Weltgebetstag der Frauen 2003 -
Libanon
Dokumentation Teil 4Brief von Pfarrer
Thomas Hölzer am 16. Oktober 2002
Liebe Schwestern vom Weltgebetstags-Komitee, liebe Frau
Heilig,
seit ein paar Tagen halte ich die wie immer mit Spannung erwartete
Gottesdienstordnung für den WGT 2003 in Händen. Als Pfarrer einer
reformierten Kirchengemeinde in Südwestfalen versuche ich mein theologisches
Denken und meine/unsere gemeindliche Arbeit in der Erneuerung des
christlich-jüdischen Verhältnisses zu orten, was für mich u.a. auch
Solidarität mit dem Staat Israel zur Folge hat.
Mein in diesem Jahr besonders gespanntes Warten auf die Gebetsordnung aus
dem Libanon erklärt sich aus dieser Ortung und freilich auch aus der noch
lebhaften Erinnerung an die hier vor Ort beträchtlichen Diskussionen um den
WGT 1994.
Wir haben uns seinerzeit nach langen Gesprächen für eine eigene
Gebetsordnung entschieden. Und nach eingehender Lektüre des neuen Entwurfs
bin ich gespannt, zu welchem Ergebnis unsere Diskussionen diesmal führen
werden.
Um es vorab zu sagen: Als Mitverantwortlicher für die Vorbereitung des WGT
und mehrerer Frauen(hilfs)gruppen kann ich diese Gebetsordnung und den
Begleittext in der vorliegenden Form in einer Reihe von Punkten nicht
mittragen.
Ich erlaube mir darum, Ihnen einige Beobachtungen und Fragen mitzuteilen,
die auch in den anstehenden Vorbereitungsgesprächen zum WGT in unserer
Gemeinde - und gewiß nicht nur in ihr - eine gewichtige Rolle spielen
werden.
Ich beziehe mich im folgenden ausschließlich auf das Heft der Gebetsordnung,
das allen Gottesdienst-TeilnehmerInnen an die Hand gegeben wird.
1. Der nichtliturgische Teil der WGT-Ordnung
(Anm. d. Red.: Mit "nichtliturgischer Teil" sind die
Länderinformationen auf der zweiten und vorletzten Seite des Heftes gemeint)
Die kurze Landinformation unter der Überschrift "Libanon" soll den
Gottesdienst-TeilnehmerInnen eine prägnante Zusammenfassung bieten und
"informiertes Beten" ermöglichen. Es ist anerkennenswert, daß Ihr
Begleittext in der Tat eine erstaunliche Fülle historischer und politischer
Fakten auf engstem Raum zusammenfaßt.
Ich gehe wohl recht in der Annahme, daß dieser Text zugleich die nach Ihrer
Sicht eiserne Ration an Kenntnissen beinhaltet, die für "informiertes Beten"
notwendig sind. Beim Lesen habe ich mich freilich je länger je mehr gefragt,
welche Kriterien Sie bei der Auswahl der kaum überschaubaren Faktenvielfalt
zugrunde gelegt haben.
Aber der Reihe nach...
Das erste "Hoppla-Erlebnis" stellt sich schon bei der Lektüre der ersten
Sätze ein.
"Die Libanesische Republik... grenzt ... im Süden an Israel/Palästina."
(S.2)
Ich liege wohl nicht daneben, wenn ich in den beiden letzten Worten ein an
Kürze nicht mehr zu unterbietendes Bekenntnis zu entdecken meine, das Sie
ausgeführt vielleicht unter dem Stichwort "doppelte Solidarität" entfalten
würden.
Dann verbirgt sich in diesem einfachen Schrägstrich (oder Neudeutsch: Slash)
zwischen Israel und Palästina ohne Zweifel ein gewichtiges Programm. Ich
frage mich freilich, welche Funktion ein solches Kurzbekenntnis in einem
knappen Informationstext zwischen nüchternen Zahlen zur Landesfläche und
Bevölkerungszahl erfüllen soll.
Wenn Sie pure Fakten präsentieren wollen, dann grenzt der Staat Libanon im
Süden an den Staat Israel. Und wenn Sie das israelisch-palästinensische
Verhältnis thematisieren oder an die Frage nach einem palästinensischen
Staat erinnern oder ein diesbezügliches Statement abgeben wollen, dann
erwarte ich als mitdenkender Leser statt eines coolen Slashs doch eher ein
paar erklärende Worte, mit denen ich dann einverstanden sein kann oder an
denen ich mich reibe. In der vorliegenden Form und im Kontext einer
Kurzinformation jedoch wirkt dieses Bekenntnis schlicht suggestiv, weil so
ein offenes Problem als scheinbar feststehendes politisches Faktum
präsentiert wird. Tut mir leid, aber mich erinnern solche gedruckten
Bekenntnisse immer an Publikationen, die seinerzeit die DDR nur mit
Gänsefüßchen verziert aufs Papier lassen mochten.
Aber immerhin - mir bringt’s wenigstens den Erkenntnisgewinn, von nun an mit
weiteren "Hoppla-Erlebnissen" zu rechnen. Und die lassen dann auch
tatsächlich nicht allzu lange auf sich warten...
Sie stellen fest:
"Wegen der israelischen Besetzung ihres Landes flohen in den 50er, 60er
und 70er Jahren viele PalästinenserInnen in den Libanon" (S.2).
Das ist gewiß im Groben richtig (die Formulierung "Besetzung ihres Landes"
bedürfte freilich einer differenzierenden Diskussion) und wird hierzulande
wohl nur von ein paar christlichen Fundamentalisten bestritten.
Ich frage allerdings, warum bei der damit gerade einmal en passant
gestreiften Flüchtlingsfrage deren höchst komplexes Ursachengeflecht
kurzerhand auf einen einzigen Urheber reduziert wird. Wir müssen doch gewiß
nicht über die Tatsache streiten, daß ein beträchtlicher Teil der heute im
Libanon lebenden PalästinenserInnen im Gefolge des sog. "Schwarzen
September" in den Libanon kam, nachdem die PLO 1970 von der jordanischen
Armee aus Jordanien vertrieben wurde und den Libanon zu ihrer militärischen
Basis gegen Israel und Beirut zu ihrem Hauptquartier machte. Halten Sie das
für nicht so wichtig für das Verstehen der libanesischen Geschichte, oder
warum fällt diese unbestreitbare und in einem knappen Satz darstellbare
Tatsache in Ihrem Informationstext unter den Tisch?
Überhaupt fällt auf, daß im gesamten Heft die in der jüngeren libanesischen
Geschichte nun wirklich nur mit geschlossenen Augen übersehbare PLO mit
keiner Silbe erwähnt wird.
Auch wäre für das Verständnis der libanesischen Implikationen des
Flüchtlingsproblems durchaus die Erinnerung wichtig, daß die Besetzung des
Westjordanlandes, Ost-Jerusalems und Gazas bis 1967 von Jordanien bzw.
Ägypten und nicht eben freundlich wahrgenommen wurde, was wiederum
beträchtliche palästinensische Fluchtbewegungen u.a. in den Libanon zur
Folge hatte.
Es geht mir bei diesen Erinnerungen notabene nicht um historische
Erbsenzählerei und erst recht nicht darum, den unbestreitbaren Anteil
israelischer Verursachung am palästinensischen Flüchtlingsproblem im Libanon
(und anderswo) durch Hinweise auf eine "Schuld der Anderen" runterzurechnen
oder zu relativieren.
Allerdings muß gefragt werden, warum in Ihrem Text ein derart
vielschichtiges Problem völlig einseitig und monokausal aufgelöst wird. Ich
mag keine Mutmaßungen oder gar Unterstellungen anstellen - aber ich frage:
Warum reduziert Ihr Text alles auf einen einzigen Verursacher - Israel?
Ist das ein um der Kürze der Darstellung willen zustande gekommener Zufall?
Oder geht's hier vielleicht auch um eine bestimmte Würze?
Ich stelle dies noch als echte Fragen, auch wenn sich bei der weiteren
Lektüre mein Eindruck verstärkt, daß durchaus ein paar würzige
antiisraelische Interessen die Feder geführt haben könnten.
Weiter im Text:
Warum wird z.B. mit keinem Wort erwähnt, daß Israel aus dem Libanon heraus
zuerst von der PLO und dann vor allem von der Hisbollah permanent mit
Terrorangriffen überzogen wurde? Spielt auch dies in Ihrer Sicht der
libanesischen Geschichte keine wichtige Rolle?
Und warum erscheint in Ihrem Text die bis heute währende Besetzung des
Libanon durch syrische Truppen fast so harmlos wie ein humanitärer
Gulaschkanoneneinsatz, der nur leider "keine Lösung" (S.2) brachte?
Warum kommt nichts von dem Unrecht und Leid zur Sprache, das durch diese
Invasion und diese Besatzung hervorgerufen wurde?
Warum nichts zu den damaligen wie heutigen hegemonialen Bestrebungen Syriens
als Hintergrund dieser Besetzung?
Warum nichts von den Amal-Milizen und ihren Machenschaften?
Und warum nichts darüber, daß der heutige Libanon kaum etwas tun und lassen
kann, ohne vorher in Damaskus einen Diener zu machen?
Dies alles hätte sich durchaus in der gebotenen Kürze und Prägnanz in Ihre
Darstellung einflechten lassen – aber es fehlt.
Und nun frage ich nicht mehr nur sondern äußere angesichts all dieser
Indizien den Verdacht, daß Ihre allein auf Israel als Täter fixierte Auswahl
kaum noch zufällig erscheint. Oder finden Sie Ihren Text über diesen
Verdacht erhaben?
Gleiches gilt für die Kriterien Ihrer Faktenauswahl im
Blick auf Gräueltaten in Krieg und Bürgerkrieg. Selbstverständlich gehen Sie
mit vollem Recht auf das Massaker in Sabra und Schatila im Jahre 1982 samt
dem unbestrittenen israelischen Schuldanteil ein.
Aber Sie wissen doch sicher so gut wie ich, wie viele andere vergleichbar
schreckliche Taten unterschiedlichster Provenienz im Libanon für Angst und
Schrecken sorgten - ganz gewiß auch unter den christlichen Frauen, die uns
zum Gebet einladen.
Warum wird aber einzig und allein dieses eine Ereignis hervorgehoben, und
warum werden alle anderen verschwiegen?
Ich erlaube mir, ein paar Zeilen von Henryk M. Broder aus der Debatte der
80er-Jahre zu eben dieser Frage zu zitieren:
"So richtig es also ist, daß jeder jeden und alles
kritisieren darf, so berechtigt und nötig ist es auch, nach den Motiven
der Kritiker zu fragen und auch danach, warum bestimmte Ereignisse ihren
Widerspruch herausfordern und andere nicht, worin also das stimulierende
Moment liegt, auf das der Anstoßnehmer reagiert wie der Pawlowsche Hund
auf die Klingel. Auf Israel bezogen, könnten die Fragen so lauten: Warum
haben große Teile der deutschen Öffentlichkeit, vor allem der linken
Öffentlichkeit, den Krieg im Libanon erst in dem Moment zur Kenntnis
genommen, als Israel den verhängnisvollen Fehler beging, im Libanon
einzumarschieren? Warum ist denjenigen, die Sabra und Schatila in einem
Atemzug mit Oradour und Lidice aussprechen, der Ort Damour, dessen
christliche Bevölkerung von PLO-Verbänden massakriert wurde, kein
Begriff? Warum haben sie von dem Blutbad, das in Damour stattfand, nicht
mal eine Ahnung? Hat es in der Bundesrepublik eine spürbare
Betroffenheit, eine Welle der Empörung oder irgendwelche Proteste
gegeben, als im April 1985 eine Reihe christlicher Dörfer in der Nähe
von Sidon von schiitischen Milizen überrannt, als Hunderte von Menschen
getötet und Tausende aus ihren Häusern vertrieben wurden? Warum blieben
all jene stumm, die Israels Mitverantwortung für das Massaker in Sabra
und Schatilla im Herbst 1982 beklagten, als im Frühjahr 1985 die
Amal-Milizionäre des libanesischen Justizministers Nabi Berri ein
ähnliches Blutbad an gleicher Stelle anstellten, nur mit dem
Unterschied, daß diese schlau genug waren, weder Journalisten noch
Rot-Kreuz-Helfer in die Lager zu lassen, so daß der Weltöffentlichkeit
jene erschütternden Bilder vorenthalten wurden, von denen nicht genug
gezeigt werden konnten, als es darum ging, Israel der "Endlösung der
Palästinenserfrage" anzuklagen?..."
(Henryk M. Broder, Der Ewige Antisemit, Frankfurt a.M., 1986, S. 36f)
Vielleicht kennen Sie Broders Antwort:
"Das stimulierende Element, das die Empörung aktiviert,
liegt in dem Umstand, daß die Täter Israelis, also Juden sind" (aaO.,
S.38).
Broder identifiziert diese selektive Wahrnehmung als Teil
des von ihm wahrgenommenen antisemitischen Syndroms der
bundesrepublikanischen Linken der 80er-Jahre.
Ich werde mich hüten, eine ähnliche Konsequenz im Blick auf Ihren Text zu
ziehen. Aber ich erlaube mir, noch einmal nachdrücklich zu fragen:
Können Sie mir eine Begründung für Ihre Faktenauswahl nennen, die jeglichen
Verdacht einer einseitigen und negativen Fixiertheit auf die israelischen
Anteile zerstreut?
So erwähnen Sie z.B. bei der Vorstellung der Hisbollah zwar mit Recht deren
Verbrechen in der "von der christlichen Südlibanesischen Armee
kontrollierten ‚Sicherheitszone’", sagen aber nichts darüber, was diese
iranisch gerüstete Terror-Organisation – Sie nennen Sie freilich
verharmlosend wenn nicht gar sympathieheischend "Widerstandsorganisation" -
bis in die Gegenwart hinein südlich davon getan hat und tut? Warum nicht?
War das nicht so schlimm?
Tue ich Ihnen Unrecht, wenn ich den Eindruck weitergebe,
daß alle anderen Beteiligten an den Geschehnissen im Libanon besser
wegkommen als sie waren bzw. sind, und daß immer nur Israel als Verursacher
und Täter dieser und jener Übel expressis verbis namhaft gemacht wird?
Ich frage mich angesichts Ihres kurzen Textes durchaus selber, ob's evtl. an
der Schärfe meiner in der Tat nicht wegzuleugnenden Lesebrille liegt,
behalte sie aber trotzdem auf und lese ein paar Zeilen weiter.
Sie schreiben mit vollem sachlichen Recht:
"Im Mai 2000 zogen sich die Israelis endgültig aus dem Land zurück. Zu
beklagen waren am Ende des Bürgerkrieges 170000 Tote, 500000 Verwundete,
800000 Vertriebene und mehr als 17000 Verschwundene’". (S.2)
Ich habe diese Passage einigen in den Sachfragen wenig bewanderten
LeserInnen vorgelegt, und die haben auch ohne geschärfte Lesebrille mein
Empfinden bestätigt:
Diese Formulierung klingt so, als gingen alle diese Opfer letztendlich auf
das Konto der israelischen Besetzung. Notabene: Ich behaupte nicht, daß
diese Lesart Ihrer Intention entspricht. Aber ich frage: Ist Ihr Text
hinreichend gegen solche (Miß-?)-Verständnisse gefeit oder provoziert er
vielleicht gar welche?
Sie könnten nun gewiß mit vollem Recht erwidern:
"Dann informieren Sie Ihre Gemeinde doch umfassender, als es in unserem
kurzen Text geschehen ist."
Stimmt. Das werde ich tun.
Wir werden in den Vorbereitungsgruppen freilich auch Ihren Text und die
daran gestellten Fragen erörtern. Und ich bin sehr gespannt, ob sich mein
einer oder anderer Verdacht bei der Lektüre der weiteren WGT-Materialien und
Ihrer mit Spannung erwarteten Antwort vielleicht doch als gegenstandslos
erweisen könnte.
Ob Sie's mir glauben oder nicht: Ich wünschte es mir inständig und werde Sie
gern über meine/unsere Gespräche informieren - und ggf. Abbitte tun.
2. Zur Gebetsordnung der Frauen aus dem Libanon
Irgendwo habe ich mal die bedenkenswerte Regel gelesen, bei der Analyse von
Gebeten im Zweifelsfall lieber dem barmherzigen Verstehen Gottes den
Vortritt vor jeder noch so begründeten Kritik zu lassen. Beim vorliegenden
WGT-Programm handelt es sich freilich um erst noch zu sprechende Gebete und
liturgische Elemente, die kritischer Nachfrage offenstehen.
Im "Ruf zum Gebet" lädt die "2. Stimme" auf S.4 ein:
"Kommt und betet mit den Frauen Libanons, die ihre Söhne und Töchter im
Kampf gegen die Besetzung verloren haben. So wurde das Land befreit und die
Menschenrechte werden wieder respektiert."
Gern möchte ich dieser Einladung zum Gebet folgen, aber ich möchte dann auch
ebenso gern verstehen, was ich tue, und das fällt mir hier schwer.
Gegen welche Besetzung haben die Söhne und Töchter dieser Frauen gekämpft?
Gegen die von vielen als De-facto-Besatzung empfundenen PLO-Einheiten, die
als erste einrückten? Gegen die syrischen Invasionstruppen, die 1976
folgten?
Oder ist am Ende nur die zuletzt hinzugekommene israelische Besetzung
gemeint?
Die "4. Stimme" auf S.5 legt diese Auslegung nahe und spricht von den "Frauen
Libanons, die 17 Jahre lang schwer geprüft wurden."
Ich rechne ein bißchen:
Der libanesische Bürgerkrieg dauerte von 1975 bis 1989/90 = 14/15 Jahre.
Die PLO war von 1970 bis 1982 im Lande = 12 Jahre.
Die syrischen Invasionstruppen sind seit 1976 bis heute präsent = 26 Jahre.
Bleibt noch die israelische Besetzung seit dem 2. Libanonfeldzug, die
großzügig kalkuliert von Mitte 1982 bis zum letzten Teilrückzug Israels
1999/2000 währte - und siehe da:
Das ergibt tatsächlich 17 Jahre.
Oder habe ich womöglich ein anderes entscheidendes Datum übersehen?
Wenn nicht, wenn tatsächlich Israel gemeint ist, dann ändert dies freilich
nichts an der Tatsache, daß auch unter dieser israelischer Besetzung
libanesische Frauen, Männer und Kinder gelitten haben, aber dann stellt sich
wie schon bei Ihrem Begleittext auch hier die Frage:
Warum wird ein vielfältiges Ursachenbündel für ein 25jähriges Leiden auf
einen einzigen Urheber reduziert?
Weiter heißt es:
"So (durch den Kampf gegen die Besatzung nehme ich doch mal an) wurde
das Land befreit und die Menschenrechte werden wieder respektiert."
Pardon, aber bei diesem Satz stolpere ich nun gleich zweimal. M.W. hat noch
kein ernstzunehmender Kommentar den freiwilligen Rückzug Israels aus dem
Libanon als Resultat eines von wem auch immer geführten libanesischen
Freiheitskampfes gewertet. Und waren es nicht die christlichen
Bevölkerungsteile des Libanon bzw. deren Milizen, die als Verbündete Israels
auftraten?
Schließlich: In der Tat kann heute zwar eine gegenüber den schlimmen
Zuständen früherer Jahre leidlich gebesserte Menschenrechtssituation im
Libanon festgestellt werden - trotz der De-facto-Abhängigkeit des Landes vom
für in Sachen Menschenrechte und Demokratie nicht eben mit Ruhm bekleckerten
Syrien und vieler innerlibanesischer Mißstände.
Aber kann und darf in einem Gottesdienst so einhellig und so undifferenziert
von wieder respektierten Menschenrechten geredet werden? Schon ein Blick auf
einen kurzen und gewiß unverdächtigen Text des Auswärtigen Amtes könnte und
sollte da zumindest vorsichtiger machen:
"Trotz im Vergleich zu anderen arabischen Ländern weitreichenden
demokratischen und rechtsstaatlichen Errungenschaften kommt es immer wieder
zu Verletzungen der Menschenrechte und Eingriffen in demokratische
Freiheiten und rechtsstaatliche Grundsätze. Auch die Bedingungen in
libanesischen Gefängnissen entsprechen nicht internationalen Normen. Die
Justiz ist grundsätzlich unabhängig, aber nicht frei von politischem Druck.
Im Vergleich zu anderen Staaten der Region verfügt der Libanon über
weitgehende Pressefreiheit, insbesondere in den Printmedien." siehe
Länderinfo Auswärtiges Amt
Detailliert unterrichten z.B. die Jahresberichte zum
Libanon von "amnesty international", die bis zur Ausgabe
2002 vorliegen.
3. Die "Stimmen aus dem Libanon" (S. 8f)
Fünf Frauenstimmen klagen ihr Leid über vergangene und gegenwärtige Nöte im
Libanon und rufen zum Gebet.
Die "1. Stimme" eines neunjährigen Mädchens klagt über israelische
Landminen, die seine Unversehrtheit unwiederbringlich zerstörten.
Das Leid dieses Kindes (und vieler anderer) verbietet selbstverständlich
jegliche Einrede vom Schreibtisch aus. Ein solches Gebet muß vor Gott
kommen.Ein WGT als theologisch und politisch verantwortlich gestalteter
Gottesdienst müßte freilich zusammen mit solchen persönlichen Schicksalen
auch deutlich werden lassen, daß die beklagten militärischen Aktivitäten
Israels im Süden Libanons ebenso unschuldige Menschen im Norden Israels vor
permanenten Terrorangriffen durch Kommandounternehmen und Raketenbeschuß
geschützt haben, die vom Gebiet des Libanon ausgingen.
Und nein: Leid darf nicht mit Leid und Unrecht nicht mit Unrecht verrechnet
werden. Jedes Leid und jedes Unrecht gehört Gott geklagt. Und darum müßte
uns im Gottesdienst die furchtbare Hinterlassenschaft jener Landminen auch
an das schreckliche Leid israelischer Menschen erinnern, das von
libanesischem Boden ausgegangen ist und immer noch droht. Und ich frage
bestürzt, warum diese Erinnerung neben und mit dem Leiden der libanesischen
und palästinensischen Menschen in der WGT-Liturgie nicht wenigstens mit
einem Satz zum Ausdruck kommt.
Eine "2. Stimme" klagt darüber, daß ihr Sohn 1975 von "bewaffneten
Milizen entführt" wurde - auch dies ohne Zweifel ein unbedingter Grund
zum gottesdienstlichen Gebet!
Und dennoch: Ein am WGT theologisch und politisch verantwortlich gestalteter
Gottesdienst muß die Frage stellen: Welche der diversen christlichen,
drusischen, sunnitischen oder schiitischen Milizen hat diese Tat verübt?
Warum wird an dieser Stelle nicht Roß und Reiter genannt - wie bei den
"Stimmen 1 und 4"? Und warum wird hier ein umfangreiches und schauriges
Kapitel libanesischer Bürgerkriegsgeschichte gerade einmal mit knappsten
Worten gestreift, während die auf Israel bezogenen "Stimmen 1 und 4"
wesentlich weiter ausholen und konkreter reden dürfen?
Ich vermute und mag dabei falsch liegen:
Drohen den verantwortlichen Frauen bei konkreterem Reden womöglich Gefahren
seitens gewisser Gruppen im Libanon?
Dann wäre die hier festzustellende Zurückhaltung mehr als verständlich und
sollte vom sicheren Schreibtischstuhl aus gewiß nicht kritisiert werden.
Aber wenn diese Vermutung tatsächlich zutreffen sollte: Wie vertrüge sich
eine Gefährdung der Beterinnen aufgrund freimütiger Rede mit der eben noch
beschworenen Respektierung der Menschenrechte im Libanon?
Auch dies möchte ich gern verstehen, um informiert beten zu können. Genauso
den Umstand, daß nur von zwei der fünf "Stimmen aus dem Libanon" der
Leidverursacher mit Namen genannt wird - und in beiden Fällen "Israel"
heißt.
Die "4. Stimme" einer Palästinenserin, die ihrerseits vielleicht tatsächlich
gute Erfahrungen gemacht haben mag (obwohl sie in einem Lager geboren ist),
hier aber doch wohl allemal stellvertretend für alle ihre im Libanon
befindlichen Landsleute sprechen soll, und vom "freundlichen Land"
und von der "Bereitschaft, uns aufzunehmen" schwärmt, mag ich
angesichts der leidvollen palästinensischen Wirklichkeit im Libanon in
Geschichte und Gegenwart einfach nicht kommentieren, weil's mir die Sprache
verschlägt.
Jede historische Darstellung und jeder kurze Blick auf die wiederum gewiß
unverdächtigen aktuellen Informationen von "medico
international" führt die Unerträglichkeit dieses Abschnitts der
WGT-Liturgie deutlich vor Augen
Um zum Ende zu kommen:
Ich stelle zusammenfassend fest, daß die Auswahl dieser "Stimmen aus dem
Libanon" weder dem Schicksal der im Libanon lebenden Menschen noch der
historischen Wirklichkeit der vergangenen Jahrzehnte gerecht wird.
Und statt einer sachlichen und fairen Würdigung der Rolle Israels als
mitverantwortlichem und ebenfalls von Leid betroffenem Part der Geschichte
des Libanon findet sich im gesamten WGT-Heft durchgehend nur eine die
Vielfalt von Ursachen und Tätern einebnende und also einseitige Fixierung
und Schuldzuweisung, die so nicht stehen bleiben kann und darf, wenn
informiert gebetet werden soll.
Ich schreibe diesen Brief in großer Sorge um ein allen Leidtragenden
wenigstens einigermaßen gerecht werdendes Beten, Reden und Hören am WGT. Und
ich schreibe ihn in großer Sorge um die theologische und politische Qualität
des WGTs, den ich auch im kommenden Jahr wieder als einen schönen und
wertvollen Bestandteil unseres Gemeindelebens vorbereiten helfen und
miterleben möchte – umfassend und nicht einseitig informiert mitbetend.
Ach ja, noch eine ganze Kleinigkeit zum Schluß:
Wie schön ist’s, daß die libanesischen Frauen sich daran freuen können, daß
Jesus auch in ihrem Land – "unserem Libanon" - unterwegs war (S. 11)! Aber
bei aller Mitfreude darüber möchte ich das im gleichen Atemzug angesprochene
biblische Kana doch lieber in Seinem Land - und damit in Galiläa/Israel
belassen.
Mit geschwisterlichem Gruß, besten Wünschen für Ihre Arbeit und einer
Antwort gespannt entgegen sehend
Thomas Hölzer
Thomas Hölzer ist Pfarrer im Kirchenkreis Siegen
haGalil online bedauert, daß es die theologische
Referentin des WGT nicht gestattet, daß ihre Antwort auf diesen Brief hier
dokumentiert wird. Es würde dazu beitragen, daß die verschiedenen
Sichtweisen der innerkirchlichen Debatte in ihrer Unterschiedlichkeit und
Vielfältigkeit sichtbar werden könnten.
Weitere Beiträge der Dokumentation zum Weltgebetstag 2003:
hagalil.com
11-02-03
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