Mystische Aspekte im
Judentum
Aus der Geschichte der
jüdischen Literatur:
Kabbala
Teil 3
Die Schüler des Jehuda haChasid
El'asar Ben Jehudah
Von den Schülern
Jehudas, des Chasid, ist in erster Reihe Eleasar b. Jehuda, der
Hauptvertreter jenes mystischen Chasidismus in Worms
(1160—1237), zu nennen. Bekannt ist er unter dem Namen seines
halachisch ethischen Werkes Rokeach. Er war Talmudist und
Mystiker, Bußdichter und moralischer Autor, studierte Astronomie
und schrieb Kommentare zu biblischen Büchern, zu den Gebeten und
zu dem unvermeidlichen
Sepher Jezira.
Ihm waren jedoch die hervorragenden Denker der
spanisch-arabischen Schule, wie Saadja, Ibn Esra u. a. nicht
fremd. In seinen Werken, die sich fast über alle Wissensgebiete
erstrecken, mischen sich Engellehre und Midrasch, Philosophie
und Kabbala, Aberglaube und Ethik bunt durcheinander.
Dagegen sind seine Bußlieder — etwa
sechzig an der Zahl — einfach und schlicht, ohne alle mystische Zutaten. Als
seine bekannten Hauptwerke gelten der Rokeach (Der Apotheker, nach dem
Zahlenwert seines Namens), sowie eine Schrift gegen die jüdischen
Anthropomorphisten Sch'arej haSod, haJichud vehaEmunah (Pforten des
Geheimnisses der Einheit und des Glaubens), in der die Geistigkeit des
Gottesbegriffes, nach Saadja's Auffassung, scharf betont und der Glaube jener,
welche die Haggada buchstäblich nehmen, verleugnet wird. Zu einer klaren
Stellung dieser Haggada gegenüber kann freilich auch er nicht gelangen. Und
seine Vorstellungen von dem himmlischen Gottesthron mit seinen Engelsscharen
stehen kaum auf der Höhe der damaligen jüdisch-philosophischen Schule Spaniens.
Er füllt die ganze Welt mit Engeln, gibt jedem Menschen einen Schutzengel oder
Schicksalsengel und sucht in dem Wort der Schrift einen versteckten "inneren
Sinn", welcher den phantastischen Gespinnsten der Zeit natürlich freien
Spielraum eröffnet.
Seine wissenschaftliche Anschauung vom
Weltgebäude stützt sich auf die Kosmogenie der Baraitha Eleasar's, die mit der
Buchstaben- und Zahlenexegese zu einer abenteuerlichen Kosmographie ausgebildet
wird. Ueberdies erscheint wohl er als der erste, der die mystische
Zahlenspielerei in seinem großen Werk Sode Raze über die Geheimnisse der
Kabbala, in ihrem äußersten Umfang zur Anwendung bringt, nämlich: die Buchstaben
der Gottesnamen und Schriftverse zu versetzen, sie in Zahlzeichen zu übertragen
oder als Abkürzungen bedeutungsvoller Wörter zu behandeln (Ziruph, Gematria,
Notarikon), ein Spiel, das die spätere Kabbala stark für ihre Zwecke
ausgebeutet hat.
Was ihn aber wiederum über
viele Zeitgenossen erhebt, ist seine ethische Weltanschauung.
Die Liebe zu Gott und die Demut sind die Leitsterne seines
Lebens, die Liebe zu dem Menschen und die Tugend sind seine
höchsten Ideale. Alle Tugenden aber: Demut und Frömmigkeit, Buße
und Keuschheit, Redlichkeit und Treue, sind ihm nur
Ausstrahlungen des Gottesbewußtseins, die er nach einem edlen
Muster, nach Bachja's "Herzenspflichten", in allen seinen
Schriften anpreist und als Ideale reiner Gesinnung vorführt.
Zu anderen Zeiten und in
günstigeren Verhältnissen hätte dieser Mann unzweifelhaft eine
außerordentliche Wirksamkeit entfalten und Bedeutendes schaffen
können. Sein Einfluss auf die Zeitgenossen war ein nicht
gewöhnlicher, und seine Richtung wurde von minderbegabten, aber
gleich eifrigen Schülern Eleasar's im Sinne des Meisters
fortgebildet.
Einer dieser Jünger,
Menachem aus Aquileja, hat vielleicht die Verbindung zwischen
der deutschen Mystik und der spanisch-provencalischen Kabbala
durch verschiedene seiner Schriften hergestellt, vornehmlich
wohl durch einen Kommentar zu den zehn Sephiroth und durch ein
dieselbe Materie erörterndes Werk Kether Schem tow (Die
Krone des guten Namens).
Gegner der Chassidej
Aschkenas
Indes huldigten nicht alle
Schüler Jehuda des Frommen und Eleasar's b. Jakob, die man als
die Väter der deutschen Mystik ansehen kann, der in ihren
Schriften vorgezeichneten Bahn. Ja es scheint, daß schon den
jüngeren Zeitgenossen und Schülern eine Ahnung der Gefahr
aufgestiegen sei, die diese Gottessehnsucht und Demut in ihrer
verhüllten Opposition gegen die traditionelle Lehre
heraufbeschwören könnte. Zum mindesten einer derselben, Mose Ben
Chisdaj aus Tachau, daher auch Moshe Taku, von dem außer
Gutachten, Talmudkommentaren und rituellen Erläuterungen auch
eine Schrift über religionsphilosophische Fragen erschienen ist,
polemisiert entschieden gegen die Richtung Jehuda's, freilich
ebenso scharf gegen die Vertreter der Philosophie, gegen Saadja,
Maimuni, Ibn Esra. Er will die haggadischen Aussprüche über Gott
buchstäblich aufrecht erhalten, verwirft aber nichtsdestoweniger
die mystischen Schriften mit ihrem groben Anthropomorphismus,
die er, als von den Karäern untergeschoben und eingeschmuggelt
erklärt.
Mose Taku scheint also die
dritte Richtung innerhalb des damaligen Judentums, die der
Halacha, im Gegensatz zur Philosophie und Mystik repräsentiert
zu haben. Und in der Tat wird er auf halachischem Gebiet als
Autorität zitiert und um Rechtsbescheide angegangen.
Seine Kenntnis der karäischen Schriften
verdankt er zweifellos einem älteren Zeitgenossen, Petachja Ben J'akow aus
Regensburg, der als Reiseschriftsteller bekannt geworden, und dessen Berichte
von seinem Landsmann Jehuda ha-Chasid geordnet wurden. Sie führen jetzt den
Titel Siwuw schel Rabi Petachjah (Reise des Rabbi Petachja) und schildern
die von diesem von Prag aus etwa um 1170-1180 unternommene Reise, die ihn über
Polen und Ruß land, die Tartarei, die Länder der Turkmenen nach dem Orient und
von dort aus über Griechenland nach Böhmen zurückführte. Seine Reisenotizen
entbehren nicht allgemeinen Interesses, wenn sie auch denen Benjamin's von
Tudela nachstehen, wie etwa ein damaliger deutscher Jude einem spanischen. Aber
wie diese sind sie auch in verschiedenen Uebersetzungen verbreitet.
Die halachische und
talmudistische Richtung erlangte schließlich aber in jenem
Zeitalter, der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, in
Deutschland und Oesterreich doch das Uebergewicht. Scharfsinnige
und gelehrte Forscher machten sie zur herrschenden innerhalb der
deutschen Judenschaft, und sowohl der einseitige Rationalismus
wie die Gefühlsschwärmerei traten vor dem ernsten
Gesetzesstudium in den Hintergrund, das von Männern, wie Meir
aus Rothenburg und dessen Lehrer Isaak b. Mose aus Wien (ca.
1250) zu ansehnlicher Höhe erhoben wurde.
Der letztere -
gemeinhin nach seinem Hauptwerk Or saruah (Das ausgesäte Licht) genannt -
war ein Schüler des Jehuda Sir Leon in Paris und scheint dessen thosaphistische
Lehrweise nach Deutschland übertragen zu haben. Sein Werk, das erst in neuerer
Zeit vollständig erschienen, erläutert den Talmud nach der Reihe seiner
Ordnungen so, daß der Inhalt zu selbständigen Abschnitten der einzelnen Materien
— Halachoth — verarbeitet worden, ohne sich jedoch an die Reihenfolge des
Talmuds selbst zu halten. Für die Geschichte der Auffassung und Behandlung
vieler in jene Gebiete des Talmuds fallenden Gegenstände ist das Werk von großer
Bedeutung.
Aus dem Kapitel
"Kabbala",
dem II. Kapitel des II. Bandes der
"Geschichte der jüdischen Literatur"
von Gustav Karpeles
Erschienen im Verlag
M.Poppelauer
Berlin, 2. Aufl. 1909 p57ff
Zum Inhaltsverzeichnis: Jahaduth
Zum Inhaltsverzeichnis: haGalil onLine
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