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Der Rabbiner hat ein Strichmännchen 
gezeichnet, auch das gehört zu seinem Beruf. Eine bemützte Figur in einem oben 
offenen Kasten, rings umgeben von Zahlenkolonnen und Rechenoperationen. "Es gibt 
ein Moß von Wasser, was muss sejn in der Mikwe", sagt der Rebbe und blättert 
flink in einem der mächtigen Foliobände.  
 Seine Stimme tönt gegen Baulärm an. Drei 
Stockwerke unterhalb seines Büros pringelt ein Pressluftbohrer. Dort, umgeben 
von den Rückfronten der Konstanzer Altstadthäuser, wo in der Loggia Wäsche 
trocknet und eine Katze sich auf einem Garagendach im Hinterhof lümmelt, ist 
eine Baugrube eingetieft; deutlich sichtbar bereits ein Betonbecken - der Kasten 
in der Skizze des Rabbiners. Die jüdische Kultusgemeinde bekommt ein Tauchbad, 
eine Mikwe, in dem die Gläubigen die von Moses vorgeschriebenen rituellen 
Reinigungen vollziehen können. 
 Damit dieses Bad, das symbolisch den Ruch 
der Sünde abwäscht, "koscher" ist, also den kultischen Erfordernissen genügt, 
hat sich Haim Naftalin in die Materie gekniet und heute noch einmal den 
Architekten instruiert. Denn er, der Rabbiner und Stadtrichter, bürgt für die 
traditionsgemäße Auslegung des mosaischen Gesetzes: die Stimme des Moses am 
Bodensee. 
Man vermutet nicht unbedingt den Geist des 
Sinai in der Konstanzer Sigismundstraße, schräg  gegenüber der katholischen 
Dreifaltigkeitskirche. Die Einheimischen kennen die Adresse, die der Rabbiner 
nannte, eher als die des Finanzamtes, zu dem die schmucklose Fassade auch besser 
passt als zu der Synagoge der jüdischen Kultusgemeinde und einem 
Rabbinatsgericht. Von den Tafeln am Hauseingang, direkt neben einem koscheren 
Lebensmittelladen, weist keine auf diese Institution hin. Nur der Name Naftalin 
auf einem Klingelschild: Das ist die Institution.
 
Das erste orthodoxe Rabbinatsgericht auf 
deutschem Boden, seit 1938 die national-sozialistische Regierung mit dem "Gesetz 
über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen" den 
Synagogengemeinden den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts entzog und 
sie damit ihrer autonomen religiösen Gerichtsbarkeit beraubte.
 
Seit einem Jahr nun amtiert hier der bald 
60-jährige Naftalin als Richter, ausgestattet mit einem Zertifikat des 
Jerusalemer Oberrabbinats. Geholt hatte ihn die Israelitische 
Religionsgemeinschaft Badens unter dem damaligen Vorsitz des Konstanzers Gideon 
Nissenbaum. In der Vergangenheit mussten strenggläubige Juden, die sich in 
religiösen Streitfragen nicht an liberale Rabbiner wenden mochten, Gerichtshöfe 
in England oder der Schweiz anrufen. Dieser Zustand hat ein Ende. "Ein Schritt 
in Richtung Normalität", sagt Benjamin Nissenbaum, Vorsitzender der Jüdischen 
Gemeinde am Ort. 
Wer zu Gericht kommt, durchquert des 
Rabbiners Wohnung. Im Flur grüßt den Eintretenden ein Porträt des  
Lubavitcher Rabbis Menachem Mendel Schneerson - Zeichen eines frommen 
Hauses. Der 1994 gestorbene Schneerson, letztes Glied einer osteuropäischen 
Rabbinerdynastie, galt seiner weltweiten Anhängerschaft als charismatischer 
Erneuerer eines traditionsbewussten Judentums.  
 Die Tür zum Schlafzimmer rechts steht 
offen, ein Bild der Ordentlichkeit. Auf dem Bett liegt der breitkrempige Hut, 
Accessoire eines jeden orthodoxen Juden; auf dem Schrank zwei Koffer. Der 
Rabbiner ist jeden Monat in Israel. Sein Sohn Moische, erzählt er stolz, lehrt 
an einer Jerusalemer Talmudschule. 
Geradeaus der Arbeitsraum von Rabbi 
Naftalin. Kein Gerichtssaal, kein Zeugenstand, keine  Aktenschränke. Ein Raum, 
ausgekleidet mit Büchern; in der Mitte ein Schreibtisch, ein Stuhl dahinter, 
zwei davor. Hier spricht der Rabbi Recht, sucht Entscheidungen zu allen Fragen, 
die ein gläubiges Herz bedrängen können. Ist ein Religionsübertritt gültig? Ist 
eine Scheidung erlaubt? Und eben auch: Ist unsere Mikwe koscher? 
"Hier", donnert der Rabbi und schiebt einen 
geöffneten Folianten über den Schreibtisch, wobei er seinen Zeigefinger auf 
einen Absatz legt. "Hier steht genau, wie es sein muss." Es ist ein Passus aus 
dem "Schulchan aruch", 
einem monumentalen Auslegungswerk für jüdisches Recht aus dem 16. Jahrhundert. 
Im Fundus der Gelehrtengenerationen vor ihm 
kennt sich Naftalin aus; aus diesem formt er seine Entscheidungen in 
Übereinstimmung mit der Tradition. Was für ihn heißt: in Übereinstimmung mit den 
Geboten Gottes. "Gott hat die Gesetze gegeben", sagt Naftalin. "Wir können sie 
nur entwickeln, aber nicht ändern." 
Nicht nur in diesem religiösen Anspruch 
unterscheidet sich Naftalin von seinen weltlichen Kollegen. Vor sein Gericht 
kann niemand gezwungen werden, und seine Urteile haben hier - anders als in 
Israel - keine rechtliche Bindekraft. Auch deshalb hat Naftalin mit der 
bürgerlichen Justiz im Grunde nichts zu tun. Allerdings seien in einigen Fällen, 
in denen ein gemeindeinterner Streit vor einem Zivilgericht landete, die Richter 
seiner sachverständigen Empfehlung gefolgt. 
Eigentlich ist Naftalin Richter, Seelsorger 
und Religionslehrer in einem. Die, die ihn um ein Gutachten, eine Schlichtung, 
ein Urteil angehen, tun dies nicht auf Vorladung oder im Verlauf eines 
geregelten Verfahrensweges, sondern weil sie ihn als Autorität akzeptieren. Für 
sie hat der Entscheid Naftalins aber oft den Rang eines Schicksalsspruchs. "Ich 
geb dir ein Beispiel." 
            Naftalin lässt die Augenlider 
			auf Halbmast sinken, streicht über seinen mächtigen Bart. Da war ein 
			deutscher Jude, der sich in ein nichtjüdisches Mädchen verliebte. 
			Sie trat über, als sie heirateten. Nach 39 Jahren tauchten Zweifel 
			an der Gültigkeit der Konversion auf, sie wuchsen unter den Fragen 
			Naftalins. Der Rabbi hebt die Augenbrauen: "In einer Minute war die 
			Familie kaputt." Jetzt sucht er in den Rechtsquellen Wege zur 
			Schadensbegrenzung, was "nicht zwei, nicht drei Tage" dauern wird. 
			Aber die Chancen, sagt er, stehen schlecht.  
             An sich, sagt Naftalin, 
			stehe für ihn der Mensch im Mittelpunkt, nicht das Gesetz. Man müsse 
			immer "die Hosen des anderen anziehen", der Situation jedes 
			Beteiligten Rechnung tragen. Grenzen setzt ihm aber das 
			unabänderliche Gebot Gottes - oder dessen normative Auslegung. 
			Naftalin verwahrt sich strikt dagegen, die Tradition um einer falsch 
			verstandenen Menschlichkeit willen aufzuweichen. Für jüdische 
			Fragen, sagt er knapp, könne es nur jüdische Lösungen geben, alles 
			andere hieße "ein Feuer mit Benzin löschen". 
Dass Naftalins Beauftragung durch das 
Jerusalemer Oberrabbinat ein besonderes Gewicht seiner Entscheide begründen 
soll, stößt jedoch unter Rabbinern in Deutschland auf Widerspruch: "Das ist mir 
Wurst", poltert Rabbinerin  
Bea Wyler aus Oldenburg. "Ich bin durch meine Ausbildung und Ordination 
ermächtigt, Recht zu sprechen, dazu brauche ich nicht den Segen von Rabbiner 
Naftalin und vom Lubavitcher auch nicht." Entschieden wendet sie sich gegen die 
Unterstellung, sie nehme es mit der Tradition nicht so genau wie der orthodoxe 
Naftalin. Wyler dreht den Spieß um: Treue zur Torah und zur rabbinischen Lehre 
sei auch eine Sache historisch-kritischer Hermeneutik. 
In dieser Hinsicht sei sie "kosherer als 
Herr Naftalin". Wyler sieht mit dem neuen Rabbiner eher das Mittelalter nach 
Konstanz zurückkehren - "Falls es Herr Naftalin nicht gemerkt hat: Wir leben im 
Zeitalter von Telefon und Flugzeugen" -, möchte ihm aber im Übrigen seine "Insel 
auf dem Bodensee"  nicht streitig machen. 
Immerhin unterhält diese Insel wichtige 
Verbindungen nach Jerusalem. Attestiert Rabbi Naftalin beispielsweise den 
Übertritt zum jüdischen Glauben, wird diese Entscheidung auch vom dortigen 
Oberrabbinat anerkannt und berechtigt zur Einbürgerung in Israel. Kinder einer 
solchen Konvertitin gelten auch dort als Juden mit allen Rechtsfolgen. Beim 
Übertritt vor einem liberalen Rabbiner ist das nicht der Fall. Nur interessiert 
das viele nicht. 
Während Benjamin Nissenbaum zufrieden 
bemerkt, durch das orthodoxe Rabbinatsgericht in Konstanz habe Deutschland 
endlich wieder Anschluss an den Rest der jüdischen Welt gefunden, reagiert der 
Vorsitzende der Berliner Gemeinde, Andreas Nachama, gleichgültig: "In der Regel" 
könne es einem in Europa oder Amerika lebenden Juden egal sein, ob eine 
Gerichtsentscheidung in Jerusalem anerkannt werde. Alles andere würde "Jerusalem 
die Position eines Obergerichts zubilligen, die es im Judentum gar nicht gibt". 
Ebenso wenig werde es dem orthodoxen Rabbinatsgericht in Deutschland gelingen, 
einen alleinigen Geltungsanspruch durchzusetzen. "Religion ist heute keine 
Staatsangelegenheit mehr", sagt Nachama. Die Autorität des Religionsgerichts 
stehe und falle mit der Akzeptanz durch die  Parteien, die es beauftragten. 
Nicht anders sieht es Naftalin. 
Der Richter hält dennoch an seiner Mission 
fest: das nach seiner Vorstellung echte jüdische Leben in seiner 
Religionsgemeinschaft zu fördern. Das fällt schwer im Land der Schoah, dessen 
jüdische Gemeinden, wie Naftalin meint, bis vor wenigen Jahren zu klein waren, 
um eine religiöse Kultur wieder aufzubauen. "Ihr sagt, ihr seid Juden, aber ihr 
lebt nicht so", wirft er seinen deutschen Glaubensbrüdern vor. Dabei habe dieses 
Land große Rabbiner hervorgebracht wie kein zweites: 
Rabenu Tam, den Bibelkommentator Raschi und die "Weisen von Worms", den 
Speyerer Talmudisten Isaak ben Ascher Halevi, den Rechtsgelehrten Gerschon ben 
Juda aus Mainz. 
 Ihre Wirkorte waren im Mittelalter die 
geistigen Zentren des mitteleuropäischen Judentums, dort entstand ein Großteil 
der Bücher, die die Bibliothek in  der Konstanzer Rabbinerwohnung füllen. 
Naftalins Stimme läuft noch einmal zu einem Donnern auf: "Ich bin stolz auf 
diese Vergangenheit." Der Rabbi wird nur wenige Jahre in Deutschland bleiben. 
Dann müssen andere kommen, "jüdische Lösungen" für jüdische Fragen suchen, in 
den Gemeinden die Tradition wach halten. Denn "was nicht hat Vergangenheit, hat 
nicht keine Zukunft." 
            taz  9.8.2000 BURKHARD 
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			11-08-2000
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