

Jewish Disneyland – die Aneignung und Enteignung des
"Jüdischen"
Iris Weiss
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Pitigliano - eine Stadt im Süden der Toskana – blickt auf
eine beeindruckende jüdische Vergangenheit zurück. So betrug der jüdische
Bevölkerungsanteil zeitweise über 20 %. Heute ist die Synagoge eine
Touristenattraktion; der einzige regelmäßige Beter dort, und zwar im Tallit,
ist Katholik. Nicht nur koscherer Wein gehört zum Standardangebot für
Touristen. Noch backt die letzte Jüdin Elena Servi ihre Kekse nach altem
Familienrezept.
Bei der Vorbereitung für das Ausstellungprojekt "Paradiso@
Diaspora" mit jüdischen Künstlern aus Italien wurde der Gruppe Meshulash
deutlich: Vergleichbares gibt es auch an anderen Orten Europas. Schon Diana
Pinto hatte darauf in ihrem Essay "zu einer neuen europäisch-jüdischen
Identität" in Golem 1/1999 hingewiesen: "Die dritte und schwierigste
Herausforderung betrifft die ›jüdischen Räume‹ (Jewish spaces). Wie sollen
Juden an die in Europa entstehenden ›jüdischen Räume‹ herangehen und
intervenieren, die in steigendem Maße von Nichtjuden initiiert, bevölkert und
sogar verwaltet werden?"
Zum Beispiel Berlin: Nirgends wird der Mythos des "Jüdischen" so exzessiv
inszeniert und zelebriert wie im Umfeld der Oranienburger Straße. Im Herzen
von Ostberlin gelegen, kam dieses Viertel bis zum Fall der Mauer herunter.
Architektur aus der Vorkriegszeit – inzwischen meist restauriert – vermittelte
den Geschmack einer vergangenen Zeit und zog Besucher in großen Scharen an,
aber auch Künstler, Medienagenturen ... Ein Viertel entstand mit Galerien,
Buchläden, Edel-Boutiquen, Cafés, Clubs, Restaurants ... Die Zeit schien hier
stehen geblieben zu sein und so für viele eine Annäherung an jüdische
Geschichte wegen der hier noch sichtbaren jüdischen Orte (Synagogenruine,
ehemalige Schule, Friedhof ...) zu erleichtern.
Zunehmend tauchten auch Phänomene auf, die vorgaukelten, "jüdisch" zu sein,
was die Frage aufwirft:
Wie und wo erscheint "Jüdisches" im Stadtbild, und wer bezieht sich in welcher
Weise darauf?
Zu den "Zutaten" dieses Potpourris gehören Restaurants wie das Mendelssohn, in
dem regelmäßig Schweinefleischgerichte mit Sahnesauce serviert werden,
überfüllte Klezmerkonzerte, wechselnde Filmprogramme und Lesungen. Abgerundet
wird das Angebot von einer Vielzahl von Rundgängen. Auf Nachfrage stellt sich
häufig heraus, dass die Veranstalter keinen Juden persönlich kennen und es
auch nicht für nötig fanden, irgendeine Form jüdischen Lebens kennenzulernen.
Welche Bilder über Juden sowie jüdisches Leben werden dann weitergegeben?
Welche Klischees werden reproduziert, verstärkt und prägen alltägliche
Wahrnehmung? Ganz oben rangiert nach wie vor der "reiche Jude": Vor dem Haus
der "Ahawah", einem ehemaligen jüdischen Kinderheim, das noch einige Jahre
nach der Wiedervereinigung Standort einer öffentlichen Schule war, heißt es
bei einem Stadtrundgang: "1991 hat die jüdische Gemeinde von einem Tag auf dem
anderen die Kinder hier rausgekantet und einen lukrativen Vertrag mit einer
Werbeagentur gemacht"
Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die man so gar nicht erfinden könnte:
Auf dem Öko-Weihnachtsmarkt in der Sophienstraße spielen an einem Samstag drei
Männer in schwarzen Mänteln und Hüten mit Posaunen bekannte Weihnachtslieder.
Eine Frau meint: "Das ist aber schön, dass die Juden hier diese Lieder
spielen". Ihr Begleiter kommentiert: Das sind doch die, die sonst Klezmer
spielen".
Welches Bedürfnis steht hinter dieser Suche nach dem "Jüdischen"? Oder sind
diese "Inszenierungen" mehr eine Selbstaussage der Nichtjuden über deren
Befindlichkeit? Kritisch muss vermerkt werden, dass gelegentlich auch Juden
bei "Jewish Disneyland" mitspielen, und zwar nicht nur in Berlin.
In Italien feiert der in Bulgarien geborene und in Italien aufgewachsene
Sänger und Schauspieler Moni Ovadja große Erfolge. Er popularisiert vorwiegend
die Kultur des osteuropäischen Schtetls, die er seiner Zuhörerschaft als
authentisch jüdisch für Italien vermittelt. Er selbst, der sephardischen
Kultur zugehörig, was auch für Italien gilt, lernte überlebende osteuropäische
Juden als Erwachsener kennen. Die überwältigende Resonanz beim Publikum
korreliert mit dem real vorhandenen Vakuum. Sein Jiddisch ist verstümmelt – so
als ob ein jiddischer Muttersprachler Italienisch zu sprechen versucht: Der
Jude als Fremder, Nicht-Zugehöriger und Exot. Diana Pinto zeigt uns in diesem
Heft eine völlig anderes Bild von den größtenteils akkulturierten Juden
Italiens. Auch in Deutschland haben Kulturveranstaltungen, in denen die
Beiträge von deutsch-jüdischen Künstlern zum Kulturleben thematisiert werden,
vergleichsweise geringe Resonanz, wenn nicht gerade ein Jubiläum ansteht wie
z.B. der 100. Geburtstag des Komponisten der Dreigroschenoper, Kurt Weill.
Das Perfide an der Exotisierung von Juden ist, dass dadurch ausgeblendet wird,
wie jüdische Kultur und lokale Umweltkultur sich wechselseitig beeinflusst
haben, und welche Beiträge jüdische Kultur zur Ausformung regionaler
Kulturtraditionen – sei es Musik, Küche, Sprache etc - geleistet hat. So trägt
dieser Mechanismus – zumindest im mitteleuopäischen Raum - zur
Aufrechterhaltung des Stereotyps vom Juden als Fremden bei. Mehrmals habe ich
in den letzten Monaten nichtjüdische Deutsche unterschiedlicher Altersgruppen
nach dem Besuch des Jüdischen Museums Berlin befragt, was für sie neu gewesen
sei. Über 90 % antworteten spontan, sie hätten nicht gewusst, dass Juden schon
so lange (seit dem 4. Jahrhundert) im deutschen Sprachraum leben.
Die scheinbare Vitalität der virtuellen jüdischen Welten führt dazu, dass
Außenstehende Fiktion und Realität nur schwer oder nicht mehr unterscheiden
können. Dies ist besonders in osteuropäischen Ländern zu beobachten, in denen
vor der Schoah große jüdische Gemeinden bestanden.
Nicht nur in Prag und Kazimierz werden in "jüdischen" Cafes Lesungen gehalten,
jiddische Theaterstücke zur Aufführung gebracht oder "jüdische Küche" unters
Volk gebracht, ohne dass real ein Jude vorhanden wäre. Seit dem Erfolg des
Kinofilms "Schindlers Liste" boomen auch die Touren zu "authentischen Orten",
die in Wirklichkeit meist die Drehorte sind. Fiktion und Wirklichkeit
verschwimmen ineinander, heben sich gegenseitig auf.
Eine mentale Landschaft wird hier inszeniert, eine Art
Emotions-Historiographie betrieben, an die jeder seine Bedürfnisse,
Gefühlslagen und Projektionen herantragen kann. Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit - wenn sie nicht auf der Ebene der Identifikation mit den Opfern
stattfindet - oder Begegnung mit Juden und jüdischem Leben heute erübrigen
sich großenteils, sind möglicherweise unerwünscht, weil sie mit Ambivalenz
besetzt sind. Für große Teile der nichtjüdischen Zuhörerschaft in Deutschland
ist Klezmer oft ein Ausdruck ihrer Bemühungen, mit der Vergangenheit
klarzukommen. Die nicht-jüdischen Interpreten spielen dabei die Rolle eines
willkommenen Puffers für die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft der
Zuhörenden, mit in ihrer Umgebung lebenden Juden in Kontakt zu kommen.
Und immer wieder geistert durchs Jewish Disneyland der Topos der Heilung. Da
ist die Rede von der "heilenden Wirkung der Klezmer-Musik", um deretwillen man
solche Konzerte besuche, oder der Redakteur eines Berliner Stadtmagazins legt
der irisch-amerikanischen Entertainerin Gayle Tufts auf die Frage nach ihrem
Lieblingscafé, das von einer Amerikanerin geführt wird, die Antwort in den
Mund: "Dass es hier, in unmittelbarer Nachbarschaft zum ehemaligen jüdischen
Viertel Berlins, auch Bagels, das typische jüdische Gebäck, das man überall in
New York kaufen kann, gibt, das ist schon fast ein Zeichen von Heilung". Kurz
nach der Fertigstellung des Gebäudes des Jüdischen Museums in Berlin gab eine
der renommierten örtlichen Tageszeitungen der Hoffnung Ausdruck, das Gebäude
möge seine heilende Wirkung inmitten der Brache der Stadtlandschaft zur
Entfaltung bringen. Die Straßen rund um das Museum sind heute noch sichtbar
von den Zerstörungen des Krieges und späteren städtebaulichen
Fehlentscheidungen geprägt.
Es gab Zeiten, da kostete es Anstrengungen, an jüdischer Kultur teilhaben zu
können: Jüdische Erziehung, sei es die religiöse, historische oder säkulare
Variante war eine Voraussetzung dafür.
Jewish Disneyland ist die Instant-Light-Version, eine Art Mc Donalds. Fatal
ist nur, dass diese Mc Donalds-Variante für das 5-Sterne-Edelmenü gehalten
wird. Und leichter, als sich mit dem Siddur (Gebetbuch) auszukennen oder
Hebräisch zu lernen, um alte Texte im Orginal lesen zu können, ist es allemal.
Nach der Schoah hatten viele Juden der 2. Generation gar nicht die
Möglichkeit, sich dies anzueignen, weil diejenigen, die das hätten vermitteln
können, größtenteils ermordet oder vertrieben worden waren und die
Elterngeneration mit dem Leben nach dem Überleben kämpfen musste.
Die Mechanismen des Jewish Disneyland sind Romantisierung, Exotisierung,
Folklorisierung und Historisierung des Jüdischen. Als Folge davon wird real
Jüdisches unsichtbar (gemacht). Die Fiktionen des Jewish Disneyland werden
zunehmend zum Maßstab auch für die Medien und dessen, was dort als "jüdische
Kultur" präsentiert wird. Da können reale Juden - soweit sie noch oder wieder
vorhanden sind - oft nicht mithalten. Sie werden zur Enttäuschung.
Ein Beispiel ist auch dieses Magazin, dessen erste Nummer im Dezember 1999
erschien. Eigentlich - so möchte man meinen - müßte ein Europäisch-jüdisches
Magazin, das in der Stadt erscheint, von der einst die Vernichtung der
europäischen Juden ausging, dort eine besondere Aufmerksamkeit finden und eine
entsprechende Resonanz nach sich ziehen. Im Gegensatz zum positiven
internationalen und überregionalen Medienecho waren die Reaktionen der
Berliner Medien jedoch sehr zurückhaltend. Einen Monat vor GOLEM kam ein
türkisches Lifestyle-Magazin heraus und einen Monat später die 4.
überregionale Schwulenzeitschrift. In diesen beiden Fällen gab es keine in
Berlin erscheinende Zeitung, die nicht ausführlich darüber berichtet hätte.
Nun könnte man fragen, ob es nicht egal sei, wenn sich Nichtjuden ihre eigenen
jüdischen Welten zusammenbasteln. Muss oder soll Juden das überhaupt etwas
angehen? Sie könnten doch versuchen, das zu ignorieren. Dafür aber ist dieses
Phänomen schon zu allgegenwärtig.
Und erst die Zukunft kann deutlich machen, wie sich diese "jüdischen"
Inszenierungen auf die Befindlichkeit von Juden selber auswirken und
langfristig die Selbst- und Fremdwahrnehmung prägen werden. Einer
"Normalisierung" des Miteinanders von Juden und Nichtjuden - deren Fehlen
häufig beklagt wird - wird das Jewish Disneyland keinesfalls dienen. Solange
Juden auf Klischees reduziert werden und die Vielfältigkeit jüdischer Kulturen
nicht zur Kenntnis genommen wird, wird die Legendenbildung und
Geschichtsverfälschung weiter ihre Blüten treiben. Wer den Juden als Exoten
oder Fremden braucht, blendet aus, dass die Juden, die in der Mehrzahl aus
Deutschland deportiert wurden, eben keine osteuropäischen Juden waren, sondern
sich meist als "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens" verstanden und, weil
sie seit Jahrhunderten hier lebten, sich nicht vorstellen konnten, was auf sie
zukommen würde. Sie waren Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde, Bekannte oder
Geschäftspartner und gehörten als solche selbstverständlich zum Alltagsleben.
Eine neue Selbstverständlichkeit im Umgang miteinander wird sich jedoch nicht
entwickeln können, wenn Juden sich immer erst an den Klischees,
Fehlwahrnehnungen und Missverständnissen, die an sie herangetragen werden,
abarbeiten müssen.
Iris Weiss lebt in Berlin. Sie studierte Sozialwesen und Pädagogik und
arbeitet freiberuflich als Journalistin und in der Erwachsenenbildung. Ein
Spezialgebiet ist jüdische Geschichte und Gegenwart Berlins, wozu sie 22
Rundgänge anbietet, u.a. über "Jewish Disneyland". Ihre Internetseite (deutsch
/ englisch) ist
www.berlin-judentum.de.
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