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Koscher leben...
Jüdische Weisheit
 
 



Toby Axelrod
Schwarz-weiß und farbig

[English] [French] [German]

Als wir an seinem Haus ankamen, saß Zede, der Vater meines Vaters, gewöhnlich in seinem metallenem Schaukelstuhl. Sein Talmud aus Vilnius war aufgeschlagen auf dem Waschbrett, das über den Lehnen seines Schaukelstuhls lag. Er schaute auf und lächelte, sobald er unseren Kombi hörte, der die Schotterstraße zu Zedes baufälligem Haus in Great Barrington, Massachusetts, hinauf knirschte. Dann erhob er sich aus seinem Stuhl mit einem fröhlichen Grunzen, führte uns in die Küche und reichte uns kleine "eppis", wie einen Kaffee oder ein Stück Kuchen. Für gewöhnlich blieben wir eine Weile, unterhielten uns und fuhren dann zu Großvater und Großmutter, den Eltern meiner Mutter.

Großvater und Großmutter lebten ein paar Meilen außerhalb der Stadt in einem alten Farmhaus an einem Hang. Als wir ankamen, war Großvater gewöhnlich im Gemüsegarten, kniete auf einem Bein, pflückte grüne Bohnen von ihren Stielen und sammelte sie in einer Schüssel. Großmutter, die eine weiße Schürze über ihrem geblümten Kleid trug, hängte frische Wäsche auf die Leine. Ein weites Feld von Thymian und wildwachsenden Blumen zog sich hoch bis an den Wald. Nanu, nanu! sagte Großvater als ob er überrascht wäre, uns zu sehen. Großmutter vergaß immer, daß wir Mückencreme aufgetragen hatten und küßte und knabberte an unseren Ohren, bis sie den bitteren Geschmack spürte.

Eigentlich sollte ich glücklich gewesen sein, beide Großelternpaare in einer Stadt zu haben. Alle anderen hatte bestenfalls einen Teil in Florida und den anderen in Brooklyn. Als Kind dachte ich, wir wären eine große Familie. Deshalb war es ein Schock für mich mitzubekommen, daß die beiden Großelternpaare sich nicht verstanden.

Tatsächlich unterschieden sie sich stark. Zede, schon 1961 Witwer, war Rabbi mit einer eigenen Synagoge [Shul]. Die anderen, Mutters Eltern, suchten die geistige Substanz in der Natur. Zede sprach niemals perfekt Englisch, Großvater und Großmutter lasen moderne Gedichte. Zede lebte in einem heruntergekom- menen Haus, Großvater und Großmutter in einem großen Haus voller Antiquitäten. Zede trug manchmal einen Morgenrock als Mantel. Großvater sagte: Du kannst einen Menschen nach seinen Schuhen beurteilen.

Zede hatte die alte Welt aus Polen mitgebracht und versuchte, eine Schtetl- Atmosphäre in einer Stadt in Massachussetts herzustellen. Er kam 1925 nach Amerika, und Bubbe [jidd.: Großmutter] war 1927 mit meinem Vater hierher gezogen. Später kamen Eadie, Rosie und Duddy. Ihr Leben war arm an materiellen Annehmlichkeiten, aber reich an geistiger Nahrung.

Der Vater meiner Mutter kam auch aus dem Alten Land: aus Litauen. Doch Großvaters Familie versuchte hart, das Alte-Welt-Stigma loszuwerden. Sie änderten ihren Familiennamen von Kerenski zu Caron. Sie überwanden ihre jiddischen Akzente. Großvater heiratete Großmama, eine geborene Cohen von New York City. Sie nannten ihre Kinder Herbert und Margaret.

Nach der gro§en Depression, die das Bekleidungsgeschäft der Caron-Brüder ruinierte, zogen die Eltern meiner Mutter von New York auf die Hügel von West Massachussets und begannen, ein Sommerlager für Kinder zu betreiben. Hier war es, wo die zwei Immigranten-Welten aufeinanderstießen. Meine Eltern lernten sich kennen, als mein Vater koscheres Fleisch für das Sommercamp von Conan und Emma Caron lieferte — eine Weile haben sie koscheres Fleisch gehabt. Die Eltern meiner Mutter waren nicht sehr religišs, doch war es eine große Schande, als eine Cousine einen Nicht-Juden heiratete. Großvater und Großmutter gingen nicht in die Synagoge. Dies ist mein Tempel sagte Großvater gewöhnlich, während er seine Arme ausstreckte, um die hügelige Landschaft zu umarmen.Auch ich fühlte, daß die Wälder und Seen etwas Heiliges darstellten.

Aber in der Stadt wohnte Gott in der kleinen Synagoge meines Zedes, wo Männer und Frauen getrennt saßen, Kinder jedoch frei herumliefen. Zede führte ein einfaches und frommes Leben: Aufwachen, den Gebetsriemen um Arm und Stirn binden, beten, dann in die Küche schlurfen und frischen Orangensaft auspressen. Matzenstücke [Farfel] mit Milch essen, eine starke Tasse Kaffee trinken und sich mit einer jiddischen Zeitung oder dem Talmud niederlassen. Seit dem Tod meiner Bubbe lebte Zede allein.

Zede erzählte großartige Geschichten über das Leben im Alten Land und alle seine Geschichten – lustig oder traurig – beinhalteten eine moralische Lektion. Richtig und falsch waren klar definiert. Alles stand schwarz auf weiß geschrieben in der Torah und im Talmud. Als einst meine Familie Zede einen Farbfernseher schenkte, nahm er diesen nicht an, indem er sagte: "Ich will ihn in schwarz und weiß, so wie Gott ihn schuf."

Zede lebte noch immer im gleichen Haus, wo mein jüngster Onkel im Jahre 1936 geboren wurde. Es war ein altes Haus im viktorianischen Stil, das bessere Tage gesehen hatte, mit einer durchhängenden Veranda und Schindeln aus Dachpappe. Charakter hatte es jedoch: ein Waschbecken im Badezimmer, das laut nieste, wenn man eingelaufenes Wasser schnell hinaus ließ, eine Kühlkammer, in der meine Tanten gewöhnlich den traditionellen Festtagskuchen unter einem Geschirrhandtuch versteckten, eine große Tankstellenuhr im Wohnzimmer mit grün und rot leuchtendem Neonrahmen, eine Speisekammer, die gelegentlich ein Stinktier beherbergte, und ein Schuppen, der wie eine Laubhütte zusammengefaltet war, deren zwei Dachhälften sich teilten wie das Rote Meer. Gegenüber dem Hof lag die kleine orthodoxe Synagoge "Ahavat Shalom", in der mein Zede seit 1927 Rabbi war.

In Zedes Haus hatten wir Schabbat und begingen die Feiertage. Das Haus der Eltern meiner Mutter war der Ort für unsere Abenteuer. Der Wald stand offen für Entdeckungen und das Haus war wie geschaffen, um sich darin zu verlaufen. Es besaß eine Wendeltreppe, die meinen Orientierungssinn durcheinander brachte, so daß ich niemals wußte, welcher Raum eigentlich direkt unter mir lag.

Als ich fünf wurde, verkauften Mutters Eltern ihr Lager am See. Wenn jedoch alle Cousins und Cousinen zu Besuch kamen, entstand eine campartige Atmosphäre mit lauten, aber gesitteten Mahlzeiten, Chorgesängen und sogar Unterhaltung: Ein Cousin spielte etwa Gitarre, ein anderer Geige, und wir sangen israelische Volkslieder.

Imitten all des Tohuwabohus erinnerte ich mich dann plötzlich, daß fünf Meilen entfernt Zede wahrscheinlich immer noch alleine saß und seinen Talmud las, außer natürlich am Schabbat, denn dann waren wir immer bei ihm. Natürlich waren wir auch an den jüdischen Feiertagen dort. Es war nur allzu gerecht, daß wir unsere Zeit zwischen den beiden Seiten der Familie teilen sollten. Je älter ich jedoch wurde, desto mehr spürte ich die Spannung zwischen beiden Seiten. Ich begann mich schuldig zu fühlen, wenn ich das eine Haus verließ, um zum anderen zu fahren. Ich wunderte mich, warum ich beide Seiten so selten zusammen sah.

Ich begann festzustellen, daßmbeide Seiten mich fragten, was ich bei den anderen gegessen hätte. Dann bemerkte ich den Ausdruck auf Zedes Gesicht, als er mich gerade wieder fragte, ob Mutters Eltern an Rosch Haschanah in die Synagoge kämen. Und ich sah, wie die Eltern meiner Mutter gönnerhaft über Zedes starken jiddischen Akzent und seine schlechte Handschrift lächelten.

Nachdem die Mutter meiner Mutter 1977 gestorben war, wohnte Großvater mit seiner neuen Freundin Fanny zusammen. Zede nahm kein Blatt vor den Mund. Fanny war in seinen Augen nicht besser als eine Prostituierte. Er selbst war niemals wieder mit einer Frau hinter verschlossenen Türen gewesen, seit Bubbe gestorben war. Zede wurde fast 90 Jahre alt. Ein paar Jahre, bevor er 1986 starb, hielt er eine Geburtstagsrede, die zufällig mit Thanksgiving zusammenfiel (als Kind dachte ich, Thanksgiving sei ein jüdischer Feiertag). Während er die Lebensabschnitte von der Kindheit bis zum hohen Alter aufzählte, schien er zu verkünden, er habe jetzt lange genug gelebt. Wir toasteten Èbis hundertzwanzig: "Du sollst leben, bis Du so alt wie Moses bist". Ich erinnerte mich an diese Szene vor ein paar Jahren als mein anderer Großvater erklärte, er sei 120. Er war allerdings erst 102, aber ich fragte mich, ob er wirklich meinte, er hätte lange genug gelebt. Als er sagte, an seinem nächsten Geburtstag würde er 130 Jahre alt, fühlte ich wirklich Erleichterung.

Großvater starb im Mai 2000 im Alter von 104 Jahren. Als ich ihn das letzte Mal im Januar sah, sprach er kaum, außer der Bitte, ihn in seinem Rollstuhl "uptown" zu schieben, als ob er wie vor 90 Jahren noch in New York City wohnte. Nachdem er gestorben war, wurde er nach Great Barrington überführt, um neben Großmutter beerdigt zu werden. Vor der Beerdigung fuhr der Leichenwagen hoch zu dem Haus auf dem Hügel, wo heute die Kinder seiner Enkel spielen.

Alle vier Großeltern liegen jetzt auf demselben Friedhof auf einem thymianbewachsenen Hügel, in dem Teil, der der jüdischen Gemeinde gehört. Wenn wir den Friedhof jedes Jahr vor Neujahr besuchen, liest mein Vater ein Erinnerungsgebet für beide Seiten der Familie. Wir ziehen Unkraut aus den auf der Erde liegenden Grabsteinen und hinterlassen ein paar kleine Steine als Andenken, daß wir hier waren.

In der Stadt, an der Stelle, wo Zedes Haus stand, ist jetzt eine Baulücke, versehen mit einem Schild "zu verkaufen". Der Fußweg aus Zement führt nirgendwo mehr hin. Teile von Dachpappe verschmutzen dasselbe Gras, in dem ich einst eine magische gelbe Murmel fand. Wenn ich meine Augen schließe, kann ich noch immer Zede sehen, wie er in seinem metallenen Schaukelstuhl saß, geschützt vor der Sonne durch ein Plastiktischtuch, das über zwei parallelen Wäscheleinen gespannt war. Er winkte, während wir fortfuhren, bis keiner den anderen mehr sehen konnte.

Übersetzung aus dem Englischen: Markus Mathyl

Toby Axelrod, Deutschlandkorrespondentin für die Jewish Telegraphic Agency und den Londoner Jewish Chronicle, wurde 1956 in New York City geboren. Von 1988 bis 1997 arbeitete sie als Journalistin für die New York Jewish Week. 1997 kam sie als Fulbright-Stipendiatin nach Deutschland und eine Dissertation über die Auseinandersetzung mit dem Holocaust von nicht-jüdischen Deutschen. Von März 2000 bis Juni 2001 war sie Assistant Director des American Jewish Committee in Berlin.

 

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Juedisches Leben in Berlin


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