswerk besonders nachhaltig beeinflußt haben: die
Verbindung mit Rabbiner Nobel und dem Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt
sowie die Schülerschaft bei Rabbiner Rabinkow und bei Alfred Weber, wie sie sich
in der Dissertation von Erich Fromm widerspiegeln.
II. Der Einfluß von Rabbiner Nobel
und seinem Kreis auf Erich Fromm
Erich Fromm hat sich nie schriftlich zu
dem Einfluß, den Nobel auf ihn hatte, geäußert, obwohl er wie kaum von einem
anderen von ihm, seiner Begabung als Prediger und Mystiker, noch im Alter
schwärmte. Neben der besonderen Faszination, die von diesem Mann ausging, war es
aber auch eine ganz spezifische geistige und intellektuelle Welt, die sich ihm
mit Nobel und seinem Kreis auftat.
Franz Rosenzweig, der von Nobel für die
Leitung des Freien Jüdischen Lehrhauses gewonnen wurde, charakterisierte Nobel
so: "Er ist ein genialer Prediger. Er spricht frei, souverän, ganz schlicht;
auch ohne nur ein Körnchen Salbung, schlicht auch wenn er in Feuer gerät... Ich
habe sowas noch nicht gehört. Ein freier Kopf, Cohensche Schule, Gefühl für die
Gestalt der Worte... ich bin noch ganz weg..." (F. Rosenzweig, S. 627.)
Noch deutlicher kommt das Eigentümliche
von Nobel in einer anderen Äußerung von Rosenzweig zum Vorschein: "Man kann es
nicht beschreiben... Dass mir Hasser und Verächter aller Predigten das noch
passieren musste, dass ich nun um der Predigt willen in den Gottesdienst gehe,
und dass es mit im konservativen Gottesdienst passieren muss, und von einem
Zionisten und Mystiker und Idealisten... Es ist wirklich der Geist als
'Platzregen'." (A.a.O., S. 726.)
Nobel war von der jüdischen Mystik
durchdrungen und lebte eine konservative religiöse Lebenspraxis, doch
gleichzeitig war er ein an Goethe und Kant orientierter Humanist und Aufklärer,
der sich die Gedanken des Cohenschen Alterswerkes "Die Religion der Vernunft aus
den Quellen des Judentums" zueigen machte und eben darin einen nachhaltigen
Einfluss auf Fromm ausübte.
Was immer Fromm im späteren Leben an
Liebenswertem in der jüdischen Religion aufgriff und darstellte, fast durchweg
sind es Interpretationen der jüdischen Tradition, die Cohen in dem genannten
Alterswerk formuliert hatte. Hermann Cohen selbst verkörperte ein Judentum, das
für Fromm wegweisend wurde und das ihm durch Nobel vermittelt wurde. Er war
Professor für Philosophie in Marburg von 1873-1912 und zu dieser Zeit der
einzige jüdische Ordinarius in Preußen. Obwohl er keinen direkten Bezug zu einer
jüdischen Gemeinde hatte, identifizierte er sich mit den humanen Gedanken des
religiösen Judentums. Selbst nicht gesetzestreu lebend, war er zur jüdischen
Tradition positiv eingestellt, weil er darin den aufklärerischen
Humanitätsgedanken und die universalistischen und messianischen Ideale der
Menschheit wiederentdeckte. Cohen, der immer wieder zu Nobel in die Synagoge am
Börneplatz kam, starb 1918. Seine Wirkung auf den Kreis um Nobel wurde dadurch
nicht gemindert.
Die Begegnung mit dem Denken und der
Philosophie Cohens stand wohl auch im Hintergrund für eine Initiative, die von
großer kultureller Tragweite war. Georg Salzberger (1882-1975), ein liberaler
Rabbiner aus Frankfurt, mit dem Fromm in Verbindung stand, hatte die Idee, eine
Art jüdische Erwachsenenbildung aufzubauen. Er erinnert sich (G. Salzberger,
1974): "Ich beriet mich mit meinem jungen Freund Erich Fromm..., der, obwohl aus
orthodoxem Hause stammend, meine Interessen teilte, sowie mit anderen
Gleichgesinnten. Wir begründeten daraufhin gemeinsam gegen Ende 1919 die
'Vereinigung' oder wie sie später hieß 'Gesellschaft für jüdische Volksbildung
in Frankfurt am Main'..."
Auch die Idee, Franz Rosenzweig zu
berufen, geht nach Salzberger auf ihn und Fromm zurück. Mit der Berufung von
Franz Rosenzweig
aber konnte sich neben und in
Verbindung mit der "Gesellschaft für jüdische Volksbildung" am 17.Oktober 1920
das "Freie Jüdische Lehrhaus" etablieren, das durch seine Dozenten weit über
Frankfurt und die Zeit hinaus Bedeutung erlangte.
In dieser "Art jüdische Volkshochschule",
die sich "als eine säkularisierte Form der jüdischen Talmudlehre" (Löwenthal, S.
20) verstand, trafen sich nicht nur die Dozenten der "Gesellschaft": Rabbiner
Nobel, Richard Koch, Georg Salzberger, Ernst Simon, Eduard Strauß, sondern auch
Siegfried Kracauer, Martin Buber (ab 1922), Samuel Josef Agnon, Rudolf Hallo.
1923 bot Erich Fromm ein Seminar über die
Karäer an. Im gleichen Jahr gab es einen Sommerferienkurs, bei dem Ernst
Simon einen Einführungskurs in Raschi (Salomo ben Isaak, 1040-1105) zum
Wochenabschnitt offerierte, Erich Fromm einen Fortgeschrittenenkurs zu Raschis
Exoduskommentar leitete und Gershom Scholem das Buch Daniel behandelte und den
Sohar auslegte. Im folgenden Winter lehrte auch Erich Fromms Talmudlehrer in
Heidelberg, Salman Baruch Rabinkow, am Lehrhaus,
Leo Baeck sprach in einer Gastvorlesung über die Liebe Gottes und den
Gottesdienst. Im siebten akademischen Jahr 1925/26 war schließlich auch Leo
Löwenthal unter den Dozenten mit Vorlesungen über die jüdische Geschichte.
Die Auflistung der Namen besagt nun
freilich nicht, daß Erich Fromm zu allen ein so herzliches Verhältnis hatte wie
zu seinen Freunden Leo Löwenthal und Ernst Simon oder zu seinen Lehrern Nehemia
Nobel und Salman Baruch Rabinkow. Die Kontakte zu Martin Buber etwa waren sehr
sporadisch, und Fromm hatte bereits den Zugang zum Chassidismus über seinen
gerade in seiner Bescheidenheit überzeugenden Lehrer Rabinkow bekommen, so daß
Buber Fromm nicht besonders anzog. Auch die Begegnungen mit Gerschom Scholem
führten zu keiner Freundschaft. Im Gegenteil, Scholem misstraute Fromm wegen
seiner Hinwendung zur Psychoanalyse im Jahre 1924 und Fromms Abkehr von der
religiösen Praxis des orthodoxen Judentums und setzte das unsinnige Gerücht in
die Welt, Fromm sei Trotzkist geworden (vgl. Scholem, S. 197f.).
Was mit Fromm in Heidelberg tatsächlich
geschah: die Entwicklung weg vom gelebten konservativen Judentum und hin zu
einem nicht-theistischen Humanismus, weg von der jüdischen Seelenlehre und hin
zu einer psychoanalytischen Seelenlehre, weg auch von der Leitidee des
Lehrhauses und hin zu einer der Aufklärung verpflichteten Rationalität und
Emotionalität: auch dieses ist nur vor dem Hintergrund seiner Beheimatung in
einer ganz spezifischen jüdischen Tradition richtig zu begreifen.
III. Der Einfluß von Rabbi Rabinkow
und Alfred Weber Sowohl die
Vorfahren Fromms wie seine religiösen Lehrer bekannten sich zu einem
konservativen Judentum mit einer orthodoxen Lebenspraxis. Das Konservative
dieser Lebenspraxis ergibt sich hierbei gerade nicht aus einem reaktionären
oder autoritären Interesse. Es ist vielmehr gegen das liberale
Reformjudentum gerichtet, das sich an die bürgerliche und kapitalistische
Gesellschaft anpassen möchte und hierbei die ganzheitlich, von einem
bestimmten religiösen Ethos her geprägte Lebenspraxis aufgibt.
Die von diesem ganzheitlichen religiösen
Ethos her geprägte Lebenspraxis zielt auf ein Identitätserleben, bei dem die
Identität nicht durch die je neue Anpassung an den Durchschnitt und an das
"Normale", sondern durch Abgrenzung vom Mehrheitlichen, vom Man, vom "gesunden
Menschenverstand" des Zeitgeistes hergestellt wird. Nicht die Assimilierung an
das gesellschaftlich Vorgegebene garantiert Selbsterleben und Identität, sondern
eine Lebenspraxis, in der sich durchgängig ein und dieselbe Haltung ausdrückt,
nämlich das überlieferte religiöse Ethos.
Weil sich in allen Lebensäußerungen: im
Denken, Fühlen, Handeln, in allen Beziehungen zu sich, zur menschlichen und
natürlichen Umwelt, im ökonomischen, gesellschaftlichen, kulturellen,
politischen Bereich ein und dasselbe Ethos durchhält, kommt es zu keiner
Konkurrenz mit andersartigen Ethosformen in ein und demselben Menschen und unter
den Angehörigen der religiösen Gemeinschaft.
Die Gestaltung der gesamten Lebenspraxis
gemäß den orthodoxen einheitsstiftenden religiösen Ethosformen bietet die beste
Gewähr für das Identitätserleben des Einzelnen und der Gemeinschaft. Ebenso
konstitutiv ist aber auch die Abwehr von Ethosformen, wie sie vom liberalen
Bürgertum und von der Erwerbsgesellschaft gelebt werden. So ist für das
konservative orthodoxe Judentum, in dem Fromm heranwuchs, die Erfahrung
kennzeichnend, das das Eigene nur dadurch gesichert werden kann, dass es als
religiöses Ethos ganzheitlich und in Abgrenzung von gesellschaftlich
vorfindlichen anderen Ethosformen gelebt wird.
Diese Besonderheit des "Geistes", in dem
Fromm groß wurde, spiegelt sich in dem erkenntnisleitenden Interesse wider, mit
dem Fromm zeitlebens Psychoanalytiker war: Fromm fragt immer als einer, der
einer gesellschaftlichen Mehrheit gegenübersteht, sich von ihr abgrenzt und auf
diese Weise von der Frage der Bezogenheit des Individuums zur Gesellschaft
existentiell geprägt und betroffen ist.
Fromm steht immer gegenüber, auf der Seite der Minderheit, im individuellen
Verbund mit anderen Dissidenten, um von hier aus sein ganzes Augenmerk auf das
Vorgegebene, Mehrheitliche, Gegenüberstehende zu richten.
Mit seiner Dissertation bei dem
Soziologen Alfred Weber hat der 22jährige Fromm die Logik der religiösen
Erfahrung wissenschaftlich thematisiert. Er untersuchte bei drei historischen
Erscheinungen des Diasporajudentums die Funktion des jüdischen Gesetzes für den
Zusammenhalt der jüdischen Sondergemeinschaften.
Das Galluthjudentum als soziologische Größe zeichnete sich dadurch aus, daß es
trotz des Verlustes von Staat, Territorium und eigener Profansprache und ohne
Kirchenbildung dennoch als bluts- und schicksalsmäßig einheitliche und
kontinuierliche Gruppe fortbestand. Der "gesellschaftliche Kitt" - wie Fromm
später sagte - war das "Durchtränktsein des jüdischen Gesellschaftskörpers" vom
jüdischen Gesetz. So konnte das Diasporajudentum "mitten unter den anderen
Völkern weiterleben, innerhalb und doch außerhalb ihrer Welt stehend" (E. Fromm,
1922a, S. 10).
Fromms erkenntnisleitendes Interesse ist
bereits in seiner Dissertation ein primär sozialpsychologisches, auch wenn er zu
diesem Zeitpunkt noch kein psychoanalytisches Instrumentarium hat, um die
Funktion der gelebten Ethosformen für den Zusammenhalt der jüdischen
Gemeinschaft vom Unbewussten her zu fassen. Was er hier von der Funktion des
jüdischen Gesetzes (im Sinne der gelebten religiösen Ethosformen) sagt, wird er
später von der "libidinösen Struktur oder Organisation gesellschaftlicher
Größen" sagen bzw. - nach Aufgabe der Libidotheorie - von der Funktion des
"Gesellschafts-Charakters". Dieser garantiert eine Kontinuität und innere
Kohärenz der Lebensäußerungen gesellschaftlicher Gruppierungen und bildet den
"Kitt", der die Menschen einer bestimmten Schicht oder Gruppe zusammenhält, weil
die der Gruppe gemeinsamen Ethosformen zu einer Lebenspraxis anhalten, die die
Mitglieder der Gruppe in gleicher Weise denken, fühlen und handeln lässt.
Bereits in seiner Dissertation erkennt
Fromm, dass dort, wo eine gesellschaftliche Gruppe ihre Lebenspraxis - damit
sind gemeint: die Produktionsweise, die Organisation der Arbeit, die
Vergesellungsformen und Bezogenheitsmuster im kulturellen, politischen,
ethischen, religiösen usw. Handeln - wo also eine Gruppe ihre Lebenspraxis so
gestaltet, dass sie auch bei veränderten Umständen die überkommenen Ethosformen
fördern und stabilisieren, dass dann auch der gesellschaftliche Zusammenhalt
dieser Gruppe garantiert ist. Dass die Ethosformen als psychische Strukturen
aufzufassen sind, die eine eigenständige dynamische Kraft darstellen, dies hat
Fromm erst mit Hilfe der Freudschen Psychoanalyse sehen können. Aber die
Wechselwirkung von Lebenspraxis und Ethosformen ist erkannt, ebenso die
Bedeutung des gelebten Gesetzes als eines Bindeglieds dieser Korrelation von
"Seele" und "Gesellschaftsprozess" (vgl. E. Fromm, 1922a, S. 16).
In seiner Dissertation untersuchte Fromm
die Bedeutung, die das jüdische Gesetz bei drei Erscheinungen des
Diasporajudentums für den Erhalt der spezifisch jüdischen Lebenspraxis hatte.
Während die wirtschaftlichen Veränderungen im 8. Jahrhundert auf die jüdische
Gesellschaft in Babylon zur Entstehung der Sekte der Karäer führten, ansonsten
aber der jüdische Geschichtskörper als ganzer intakt blieb, kam es in der
Reformbewegung des europäischen Judentums im 18. und 19. Jahrhundert zu einer
derart umfassenden Reform des Gesetzes, dass "mit dem Sieg der
bürgerlich-kapitalistischen Kultur... auch der Geschichtskörper entscheidend
verändert" wurde. Nur beim Chassidismus läßt sich zeigen, "dass tatsächlich der
jüdische Geschichtskörper so sehr sein Eigenleben bewahrt hat, dass er im 18.
Jahrhundert in einem völlig fremden Geschichtskörper, von dem er allein die
Zivilisationselemente übernommen hatte, eine gesellschaftliche und kulturelle
Bewegung hervorbringen konnte, die völlig dem Kultur- und Gesellschaftskosmos
des Judentums entquoll" (1922a, S. 12).
Es versteht sich fast von selbst, dass
Fromms Sympathien dem Chassidismus gehörten, nicht nur weil ihm hier die
Abgrenzungspraxis seiner konservativen jüdischen Vorfahren wiederbegegnete,
sondern auch weil ihm sein Heidelberger Talmudlehrer Salman Baruch Rabinkow die
Lebenspraxis und das religiöse Ethos des Chassidismus vorlebte. Rabinkow war es
auch, der Fromms Interesse für die Frage der "Qualität" des Religiösen weckte.
Hatte Fromm in seiner Dissertation im
grunde bereits die sozialpsychologische Funktion der religiösen Ethosformen
erkannt, so war damit noch nicht die Frage beantwortet, die zugleich Fromms
eigene orthodoxe Lebenspraxis berührte: Um welche "bewährten" Ethosformen geht
es den konservativen jüdischen Lehrern und wogegen gilt es sich abzugrenzen, um
die eigene religiöse Identität zu sichern? Worin besteht das "Religiöse" des
religiösen Ethos und was garantiert eigentlich das Selbsterleben: das
"Religiöse" oder die Tatsache des ganzheitlich gelebten Ethos oder ein
bestimmtes ganzheitlich gelebtes Ethos, das deshalb "religiös" zu nennen ist,
weil es den Menschen mit sich, seiner menschlichen und natürlichen Umwelt
ganzheitlich identisch erleben lässt?
Sicher gab es für den allseits als
"fromm" apostrophierten Promovierenden Fromm noch keinen Zweifel daran, dass das
Identitätserleben durch das Religiöse der Ethosformen des jüdischen Gesetzes
ermöglicht wird. Und doch fällt auf, dass bereits der konservative Rabbiner und
Lehrer von Fromm in Frankfurt, Nehemia Nobel, ein Verehrer der Humanitätsidee
von Goethe und eine Schüler des Neukantianers Hermann Cohen war. Noch stärker
wurde Fromm von seinem zweiten Talmudlehrer, Salman Baruch Rabinkow, und dessen
humanistischer Interpretation des jüdischen Gesetzes beeinflusst.
Tatsächlich begegnet man in Rabinkows
Artikel "Individuum und Gesellschaft im Judentum" dieser humanistischen
Interpretation der jüdischen Tradition auf Schritt und Tritt. Rabinkow sieht die
Autonomie des Menschen tief im Judentum verwurzelt. "Jedermann", schreibt er
(Rabinkow, S. 808f.), "ist berechtigt und verpflichtet zu sagen: 'Meinetwegen
ist die Welt erschaffen' (Sanhedrin, Mischna, Kap. 4), denn jedes
menschliche Wesen ist Selbstzweck und ist gleichsam mit der Verantwortung für
die gesamte Schöpfung belastet."
Angesichts der individuellen Sünde gilt für den Menschen, daß "seine Erlösung
nicht durch eine äußere Macht bewirkt werden (kann), sondern allein durch die
ihm als autonomem Wesen innewohnende Kraft, sich über sich selbst zu erheben"
(a.a.O., S. 811).
Gegen Ende des Artikels faßt Rabinkow
seine humanistische Interpretation des Judentums in ein Zitat von Hillel, das
Fromm selbst gerne benutzte, um den Kern seines "Glaubensbekenntnisses"
auszudrücken: "Denn es ist die festeste Überzeugung des jüdischen Menschen,
welches Gepräge er auch verraten mag: das Leben ist wert, gelebt zu werden, und
jeder ist gut genug, die ihm zugedachte Stelle in der kontinuierlichen Kette des
Lebensprozesses ganz auszufüllen. 'Wenn ich nicht für mich einstehe, wer dann?
Doch wenn ich für mich allein bin, was bin ich dann?' (Hillel)" (Rabinkow,
1929, S. 823).
Was Rabinkow vom jüdischen Menschen
aussagt, hat Fromm später vom Menschen überhaupt mit Hilfe seiner
psychoanalytischen und sozialpsychologischen Untersuchungen zu verifizieren
versucht. Die Optionen aber, den Menschen in seiner Fähigkeit zur Biophilie, zur
Liebe, zur Autonomie, zur produktiven Orientierung, zur Humanität, zur Freiheit,
zur Selbstvervollkommnung aufgrund seines Selbststands, zur universalen
Bezogenheit aufgrund seiner Individualität, zur Nächstenliebe aufgrund seiner
Selbstliebe zu sehen, diese anthropologischen Optionen hat Fromm von Rabinkows
humanistischer Sicht des Judentums übernommen (und sind nicht, wie ihm seine
späteren Frankfurter Kollegen - Horkheimer, Marcuse und Adorno - unterstellten,
Ausdruck eines Rückfalls in idealistisches Denken.
Die Frage, unter welchen Bedingungen die
genannten Fähigkeiten entstehen und sich entfalten und unter welcher
Voraussetzung die humanistischen Optionen plausibel sind, wird von beiden, von
Rabinkow und Fromm, gleich beantwortet: nur bei einer Lebenspraxis, bei der alle
Lebensbereiche und Lebensäußerungen: das Wirtschaften, die Vergesellungsformen
und die Wertvorstellugen - das Materielle, das Psychische und das Geistige - von
ein und derselben humanistischen Orientierung geprägt werden und darum eine in
sich stimmige Einheit bilden, werden sich die humanen Fähigkeiten entfalten und
die anthropologischen Optionen als "vernunftgemäß", das heißt in ihrer
"Rationalität" erweisen.
Rabinkow sieht diese in sich stimmige
Lebenspraxis in der jüdischen Lebensgemeinschaft verwirklicht, sofern diese,
sich von den anderen Menschengemeinschaften abgrenzend, vom "Prinzip des Bundes
mit Gott" zusammengehalten und durchdrungen wird. Auch für Fromm ist die
Bedingung der Möglichkeit für die Entfaltung der dem Menschen eigenen
psychischen Kräfte und für die Plausibilität der humanistischen Optionen eine
die gesamte Lebenspraxis bestimmende humanistische Orientierung. Garant für eine
solche humanistische Lebenspraxis ist für Fromm nicht das im "Gesetz" der
jüdischen Sondergemeinschaft institutionalisierte "Prinzip des Bundes mit Gott",
das alle Lebensbereiche durchdringt, sondern der produktive, biophile, am Sein
orientierte Charakter des Menschen, der ebenso wie der "Geist der Religion" die
gesamte Lebenspraxis: die ökonomische, gesellschaftliche, kulturelle,
politische, geistige und psychische Struktur bestimmt und der sich wie die
jüdische Sondergemeinschaft vom nicht-produktiven, nekrophilen, am Haben
orientierten Charakter der kapitalistischen Lebenspraxis abgrenzen muß.
Auch hier gilt: Nur auf Grund einer die
andere Existenzweise negierenden und aufhebenden Praxis läßt sich Identität als
Einssein mit sich und der natürlichen und menschlichen Umwelt erleben. In den
Frommschen Alternativen produktiv - nicht-produktiv, biophil - nekrophil, Haben
- Sein spiegelt sich jene Erfahrung wider, die Rabinkow und Fromm damals
gemeinsam durch ihre religiöse Lebenspraxis gemacht haben. Sie grenzten sich vom
Zeitgeist alternativ ab, um das "autonome Individuum" (Rabinkow) bzw. die
Entfaltung der "psychischen Kräfte produktiver Vernunft, Liebe und Arbeit"
(Fromm) zu ermöglichen, bei deren Praxis die humanistischen Optionen keines
ausdrücklichen Beweises mehr bedürfen.
Das religiöse Ethos ist für Fromm kein
jüdisches Spezifikum einer konservativen orthodoxen Lebenspraxis mehr. Es ist
das Ethos der Produktivität, der Biophilie, des Seins, das deshalb religiös zu
nennen ist, weil es den Menschen sich mit sich ganzheitlich erleben lässt.
Vor diesem Hintergrund wird nun aber
deutlicher, was Fromm mit seiner humanistisch orientierten Charakterlehre später
versucht hat. Er hat eine spezifisch jüdische Lebenspraxis ins Anthropologische
gewendet und ins Empirische übersetzt und somit die Determinanten einer
religiösen Lebenspraxis humanwissenschaftlich namhaft gemacht. Er hat damit
zugleich den humanen Gehalt einer in einer abgegrenzt lebenden Gemeinschaft
praktizierten Religiösität durch die Wendung ins Humanwissenschaftliche
universalisiert und für alle humanistisch orientierten Menschen kommunikabel
gemacht.
Die Suche nach einer Seelenlehre, die dem
vergesellschafteten und dem unbewußten Menschen zugleich gerecht zu werden
versucht, führte Fromm zur analytischen Sozialpsychologie und zu den Gedanken
von Karl Marx, wie diese im Institut für Sozialforschung in Frankfurt rezipiert
wurden. Der geistesgeschichtliche Hintergrund für Fromms Mitarbeit in der sog.
Frankfurter Schule ist ein "religiöser".
Die Frommsche "Weiterentwicklung" der
Rabinkowschen Einsichten und Erfahrungen lag durchaus auf der Linie der
humanistischen Interpretation des Judentums durch Rabinkow. Rabinkow war der
letzte Talmudlehrer Fromms. Seine universalistische und humanistische
Interpretation des Judentums hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass Fromm
den Schritt aus dem orthodoxen Judentum tat und sich zu einem nicht-theistischen
Humanismus bekannte. Induziert wurde dieser persönliche Schritt durch Fromms
eigene psychoanalytische Erfahrungen. Sicher wurde die Abkehr von der
"religiösen Seelenlehre" und die Zuwendung zur "psychoanalytischen Seelenlehre"
von ihm als Bruch mit der überkommenen religiösen Lebenspraxis und als ganz
neues und anderes Identitätserleben wahrgenommen. Und doch sind die
Gemeinsamkeiten beider Seelenzustände und Seelenlehren unübersehbar: Es ist
nicht mehr das Gesetz als Ausdruck eines religiösen Ethos, sondern der
Charakter, der eine ganzheits- und einheitsstiftende Funktion hat. Es sind nicht
mehr die religiösen Ethosformen in Abgrenzung zu den Ethosformen der
kapitalistischen Gesellschaft, sondern die produktiven als Alternative zu den
nicht-produktiven Charakter-Orientierungen.
Freuds Entdeckung des
humanwissenschaftlichen Zugangs zum Unbewussten und das existenzielle Erfahren
des Unbewussten durch die eigene Psychoanalyse hat bei Fromm eine
anthropologische Wende ermöglicht, die das religiöse Interesse zum
sozialpsychologischen Interesse werden ließ. Der gemeinsame Nenner beider
Seelenzustände und Seelenlehren aber ist die humanistische Grunderfahrung. Das
konservative religiöse Ethos der Frommschen Vorfahren und Lehrer hat ein
produktives, biophiles, seinsorientiertes Identitätserleben ermöglicht - hat
also über die religiösen Ethosformen die humanen Kräfte des Menschen zur
Entfaltung gebracht. Deshalb konnte das religiöse Ethos humanistisch
interpretiert werden.
IV. Schluß
Trotz aller anthropologischen Wende
bleibt die humanwissenschaftliche Erkenntnis bei Fromm immer eine vom
humanistischen Erkenntnisinteresse geleitete und - wie im religiösen Humanismus
der Vorfahren vorerfahren - eine auf die Entfaltung des Humanen gerichtete
Erkenntnis. Die Frommsche Sozialpsychologie ist auch als analytische und
anthropologisch gewendete eine humanistische Sozialpsychologie, die den Anspruch
der religiösen Erfahrung einlöst, ohne noch eines jenseitigen Gottes oder einer
institutionalisierten, durch Theologie und Kirche gesicherten, Religion zu
bedürfen.
Um diese Entwicklung im Leben und Denken
Fromms adäquat zu veranschaulichen, müssen wir unsere Metapher von den Wurzeln
des Frommschen Lebensbaumes und Lebenswerkes verändern. Die jüdischen Lehrer,
Erfahrungen und Traditionen sind eigentlich keine Wurzeln, sondern Samen, die
den genetischen Code für die weitere Entwicklung und Werdegestalt eines Menschen
und seines Denkens enthalten. Und wir müssten korrekterweise von den jüdischen
"Samen" für das humanistische Denken von Erich Fromm sprechen.
Für Samen gilt die gleiche paradoxe
Logik, die für alles wirklich Lebendige gilt: Nur wenn sie sterben, nur wenn sie
sich verwandeln, neues Leben aus ihnen hervorgeht und die Samenkörner selbst
sterben, leben sie unter einer neuen Identität fort. Und doch realisieren sie
nicht anderes, als was die Bestimmung des genetischen Codes der Samen war. Die
jüdischen "Samen" für das humanistische Denken von Fromm sind aufgegangen in
seinen säkularen sozialpsychologischen Entdeckungen. Der genetische Code, also
die humanen und biophilen Vorerfahrungen der religiösen Lebenspraxis, hat in
Fromms säkularem und wissenschaftlich begründetem Humanismus und in einer
biophilen Persönlichkeit seine Bestimmung gefunden und zugleich eine neue,
irreversible Identität. Fromm ist kein Jude mehr, weil er seine jüdischen
"Samen" hat aufgehen lassen.
Anmerkung:
1 Öffentlicher Vortrag beim
Symposium zum Thema "Erich Fromm - zu Leben und Werk", das vom 12. bis 14. Mai
1988 im Centro didattico cantonale in Locarno, Schweiz, stattfand.
Literaturverzeichnis:
COHEN, H.: Religion der Vernunft aus
den Quellen des Judentums. Nach dem Manuskript des Verfassers neu durch
gearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Bruno Strauß, 2. Auflage,
Frankfurt 1929
FROMM; E. (1922a): Das jüdische
Gesetz. Ein Beitrag zur Soziologie des Diasporajudentums, Heidelberg
1922, 227 S. (Manuskript).
LÖWENTHAL, L.:Mitmachen wollte ich
nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel, Frankfurt 1980
(Suhrkamp Verlag)
RABINKOW, S. B.: "Individuum und
Gemeinschaft im Judentum," in: Die Biologie der Person. Ein Handbuch
der allgemeinen und speziellen Konstitutionslehre, herausgegeben von Th.
Brugsch und F.H. Lewy, Band 4: Soziologie der Person, Berlin/Wien
1929, S. 799-824 (Urban und Schwarzenberg)
ROSENZWEIG, F.: Briefe und
Tagebücher, Band 2: 1918-1929, Haag (Martinus Nijhoff) 1979.
SALZBERGER, G.: "Erinnerungen von
Rabbiner Dr. Georg Salzberger über das 'Freie Jüdische Lehrhaus'," Sendung
des Senders Freies Berlin I vom 4.8.1974 (Manuskript im Erich-Fromm-Archiv,
Tübingen).
SCHOLEM, G.: Von Berlin nach
Jerusalem. Jugenderinnerungen. Frankfurt 1977 (Suhrkamp)
[GESAMTVERZEICHNIS
ERICH FROMM]
Copyright © 1988 and 1998
by Dr. Rainer Funk
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