Antisemitismus in Europa:
Die OSZE-Antisemitismuskonferenz
Erinnerungen von Prof. Gert Weisskirchen
(Zweiter von drei Teilen)
Prof. Gert Weisskirchen (MdB, SPD) ist
OSZE-Beauftragter zum Thema Antisemitismus. Hier Auszüge eines Beitrags als
eine Art Rückblick auf die Konferenz der OSZE in
Berlin
im April 2004, die nächsten Stationen der OSZE waren
Paris und
Cordoba.
Einwanderung als Chance Deutschland war immer
ein Einwanderungsland, wie alle Länder der EU es waren und künftig noch
ausgeprägter sein werden. Die westlichsten Staaten der OSZE, die Vereinigten
Staaten von Amerika und Kanada, sind erst durch die Einwanderer geworden,
was sie heute sind. Die östlichen Mitglieder der OSZE haben ihre Erfahrungen
mit Einwanderung gemacht. Der OSZE-Raum ist geprägt durch den imperialen
Gestus von erobernden Einwanderern. Der seltene Fall der Einladung durch den
territorialen Grundherrn durchbricht die historische Regel.
Die jüngste Form der Zuwanderung allerdings ist politisch gesteuert. Die
generativen Defizite der westeuropäischen Gesellschaften sollen ausgeglichen
werden. Seit einigen Jahren sind Menschen mit einem kulturellen
Selbstverständnis gerufen worden, das bei uns als neu empfunden wird. Sie
wollen kulturell, sozial und politisch anerkannt werden. Bemühen wir uns
wirklich, sie in unsere Mitte aufzunehmen? Die Antwort auf diese Frage
entscheidet darüber, ob unsere Gesellschaften zukunftsfähig sind.
Strengen wir uns nicht stärker an, dann scheitern wir am wachsenden
Grundproblem moderner Gesellschaften, an ihrer Fähigkeit zu erfolgreicher
Integration. Eine große Gefahr kommt auf uns zu, wenn alle, die um
gesellschaftliche Anerkennung kämpfen, sich plötzlich zusammenfinden und
alles Leid, das sie empfinden, einem anlasten, weil er einer Minderheit
angehört - so könnte die alte Lüge neu erfunden werden, die Juden seien an
allem schuld.
Der Antisemitismus ist unser Problem, in allen Staaten der OSZE. Er sucht
jede Schranke zu durchbrechen: Anstand, Glauben, Zivilisation. Seine Gewalt
trifft uns alle: Juden und Christen und Muslime. Seine teuflischste
Ausgeburt ist der Terrorismus. Er reißt alle Grenzen nieder. Sein Ziel ist
es, die Menschlichkeit auszulöschen. Seine akute und aktuelle Gefährlichkeit
bezieht er aus den Ambivalenzen, die den gesellschaftlichen Konfliktlagen
sich beschleunigender Modernisierungsprozesse entspringen.
Dort, wo prämoderne kulturelle Verhaltensdispositive sich an vermeintlichen
traditionalen Gewissheiten versteifen, sich gegen fließende und sich
verflüssigende Modernitätsansprüche zu retten versuchen und eine neue
Balance kollidierender Wertekonstellationen nicht gefunden wurde, haben
rückwärtsgewandte Utopien eine Chance. In solchen prekären Phasen der
Transformation können Komplexität reduzierende Identitätskonzepte ihren
Platz behaupten. Werden sie ideologisch aufgeladen, können sie die ihnen
innewohnenden Gewaltpotenziale zuspitzen und gegen andere, ebenfalls
Komplexität reduzierende Identitätskonzepte aggressiv in Stellung bringen.
Die Frontlinien verlaufen dann jedoch nicht, wie Samuel P. Huntington zu
behaupten versucht, in großformatigen territorialen Konfigurationen, sondern
innerhalb der Gesellschaften selbst.
Reduzierte Identitätskonzepte müssen sich ihre Feinde suchen, weil sie ihre
Austauschverhältnisse dem Irrtum unterwerfen, das Gegenüber der anderen
reduzierten Identität suche das Eigene zu zerstören. Die einfachste Form der
Reduktion ist die Ethnizität. Sie unterwirft allen in ihr Eingeschlossenen
dem immer währenden Zwang, sich ethnisch zu reinigen. Schließlich öffnen
sich alle Schleusen, die Gewalt zuvor noch eindämmen konnten. Dort also, wo
sich lokal lineare Identität festzukrallen sucht, um dem vermeintlichen
Ansturm universeller Modernität zu trotzen und eine minoritäre Identität zum
Feind zu stilisieren vermag, droht dem Zusammenleben höchste Gefahr.
Sie kann nur gebannt werden, wenn universell geltende Werte neu verhandelt
werden. Prozedural muss Fairness für alle Beteiligten gewährleistet sein,
damit sie sich das Ergebnis der Verhandlungen zu Eigen machen.
Die jeweiligen Kontexte werden variieren, die Inhalte der Werte müssen in
jedem Fall mit dem Horizont der aufgeklärten Moderne verbunden bleiben.
Sonst gäbe okzidentales Denken sich selbst auf.
Insofern bleiben die Prozesse, die zur gesellschaftlichen
Selbstverständigung führen, unverrückbar der Moderne eingeschrieben Die
Intensität der Arbeit an der Integration jedoch nimmt zu. Ohne eine fest
gefügte Basis des gegenseitigen Respekts, der wechselseitig sich zu
bestätigenden aktiven Toleranz kann Integration nicht gelingen. Sie wird
allen Gesellschaften in der OSZE viel abverlangen. Sie können - jeweils
einzeln oder in ihrer Gesamtheit - daran zu Grunde gehen. Aber sie können
einzeln oder in ihrer Gesamtheit voneinander und miteinander lernen, wie die
bevorstehenden Konflikte bearbeitet und bewältigt werden können.
Chancen der Antisemitismuskonferenz
Die OSZE hat eine einzigartige Chance. Sie kann die in ihrem Raum
bestehenden Probleme identifizieren und sie in ihrer Relevanz gewichten. Die
OSZE-Teilnehmerstaaten können sich danach gegenseitig dazu verpflichten, sie
zu bearbeiten. Sie tauschen zuvor ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen aus
und formulieren in zeitaufwendigen multilateralen Verhandlungen jenen
Konsens, der mithilft, das jeweilige Problem anzugehen. Bevor jedoch ein
Problem als ein zu bearbeitendes erkannt wird, muss das Bewusstsein
entsprechend politisch geschärft werden. So war dann auch im Fall des
Kampfes gegen den Antisemitismus erst ein Vorlauf notwendig, bis die OSZE
sich dieses Themas angenommen hat.
Gesellschaftliche Brisanz haben neue Formen des Antisemitismus in der Folge
der zweiten Intifada gewonnen. In einer Reihe westlicher
OSZE-Teilnehmerstaaten spitzten sich Ereignisse zu, die als eindeutig
antisemitisch zu bewerten waren: in Deutschland, Frankreich, im Vereinigten
Königreich, in den Niederlanden, Belgien und in Griechenland. Ältere Formen
des Antisemitismus rückten in Ungarn, Polen, in der Ukraine und in Russland
in die öffentliche Wahrnehmung. Die alarmierende Häufung der Ereignisse
erreichte zunächst Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung der OSZE.
Sie nehmen die tektonischen Verschiebungen, die sich innerhalb ihrer
Gesellschaften vollziehen, häufig rascher wahr. Im Vorfeld der Berliner
Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE im Jahr 2002
verständigten sich die nationalen Delegationen der USA und Deutschlands
darauf, dass der Kampf gegen den Antisemitismus innerhalb der OSZE
aufgenommen werden müsse. Am Rande der Jahrestagung fand auf Einladung des
US-Kongressabgeordneten Christopher Smith und des Bundestagsabgeordneten
Gert Weisskirchen eine Diskussionsveranstaltung statt, die das weitere
Vorgehen festzulegen suchte.
Nachdem sich die Parlamentarische Versammlung der OSZE in Berlin in ihrem
Beschluss zum gemeinsamen Kampf gegen den Antisemitismus bekannt hatte,
wurde alles daran gesetzt, die gouvernementale Ebene davon zu überzeugen,
alle Kräfte gemeinsam auf dieses Ziel zu konzentrieren. Auf beiden Ebenen,
der parlamentarischen wie der gouvernementalen, waren erhebliche Widerstände
zu überwinden. In Deutschland herrschte zunächst die Sorge, man könne auf
die Anklagebank geraten, eine Sorge, die von vielen Teilnehmerstaaten
geteilt wurde. Häufig war das Argument zu hören, der Kampf gegen den
Antisemitismus sei der nationalen Souveränität vorbehalten. Im Übrigen könne
man durch seine öffentliche Thematisierung den Antisemitismus gerade erst
herbeireden. Übrig blieb am Ende der Versuch, das Thema abzuwehren, weil
seine Behandlung geradewegs dazu führe, einen kruden „Antiislamismus“ zu
provozieren.
Nachdem jedoch die USA auf dem Ministerratstreffen der OSZE in Porto
gemeinsam mit Deutschland eine Kompromissformel gefunden hatten, war das Eis
gebrochen. Auf zwei Wiener Konferenzen diskutierten im Jahr 2003 Vertreter
der Regierungen ein dichtes Bündel von Themen, die eine inhaltliche Basis
für die Berliner Konferenz 2004 schufen. Zu der Konferenz hatte die
Bundesregierung die OSZE eingeladen und damit Fakten geschaffen, denen sich
andere Teilnehmerstaaten nicht entziehen konnten.
Am Anfang stand der aufkeimende Antisemitismus in seiner neuen alten Form.
Parlamentarier waren davon alarmiert und hatten die Regierungen dafür
gewonnen, gemeinsam etwas dagegen zu unternehmen. Bereits in der
Vorbereitung zur Berliner Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung
hatten Christopher Smith und Gert Weisskirchen die enge Kooperation mit
nichtstaatlichen Organisationen gesucht. Diese sollten von nun an ein
entscheidendes strategisches Zwischenstück zwischen der staatlichen, der
parlamentarischen und der gesellschaftlichen Ebene darstellen.
Der Kampf gegen den Antisemitismus kann am besten gewonnen werden, wenn die
Immunkräfte der Gesellschaft stark genug sind, seinen Angriff abzuwehren.
Schließlich ist es die Zivilcourage des Einzelnen, die darüber entscheidet,
ob eine Gewalthandlung vor Ort unterbunden wird. In dem Augenblick, in dem
die Gefahr aufblitzt, dass Gewalt explodiert, müssen Einzelne aufstehen und
denen in den Arm fallen, die zum Einsatz von Gewalt bereit sind. Gewiss muss
der Staat den nötigen Rahmen setzen, damit Zivilcourage gefördert wird. Der
Staat muss auch Rechtsakte setzen, damit der Antisemitismus in all seinen
Formen verurteilt wird. Darüber hinaus trägt er Verantwortung für das
politische Klima - ob es offen bleibt für das faire Aushandeln von
gesellschaftlichen Konflikten oder ob Minderheiten an den Rand gedrängt
werden.
Die Aufgabe der Zivilgesellschaft wiederum ist es, das öffentliche
Bewusstsein wach zu halten und zu schärfen. Sie soll lokale Konflikte genau
beobachten, mögliche Trendänderungen wahrnehmen und Frühwarnungen abgeben.
Parlamente ihrerseits können zwischen der lokalen, der regionalen, der
zentralen und, wie im Fall der OSZE, der transnationalen Ebene vermitteln.
Dabei haben sie ein großes Maß an Freiheit, eigenständig zu handeln,
verfügen über weitgehende Kontrollbefugnisse und können gemeinsam mit der
zuständigen Regierung und der entsprechenden Zivilgesellschaft eine
politische Agenda setzen, die deren jeweilige Leistungsfähigkeit optimiert.
Im Zusammenwirken dieser drei Ebenen sind ihre verschiedenen Rollen strikt
zu beachten. Die Autonomie der Zivilgesellschaft darf politisch nicht
vereinnahmt werden. Das ist nicht allein aus funktionalen Gründen
erforderlich. Für zivilgesellschaftliche Gruppen ist es unerlässlich, sich
die Fähigkeit zur Kritik zu bewahren.
Die gouvernementale oder die parlamentarische Ebene kann ermüden oder Gefahr
laufen, in der konsensorientierten Maschinerie der OSZE Inhalte
preiszugeben, was den Kampf gegen den Antisemitismus schwächen würde.
Der Vorlauf zur Berliner OSZE-Konferenz 2004, ihre Vorbereitung, ihr Verlauf
und die Ergebnisse lassen hoffen, dass der Kampf gegen den Antisemitismus im
OSZE-Raum leichter gewonnen werden kann als wenn sie nicht stattgefunden
hätte. Eine endgültige Bewertung steht noch aus. Und doch kann festgehalten
werden: Form und Inhalt der Konferenz haben überzeugt.
Teil 3 - OSZE-Antisemitismuskonferenz:
Einwanderung und Antisemitismus
Deutschland war immer ein Einwanderungsland, wie alle
Länder der EU es waren und künftig noch ausgeprägter sein werden. Die
westlichsten Staaten der OSZE, die Vereinigten Staaten von Amerika und
Kanada, sind erst durch die Einwanderer geworden, was sie heute sind...
NGO Forum Berlin:
Kampf gegen Antisemitismus im
Koalitionsvertrag verankern
Die zukünftige Regierung soll in ihren Koalitionsvertrag
aufnehmen, den Kampf gegen Antisemitismus fortzusetzen: Dies forderte
gestern morgen auf einer Pressekonferenz ein breites Netzwerk von
nicht-Regierungsorganisationen...
Zu diesen offiziellen Empfehlungen kommen noch einige
von haGalil
eingebrachte Anregungen, die nicht in den gemeinsamen
NGO-Forderungskatalog aufgenommen wurden. |