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Erfahrungen als erste Frau im rabbinischen Amt nach der Schoa in Deutschland

von Rabbiner Bea Wyler, Oldenburg

Guten Abend, meine Damen und Herren,
eigentlich sollte ich heute abend zwei Krankenhausbesuche machen, statt hier zu sein. Beide Kranken wissen, wo ich bin, und haben großzügigerweise zugestanden, daß sie in diesem Fall auch mit einem telefonischen Krankenbesuch zufrieden seien. Diese Mini-Episode charakterisiert in eigentümlicher Weise mein Rabbinat. Lassen Sie mich etwas ausholen. Ich bin seit fast vier Jahren im Rabbinat. In der Tat wiederholt sich in wenigen Tagen, nämlich am 18. Mai, der Tag meiner Ordination zum Rabbiner am Jewish Theological Seminary of America in New York. Nach dem jüdischen Kalender bin ich schon seit Lag baOmer vor vier Jahren mit der Autorität ausgestattet, „in Israel als Rabbiner zu predigen und zu lehren“. Meine Ordinationsurkunde ermächtigt mich, Tora in der Öffentlichkeit zu verbreiten, also Wissenschaft des Geistes sowie Ehrfurcht vor Gott innerhalb meiner Gemeinde zu verbreiten, was ich seit fast vier Jahren in Deutschland tue.

Seit August 1995 bin ich als Gemeinderabbiner für die jüdischen Gemeinden Oldenburg und Braunschweig, seit August 1997 auch für die neugegründete Gemeinde Delmenhorst zuständig. In den ersten drei Jahren unterrichtete ich auch noch rabbinische Literatur an der Universität Oldenburg.Die Tora schreibt uns vor, daß von einem neugepflanzten Baum in den ersten drei Jahren nichts geerntet werden darf. Die Ernte des vierten Jahres gehört den Priestern, und erst im fünften Jahr darf der Baum regulär genutzt werden. Unsere Gemeinde-Bäume sind weit davon entfernt, ausgewachsen zu sein. An der Schwelle meines fünften Jahres im Rabbinat stelle ich jedoch mit großer Befriedigung fest, daß sie viele Früchte tragen, mehr und mehr, manche zwar noch etwas klein und sauer, aber durchaus auf dem Weg zur Reife. Niemand hätte erwartet, am wenigsten wir selber, daß wir bereits nach vier Jahren regulär ernten würden. Unsere Widersacher von nah und fern stellen dies inzwischen mit einigem Neid fest, worüber wir manchmal schmunzeln.Als ich mein Amt antrat, wurde ich während Wochen in den Medien herumgeschleppt: als erste Rabbinerin Deutschlands nach der Schoa, als erste Rabbinerin überhaupt, als erste Schweizer Rabbinerin, etc. Ich möchte hier festhalten, daß ich an solchen Trophäen weder interessiert war noch bin. Gegner aus unseren eigenen Reihen stellten mich als Monster dar, das sich schamlos der jüdischen Tradition bemächtigt, und diese somit dem Ausverkauf preisgibt. Mir wurde vorgeworfen, nie auf dem direkten Weg, sondern immer aus dem fiesen Hinterhalt oder über die Medien zu agieren, ich und meine Gemeindepräsidentinnen würden nicht nur das Judentum verwässern, sondern ihm auch bleibenden Schaden zufügen.

Wir begannen in Oldenburg und Braunschweig mit unserer Aufbauarbeit, auch wenn der Wind bisweilen scharf blies. Die Resultate dürfen sich sehen lassen. Ja, inzwischen ist es sogar so, daß uns manche Kreise regelrecht hofieren, obschon mir andererseits erst kürzlich nachgesagt wurde, ich sei ja wohl der Ansicht, daß ich noch lange die einzige Rabbinerin in Deutschland sein würde. Da höre ich dann plötzlich aus der Gerüchteküche, daß manche, die vergeblich versucht haben mich zu instrumentalisieren, sich darüber mockieren, daß „die Wyler so strikt“ sei. Es gibt in Deutschland gar schon einen Stellenmarkt für mich und weitere Kolleginnen – damit hätte ich am wenigsten gerechnet.Ich möchte Ihnen nun Einblick in meine Aufgaben als Gemeinderabbiner geben, indem ich Ihnen etwas über meine Arbeit in den Gemeinden berichte. Nehmen Sie unsere Schwierigkeiten zur Kenntnis und freuen Sie sich mit uns über unsere Erfolgsgeschichten.

Wie bereits erwähnt, amtiere ich als Rabbiner der drei jüdischen Gemeinden in Oldenburg, Braunschweig und Delmenhorst, alle in Niedersachsen, im Nordwesten der BRD. Braunschweig, 1957 gegründet, ist die älteste, gefolgt von Oldenburg, welche 1992 neugegründet wurde, und die jüngste ist Delmenhorst, jetzt im zweiten Jahr ihrer Existenz. Die drei Gemeinden haben insgesamt etwas über 500 Mitglieder, alle drei Gemeinden sind Mitglieder des Zentralrates der Juden in Deutschland, verkörpern also die vielgeschmähte Einheitsgemeinde. Doch darüber später noch etwas mehr. Von Oldenburg nach Braunschweig fährt man mit der Bahn fast drei Stunden, Delmenhorst ist nicht weit, und wenn Sie Exotisches aus meinem Rabbinat erwarten, so ist dies wahrscheinlich das Exotischste, was ich Ihnen bieten kann, daß ich nämlich in Oldenburg auf meinem Dienstrad von Ort zu Ort, von Haus zu Haus fahre: der Rabbiner auf dem Fahrrad.Das Folgende gilt hauptsächlich für Oldenburg, doch ist die Situation in den beiden anderen Gemeinden nicht wesentlich anders. Wir haben keine Sekretärin, wir haben keine ausgebildeten Lehrer, wir haben kein jüdisches Bestattungsinstitut – es gibt viel Do-it-yourself. Wir sind Weltmeister im Improvisieren, und meine Anstellung ist mit 75% eine Teilzeitstelle. Mit solcherart limitierten Möglichkeiten müssen wir Prioritäten setzen, immer und täglich neu. So haben wir vor vier Jahren begonnen: Talmud Tora für Erwachsene und Kinder jede Woche, Schabbat Gottesdienste mit Kabbalat Schabbat und vollem Schabbatmorgen-Programm einmal monatlich. Inzwischen haben acht Mitglieder gelernt aus der Tora vorzulesen, einschließlich vier Bne Mitzwa, die inzwischen auch mehr oder weniger regelmäßige Lejner (Toraleser) sind. Eine beachtliche Anzahl Mitglieder haben Teile der Gottesdienste so gelernt, daß sie als Vorbeter diese Gottesdienste kompetent leiten können. Der Rabbiner muß für die Durchführung gepflegter Gottesdienste nicht mehr unbedingt anwesend sein, denn für jedes Gebetsteil haben wir drei Mitglieder, die es vorbeten können. Vor diesem Hintergrund konnten wir in Oldenburg die Schabbatgottesdienste verdoppeln, d.h. wir treffen uns seit eineinhalb Jahren vierzehntäglich. Braunschweig bleibt vorderhand bei einmal monatlich. Und in Delmenhorst findet wöchentlich Kabbalat Schabbat statt, ein Schabbatmorgen-Gottesdienst jedoch nicht regelmäßig, doch wird sich dies nach der Einweihung der neuen Synagoge Ende dieses Monats bald ändern.

Ein Wort zu den Lernmethoden: Natürlich ist ein persönlicher Lehrer nicht zu ersetzen, dies gilt besonders für Toralernen, und ich bedaure es jedesmal, wenn die nicht vorhandene Zeit mich dazu zwingt, einen Lernwilligen auf später zu vertrösten. Moderne didaktische Mittel wie Tonbandkassetten und Computer haben hier wesentlich zum Erfolg in meinen Gemeinden beigesteuert. Gültig und von uns deswegen auch häufig eingesetzt ist die Erfahrung, daß jeder, der selbst etwas gelernt hat, der ideale Lehrer ist, es dem nächsten weiterzugeben. Manchmal greifen wir auch zu Methoden, die für viele Traditionalisten ein Greuel wären. Ein Junge, der sehr schön singen kann, schlug mir kurz nach seiner Bar Mitzwa vor, das ganze Schacharitgebet (Morgengebet) in lateinische Buchstaben zu transliterieren, so daß er bald vorbeten könnte. Ich erlaubte dies unter der Bedingung, daß er es selber ausführte; damit wollte ich sicher gehen, daß er zumindest beim Akt des Transliterierens Hebräisch lesen würde. Nach dem vierten Mal Vorbeten kam er zu mir und sagte ganz stolz, er hätte sich jetzt von seinen „Krücken“ emanzipiert und könne aus dem Siddur vorbeten. Für die Toravorlesung habe ich einen Farbcode entwickelt, und manche meiner Lejner bitten mich plötzlich, ihnen am Telefon eine „hellblaue Familie“ vorzusingen.

Gottesdienste an den Feiertagen sind etwas schwieriger zu bewältigen, da sie ja in allen Gemeinden gleichzeitig stattfinden. Für die Hohen Feiertage mußte ich zu sehr kreativen Lösungen greifen, da wir keine Machsorim (Feiertagsgebetsbücher) besitzen. Ich stellte eine Broschüre als Ergänzung zu unserem regulären Siddur zusammen, die bewältigbare Mengen an Liturgie enthält. Aus naheliegenden Gründen gibt es diese Broschüre in zwei Ausgaben, nämlich mit deutscher und russischer Übersetzung. Eines unserer Mitglieder, inzwischen in Ausbildung zum Rabbiner, leitete im vergangenen Jahr die Gottesdienste in Braunschweig. Zwei weitere Mitglieder aus Oldenburg leiteten stark abgekürzte Gottesdienste in Delmenhorst. Und in Oldenburg lernten mehrere Mitglieder kleinere Teile der umfangreichen Liturgie. Es war viel Bewegung auf der Bima (Vorbeterpult), doch haben wir es ganz allein bewältigt, wobei mich besonders die heilige Atmosphäre beeindruckte.Alter und Geschlecht stellen keine Hindernisse dar in unseren Gemeinden, wenn es ums Vorbeten geht. Die Großmutter, die zu ihrem 60. Geburtstag lejnen lernt, ist genauso willkommen, wie der Bar Mitzwa, der zu Jom Kippur eine kurze Dewar Tora (Textauslegung) halten möchte. In der Tat liegt der Schwerpunkt in meinem Rabbinat auf Talmud Tora. Es liegt mir sehr am Herzen, daß wir nicht nur unsere Tradition zur Kenntnis nehmen, sondern uns mit ihr auseinandersetzen, mit ihr ringen und dabei lernen, ein modernes Leben nach jüdischen Vorstellungen zu leben. Wir haben regelmäßig zwanzig und mehr Teilnehmer an unseren wöchentlichen Toralernabenden – ja, in Oldenburg ist der Mittwoch fast so heilig wie der Schabbat.

Anfragen und Vorschläge für zusätzliche Programme kommen jetzt aus den Reihen unserer Mitglieder. Wir stellen auch Informationsblätter zu den verschiedensten Themen zusammen, wie beispielsweise „Mesusa“ oder „Schabbat zu Hause“. Unsere Kinder wissen inzwischen, daß sie am Schabbat ein Recht auf einen Segen haben, und es ist auch schon vorgekommen, daß mich ein Kind bat, bei der Überzeugung der Eltern zu helfen, daß diese doch endlich diesen Segen lernen sollten. Wir haben es geschafft, wenn unsere Mitglieder ihr Judentum als etwas Selbständiges, und nicht als etwas Aufgesetztes erleben, wenn sie ihr eigenes Judentum auskundschaften und ausprobieren, wenn sie daran Gefallen finden, daß die Tradition einen festen Platz in ihren Herzen und ihren Häusern bekommt. Ich bin besonders davon beeindruckt und berührt, wie meine Gemeindemitglieder nicht mehr von der Tora sondern von meiner Tora oder unserer Tora sprechen.Wer immer eine neue Prise Tora gelernt hat, wird ermutigt, sie mit jemandem zu teilen, der sie noch nicht kennt. Es kommt in unseren Gemeinden vor, daß eine Zweitklässlerin ihrem Vater Hebräisch lesen beibringt, oder daß ein älteres Mitglied sich plötzlich an eine längst vergessene Melodie erinnert, die wir dann gemeinsam lernen, wobei andere plötzlich an Schawuot-Lernen den Kindern den Vortritt lassen, wenn sie als Lehrer den Erwachsenen etwas von ihrer Tora beibringen wollen. Daß das Schawuot-Lernen hauptsächlich von den Mitgliedern und nicht vom Rabbiner bestritten wird, ist normal. Und in diesem Jahr werden wir sogar erstmals versuchen, die ganze Nacht durchzulernen, Schacharit beginnt morgens um halb fünf.

Den Pessachseder haben wir „privatisiert“, weil die Erfahrungen mit dem Gemeindeseder unbefriedigend waren. Stattdessen bieten wir jeweils vor Pessach einen Workshop aus vier Abenden an, wo wir die Teilnehmer anleiten, wie sie Pessach zu Hause feiern können; eingeschlossen sind Notenblätter, eine Kassette mit den Liedern, sowie ein Blatt mit Rezepten. Nur noch die Bestellung von Mazzen und koscherem Wein erfolgt über die Gemeinde. In diesem Jahr haben mindestens ein Dutzend, zum Teil große, Sedarim in Oldenburg stattgefunden. Wir erreichen damit, daß das Judentum nicht nur in der Synagoge und im Gemeindezentrum stattfindet, sondern dezentralisiert in den privaten Haushalten.Wir regen immer wieder an, daß die Mitglieder Fragen stellen, wenn sie etwas genauer wissen möchten. So ist kürzlich aus der mehrfachen Wiederholung der Frage nach Jahrzeit unser neuestes Merkblatt „Kaddisch, Jahrzeit und andere Trauerrituale“ entstanden, von dem es auch eine russische Version gibt. Es ist selbstverständlich, daß alle Gemeinden eine Chewra Kaddischa für Männer und Frauen haben, die sich bei Todesfällen um alles einschließlich der Tahara (Leichenwaschung) und der Levaja (Begräbnis) kümmert.

Die Oldenburger Gemeinde gründete sich vor knapp sieben Jahren mit 34 Mitgliedern, heute haben wir gegen 200. Die meisten sind Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die von ihren jüdischen Traditionen weitgehend entfremdet waren. Wir sind also eine Gemeinde von fast ausschließlich wahren Anfängern. Wir kümmern uns im Rahmen unserer Möglichkeiten um die Neuankömmlinge in den Heimen, indem wir ihnen u.a. den Gottesdienstbesuch am Schabbat ermöglichen. Manche von ihnen ziehen nach Oldenburg, Braunschweig und Delmenhorst, wo sie Gemeindemitglieder werden können, sobald wir ihren halachischen (religionsgesetzlichen) Status abgeklärt haben. Von manchen wünschen wir uns, daß wir sie etwas häufiger in der Gemeinde sehen würden, manche kommen regelmäßig, sobald ihre Deutschkenntnisse so sind, daß sie etwas verstehen. Und manchmal führt die Begegnung auch zu unvergeßlichen Situationen, wie der folgenden: Anhand des Tischgebetes versuchte ich das Konzept „Erez Israel als Erbschaft“ zu erklären. Als ich fragte, von wem wir das Land erhalten hätten, schlug einer der Neuen prompt vor „von der UNO“. Ich brachte sanft Gott ins Gespräch, doch da argumentierte er schnell: „Sie haben das Land vielleicht von Gott bekommen, wir sind Atheisten, wir haben es von der UNO.“

Unser wunderschönes Gemeindezentrum ist bereits zu klein. Nach erfolgreichen Verhandlungen mit der Stadt Oldenburg haben wir mit der Planung der Vergrößerung begonnen. Wir planen auch den Einbau einer Mikwe (rituelles Bad), da die kleinen Seen in der Umgebung von Oldenburg nur während einiger kurzer Sommermonate benutzt werden können. Der Bedarf nach einer eigenen Mikwe ist da, denn wir haben eine ganze Menge junger Paare und Familien, die wir anregen, ihr Eheleben in einen jüdischen Rahmen zu bringen; außerdem ist die Anzahl an interreligiösen Familien in unseren Gemeinden noch sehr hoch.Ich erhalte viele Einladungen in andere Kleingemeinden in ganz Deutschland, die keine eigenen Lehrer, Rabbiner oder Kantoren haben. Es übersteigt meine Möglichkeiten, diese Bedürfnisse alle zu befriedigen. Deshalb veranstalten wir einmal im Jahr ein Wochenendseminar, wo Mitglieder aus anderen Gemeinden zu uns kommen und von uns lernen. Die Tora enthält keine Geheimnisse, die wir anderen interessierten Juden vorenthalten wollen. Wer von uns lernen möchte, wie man Tora lernt oder wie man Schabbatgottesdienste aufbaut, kann sich dies bei uns holen. Dabei wenden wir uns an Laien, die das Gelernte möglichst bald in ihren Gemeinden anwenden möchten.

Als Nebenprodukt dieser Seminare ergibt sich natürlich ein Netzwerk von Beziehungen und Bekanntschaften, die das Gefühl der Insularität schnell vergessen machen.Auch aus großen Gemeinden kommen inzwischen Teilnehmer zu unseren Seminaren, weil sie mit und von uns lernen wollen. Darüber freuen wir uns sehr. Rabbiner Leo Trepp aus Californien, der frühere Landesrabbiner von Oldenburg von vor dem Krieg, sagt in Abwandlung eines Jesaja-Verses lächelnd: Von Oldenburg aus verbreitet sich die Tora.Und mit der Erwähnung seines Namens, komme ich langsam zum Schluß. Ich möchte Ihnen von einem der aufregendsten Tage in meinem Rabbinat berichten. Am 2. Juli 1997 berief ich ein Bet Din leGiur (Rabbinergericht für Übertritte) nach Oldenburg ein, weil wir zehn Kandidaten, fünf Erwachsene und fünf Kinder, für den Eintritt ins Judentum prüfen wollten. Wir flogen zwei meiner Kollegen aus Israel ein, damit ein gültiges Bet Din gebildet werden konnte. Und für Rabbiner Leo Trepp, der als Aw Bet Din (Vorsitzender) fungierte, schloß sich der Kreis der Geschichte. Zwischen seinem letzten und unserem Bet Din waren 59 Jahre vergangen, 59 Jahre jüdischer Geschichte in Deutschland, voller Horror gefolgt von einem langdauerndem Vakuum, doch auch mit einigen Wundern. Nach Inhaftierung im Konzentrationslager Sachsenhausen, hatte er Nazi-Deutschland 1938 als Flüchtling verlassen, jetzt war er wieder hier, um Juden zu machen.

Als ich zu dieser Tagung eingeladen wurde, baten mich die Organisatorinnen über meine Erfahrung als Frau im Rabbinat zu berichten. Ich glaube nicht, daß meine hier geschilderten Erfahrungen so grundlegend anders sind als diejenigen meiner männlichen Kollegen. Es stimmt, daß ich nicht Mitglied der Deutschen Rabbinerkonferenz bin, das liegt aber auch daran, daß ich mich um meine Mitgliedschaft in diesem erlauchten Gemium nicht weiter gekümmert habe.Dem stehen gute, kollegiale Arbeitsbeziehungen mit mehreren Rabbinern der verschiedenen Strömungen gegenüber, und selbst der Sprecher der Rabbinerkonferenz gibt mit seinen notorischen Leserbriefen in der „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung“ zu erkennen, daß er mich eigentlich ganz ernsthaft zur Kenntnis genommen hat. Ich meine, daß meine zum Teil frustrierenden und von Feindseligkeit geprägten Erfahrungen im Rabbinat mit meinem Geschlecht wenig zu tun haben, sondern weitgehend die Erfahrungen sind, die man als Rabbiner in einer Gemeinschaft macht, die sich nach einer unermeßlichen Katastrophe im Wiederaufbau befindet. Ich bin der Ansicht, daß wir Juden heute durchaus zu vergleichen sind mit der frührabbinischen Gemeinde in Erez Israel nach der Zerstörung des Tempels, die nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes zwei volle Generationen brauchte, bis sie sich durch die Endredaktion der Mischna zumindest in groben Zügen als neu definiert wiederfand.

Wir sind daran, uns neu zu definieren. Es liegt auf der Hand, daß es progressivere und konservativere Formen der Neuorientierung gibt. Die Gefahr liegt nicht in der Vielfalt, sondern in der Sprachlosigkeit zwischen den Strömungen, die sich eingeschlichen hat. Und gerade in diesem Bereich hat die Einheitsgemeinde eine enorm wichtige Aufgabe: Als politische Organisation muß es der Dachorganisation erstes und oberstes Anliegen sein, die Einheit von Klal Jisrael (Gesamtheit des Volkes) zu garantieren. Eine enge Definition für Mitgliedschaftstauglichkeit führt dazu, daß sich zu viele nicht wiederfinden und sich deshalb außerhalb der Struktur selbständig machen. Nur eine großzügige Definition, die das Gemeinsame betont, das möglicherweise an einem kleinen Ort ist, wird Klal Jisrael erhalten können. Gleichschaltung ist kontraproduktiv, Pluralismus bietet die einzige Chance der Selbsterhaltung.Die gefährliche Sprachlosigkeit zwischen den verschiedenen Strömungen betrifft nicht nur Deutschland, sondern die Judenheit in der ganzen Welt, allem voran in Israel. Hierzulande kommt erschwerend dazu, daß die neue Selbstfindung der jüdischen Gemeinde mit den Umwälzungen in Deutschland selber durch den Fall der Mauer sowie der allmählichen Vereinigung Europas zusammenfällt. Dieser ganze Prozeß ist jedoch so spannend, daß ich gerne zugebe, daß ich unter anderem hier bin, weil es hier spannend ist. Ich möchte meinen Beitrag an Tikun Olam (Vervollkommnung der Welt als Partner Gottes) hier erbringen, weil ich für die jüdische Tradition in Europa und insbesondere in Deutschland nicht nur eine Zukunft sehe, sondern ich möchte diese auch gerne mitgestalten. Mit meiner Anwesenheit als Jüdin in Deutschland – und als Rabbiner bin ich natürlich „Berufsjüdin“ – sehe ich meinen Beitrag nicht nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, sondern ebenso wichtig auch in einem neuen, multikulturellen und hoffentlich friedfertigen Europa.Nun möchten Sie zum Schluß sicher wissen, wie die Episode vom Anfang meiner Ausführungen mein Rabbinat charakterisiert.

Es ist hoffentlich deutlich geworden,daß ich nur einen kleinen Teil meiner Aufgaben wirklich erfüllen kann. Auch habe ich über manche Aufgabe hier gar nicht gesprochen, weil sie eben nicht erste Priorität hat; als Beispiel möchte ich hier den interreligiösen Dialog anführen. Die wichtigste Eigenschaft in meinem Rabbinat ist nicht die umfassende Kenntnis unserer Tradition, sondern ein Gespür dafür zu entwickeln, die Prioritäten richtig zu setzen. Manches, das dringend ist, ist beim genaueren Hinsehen doch nicht so dringend, und manches, das viel Zeit erfordern würde, wird machbar, wenn ich nicht persönlich anwesend sein muß – so kommen die Krankenbesuche per Telefon zustande. Ich ringe immer wieder neu mit der Logistik in meinem Rabbinat, und finde mich manchmal nur sehr schlecht damit ab, daß ich nicht an zwei oder gar drei Orten gleichzeitig sein kann.Die Episode ist aber noch aus einem ganz anderen Grund charakteristisch für mein Rabbinat. Die beiden Kranken sind nicht gewöhnliche Kranke, sondern Frischoperierte, die sich ihrer Brit Mila (Beschneidung) unterzogen haben. Sie wurde von unserem eigenen Mohel durchgeführt. Als Chirurg weiß er, was medizinisch zu tun ist, ich habe ihn, zusammen mit einem erfahrenen Mohel, mit den religiösen Inhalten ausgerüstet. Und wir sind als jüdische Gemeinde wieder ein Stückchen unabhängiger geworden, denn wir wollen unser Judentum als etwas Selbstverständliches leben. An der Schwelle meines fünften Jahres im Rabbinat haben wir in der Tat angefangen zu ernten. Und meinen beiden Kranken wünsche ich von Herzen schnelle und vollständige Genesung.

Oldenburg/Berlin, 13. Mai 1999

Bea Wyler wuchs in der Schweiz auf. Nach einer Karriere als Agronomin und Journalistin entschloß sie sich zu einem Rabbinatsstudium. 1995 wurde sie am Jewish Theological Seminary in New York ordiniert.

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