Israel im Schock:
Scharons lange Nacht
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Scharon Tag war lang und voller Termine. Die Presse
meldete "mutmaßliche Hinweise", dass Scharon doch von illegalen Spenden
gewusst habe. Genau das fehlte ihm mitten im Wahlkampf, doch in die
Korruptions- und Schmiergeldaffäre reingezogen zu werden. Die Ärzte hatten
ihm Fasten angeordnet, als Vorbereitung für eine Herzoperation am
Donnerstag. "Fast jeder Patient kriegt aus Angst vor einem solchen Eingriff
Herzflattern", sagte bildhaft ein Facharzt im israelischen Fernsehen, als
bekannt wurde, dass Scharon sich "unwohl" fühlte.
Scharon hatte sich am Abend zu seiner Farm nahe dem Gazastreifen fahren
lassen, um gemütlich mit seinem Sohn Gilad und dessen Braut zu plaudern. "Es
ist nichts besonderes", meinte der 78-Jährige plötzlich, während er sich an
die Brust fasste und "Druck" empfand. Erst vor drei Wochen hatte er einen
"leichten Hirnschlag" überstanden. Damals war Scharon auf Anraten von Gilad
sofort ins Krankenhaus gefahren. Zum Glück. Auch jetzt wollte Gilad kein
Risiko eingehen. Ein stets anwesender Sanitäter wurde aus einem Nebenraum
gerufen. Der wollte den Premier sofort ins nächste Hospital in Beer Schewa
fahren lassen. Es dauerte zwanzig Minuten, bis Scharons Arzt kam.
Der beschloss, Scharon nach Jerusalem fahren zu lassen, wo
ihn am nächsten Morgen die Herzoperation erwartete und der Geheimdienst
schon alle Sicherheitsmaßnahmen getroffen hatten. "Der Sanitäter und der
Arzt stritten sich lautstark", wird berichtet. Dann die Frage ob er mit
Hubschrauber oder Ambulanz nach Jerusalem gebracht werden sollte. Man
entschied sich für die Autofahrt. In der Nacht gibt es keine Staus. In 50
Minuten, mit 170 Stundenkilometern Geschwindigkeit, wo normale Sterbliche
nicht schneller als 80 fahren dürfen, raste die Kolonne zum
Hadassa-Hospital, Scharon in der Notarztambulanz. Erst in der Motza-Kurve
vor Jerusalem wurde Scharon plötzlich bewusstlos, wo der deutsche Archäologe
Carsten-Peter Thiede nach dem biblischen Emmaus gegraben hat, wo der
auferstandene Jesus den Jüngern erschienen sei. "Eine Hirnblutung trifft den
Menschen so plötzlich wie ein Blitzschlag", sagte später ein Neurologe.
Abgeschirmt durch Paravents wurde Scharon sofort zum Operationstisch
gebracht.
In der Nacht sprach Chefarzt Schomo Mor-Josef von einer
"massiven Hirnblutung" und von einem "ernsten Zustand". Am Morgen erfuhren
die Israelis offiziell, dass nach einer mehrstündigen erfolgreichen
Operation ein CT-Scan zur Entdeckung weiteren Blutungen führte. Scharon, in
Narkose und künstlich beamtet, musste ein weiteres Mal operiert werden. "Er
sah sehr schlecht aus", behauptete ein anonymer Augenzeuge, der ihn auf dem
Weg vom Operationssaal im Untergeschoss zur neurologischen Intensivstation
im siebten Stock gesehen haben will.
Professor Mor-Josef dementierte Gerüchte im Internet, wonach Scharon längst
tot sei. Er werde bis Sonntag im künstlichen Koma gehalten, "weil das auch
der Erholung dient". Scharons Zustand wurde derweil in "sehr ernst"
korrigiert. Einige verwendeten das unheimliche Wort "Anusch", was so viel
bedeutet wie "im Sterben liegen". Nur selten hat ein als "Anusch"
eingestufter Patient überlebt. Dann ist immer die Rede von einem
"medizinischen Wunder". Fachärzte beschieben anhand der spärlichen Angaben
über gelähmte Beine, künstliche Beatmung, "unwiderbringliche Schäden" und
der Dysfunktion nicht näher erwähnter Körperfunktionen, dass Scharon wohl
nie mehr ein normales Leben führen könne, falls er die Belastung überleben
sollte.
Israel wachte mit einem Schock auf. Scharon galt schon als Wahlsieger an der
Spitze seiner neuen Kadima-Liste. Noch in der Nacht waren an Scharons
Stellvertreter, Finanzminister Ehud Olmert, einem ehemaligen Bürgermeister
Jerusalems, die Amtsgeschäfte übertragen worden. Gegen Mitternacht erbosten
sich Nachbarn in der Kaf-Tet Novemberstraße über Gitter-rückende
Geheimdienstleute und laute Presseleute. Am Morgen berief Olmert eine
Kabinettsitzung ein, um zu zeigen, dass es kein Machtvakuum gebe. Die
Likud-Minister vertagten aus Pietät ihren geplanten Austritt aus der
Regierung. Solange Scharon noch lebt, wagt kein israelischer Politiker über
die innenpolitische Neugestaltung mitten im Wahlkampf zu reden.
Der palästinensische Premierminister Ahmed Kurei erklärte: "Wir schließen
Scharon in unser Herz ein und beten für ihn." Der palästinensische Minister
Saeb Erekat, der noch nie ein freundliches Wort über Scharon geäußert hat,
klagte: "Scharon ist der einzige Israeli, mit dem wir reden können." Nur ein
Sprecher der Hamas redet von einem "erfreulichen Wandel bei den Zionisten,
denn Scharon war ein Verbrecher und Mörder."
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com
Ein ganzes Land und ein Mann:
Von Schock zur Trauer
Die Einlieferung des Premiers in solch schwerem Zustand hat unseren
blank gelegten Nerv wieder aufgerissen, so Sima Kadmon in Jedioth
achronoth: Fünf Jahre hat sich ein ganzes Land um einen Mann
gedreht, um Arik, Ariel Sharon...
Endlose Lebenserwartung:
Er wollte keine Angiographie
In den letzten Tagen war Sharon unter sehr großem Druck. Vielleicht
so sehr, wie noch nie. Der Held der israelischen Feldzüge und
Absolvent vieler politischen Kämpfe, der nie zurückgeschreckt war,
nie gezögert hatte, nicht gezwinkert und nicht gefürchtet hatte,
hatte nun Angst...
Der letzte der Giganten:
Leb wohl, Generation von 1948
Während diese Zeilen geschrieben werden, kämpft Ariel Scharon um
sein Leben. Und man muss kein Neurologe sein um zu wissen, dass
seine Tage im Büro des Premierministers vorüber sind...
Mitten im Wahlkampf:
Scharon hinterlässt ein Vakuum
Entsprechend dem Spruch, dass jeder Mensch
ersetzbar sei, kommt eine beklemmende Ratlosigkeit auf, bei der
Frage, wie es nun weitergehen könnte. In der ganzen Parteilandschaft
Israels, durch Scharons Weggang vom Likud ohnehin durcheinander
geraten, ist weit und breit kein ebenbürtiger Politiker zu
entdecken...
Gesetzeslage:
Ehud Olmert kann alle
Entscheidungen treffen
Der stellvertretende Premierminister ist autorisiert,
alle Entscheidungen zu treffen, ob sie dringend sind oder nicht...
hagalil.com 05-01-2006 |