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Rabbiner Walter Rothschild:
Kaschruth - pikant gewürzt

Mit britischem Humor will Rabbiner Walter Rothschild die jüdische Gemeinde in Berlin umkrempeln

Von Constanze v. Bullion - 08-05-99 - SZ

Ein bißchen mehr Ernsthaftigkeit hätte man schon erwarten können. Einen Hauch zumindest von der Seriosität, mit der sich geistliche Würdenträger gewöhnlich umgeben. Doch der aufgekratzte Herr, der da neben seiner Frau am Frühstückstisch sitzt und den Kindern ein Käsebrot nach dem anderen schmiert, sieht nicht aus, als brüte er über der abendlichen Predigt. Stattdessen reißt Rabbi Rothschild Witze über Monica Lewinsky. Auf englisch, und das ist vielleicht auch ganz besser. So versteht man wenigstens nicht gleich, was "to succeed", also Erfolg haben, mit "suck seed" zu tun haben könnte.

R. RotschildWer von derlei Schweinkram verschont bleiben will, wer aus dem Mund eines Rabbiners keine Anzüglichkeiten über die Affäre des US-Präsidenten hören will, kann Walter Rothschild gleich vergessen. Der neue liberale Gemeinde-rabbiner von Berlin stammt aus dem nordenglischen Bradford. Und ist mit der Sorte von britischem Humor gesegnet, der betuliche Moraldebatten wirkungsvoll ausbremst. Vor einer Weile, so geht die Legende, beendete er eine Diskussion über Sittliches und Unsittliches, indem er ein Kondom aus dem Hut zog. Seither trauen sich auch Nicht-Juden, mit dem Rabbi herumzualbern.

Das deutsche Publikum an einen zwanglosen Umgang mit Juden zu gewöhnen, mag die Lieblingsbeschäftigung von Walter Rothschild sein, die einzige ist sie nicht. Seit letztem November lebt und arbeitet er mit seiner Frau Jacqueline und drei Kindern in einer großzügigen Altbauwohnung, in der Ordnung nicht das allererste Gebot ist. Hier wird koscher gekocht und für die Schule geübt, im Arbeitszimmer laufen E-Mails aus aller Welt ein. "Mein Computer ist etwas neuer als der im Büro", sagt Rothschild und linst kokett über den Rand seiner Brille. Als dürfe er sich nicht darüber lustig machen, daß die Segnungen des Internets die Gemeinderäume noch nicht erreicht haben.

Ein echter Euphoriker ist dieser kleine Herr, den sein neuer Job oft bis nachts auf Trab hält. Zu Rothschilds Amtsbereich gehören fünf Berliner Synagogen und über 10 000 Gemeindemitglieder, die sich nicht als orthodox verstehen. Denen gibt er religiöse Leitlinien vor, verheiratet, begräbt oder verwaltet sie. Bürokratie ist keine Nebensache in Berlin, Zuwanderer aus den GUS-Staaten, aus den USA und Israel haben die Gemeinde seit der Wende aufs Doppelte anwachsen lassen.

Daß es in diesem multi-ethnischen Mikrokosmos öfter mal knirscht, ist bekannt. Ostler und Westler, Streng- oder Ungläubige müssen sich noch immer aneinander gewöhnen, doch Rabbi Rothschild scheinen solche Konflikte ganz gelegen zu kommen. "Ich finde es toll, daß Orthodoxe und Liberale in einer Gemeinde zusammenarbeiten", sagt er. "Aber es gibt viele Aufgaben, für die man früher nicht genug Muße aufgebracht hat."

Der "Neue" will ein bißchen lüften in den heiligen Hallen der jüdischen Gemeinde zu Berlin, weil er sich "nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft zuständig" fühlt. Harmlos klingt das, nach den üblichen Reförmchen und neuen Kindergärten. In Wirklichkeit versucht der 45jährige, einen überfälligen Erneuerungsprozeß anzuschieben. Er will den etablierten Berliner Juden die Gespenster von "Überfremdung" und Identitätsverlust vertreiben, aber auch über Gleichberechtigung der Frauen, über Sexualität und unverheiratete Paare reden. Alles Themen, die in der Vergangenheit weiträumig umschifft wurden.

Bis zur Abwahl des letzten Vorstandes war die Berliner Gemeinde von NS-Überlebenden und deren Kindern geprägt. Die stammten meist aus eher konservativ geprägten Traditionen Osteuropas, waren 1945 aus den Konzentrationslagern oder dem Exil zurückgekehrt – um in Berlin mißtrauisch beobachtet zu werden. "Viele der ausgewanderten Juden fanden es unmoralisch, in Deutschland zu leben", erinnert sich Joël Berger, Sprecher der deutschen Rabbinerkonferenz. "Auf internationaler Ebene haben die uns gar nicht ernst genommen."

Man blieb unter sich, schottete sich auch vom kritischen Diskurs des liberalen Nachkriegsjudentums ab, zog sich in die Wagenburg der Mahner zurück. "Hier gab es eine große Verunsicherung", weiß die Berliner Gemeindesprecherin Elisa Klapheck. "Die deutschen Juden der Vorkriegszeit waren unheimlich fortschrittlich. Aber für diejenigen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg hier niederließen, schien sich diese Fortschrittsgläubigkeit als Irrweg herausgestellt zu haben. Sie besannen sich lieber auf die gute alte Zeit."

Wenn die Bundesrepublik eine einsame Insel in der jüdischen Community der Nachkriegszeit war, dann war Berlin eine "Insel in der Insel", meint Walter Rothschild, der das Eiland nun erobern will. Die abgerissenen Fäden zum Judentum des Westens anzuknüpfen, schließt auch in seiner eigenen Familie einen Kreis. Seine Vorfahren väterlicherseits gehörten zum staatsnahen deutschen Reformjudentum, das sich im 18. Jahrhundert der Aufklärung verschrieb, sich später bei Kaiser und Reich dienstbar machte. Und sein intellektuelles Potential in die angelsächsischen Länder hinüberrettete, als Hitler gewählt wurde.

Walter Rothschilds Großvater war Landgerichtsrat in Hannover, als er 1933 im Zuge der "Arisierung" gefeuert wurde. 1939 schickte er seinen Sohn ins sichere London, blieb selbst aber mit seiner Frau in Baden-Baden. Der Großvater sei "ein bißchen in Dachau" gelandet und habe sich von "Kopfverletzungen oder so" nie mehr richtig erholt, erzählt der Rabbiner in einem betont schnoddrigen Tonfall, der nicht allzu viele Gefühle preisgibt. In England, wo er aufwuchs, hält man ohnehin wenig von öffentlichen Emotionen, über die Vergangenheit wurde "so gut wie nie gesprochen".

Er hat sich gegen das beklemmende Schweigen gewehrt. Hat Fragen gestellt, ähnlich vielleicht wie manche Kinder deutscher NS-Täter. Und läßt heute zwischen zwei lockeren Sprüchen messerscharfe Sätze los, die der älteren Generation wenig Freude bereiten dürften. "Die Leute, die die Shoah überlebt haben, waren oft die Stärkeren", heißt einer dieser Sätze. "Vielleicht haben sie überlebt, weil sie ihre Emotionen unterdrückt haben. Schwäche zu zeigen, bedeutete für sie Gefahr. Und unter dieser Haltung haben später ihre Kinder gelitten."

haRebizah J. RotschildKeine Fragen, keine Antworten, kein Loskommen. Jacqueline Rothschild hat Jahre damit zugebracht, den Mehltau auf der Familiengeschichte von sich abzustreifen. Die Ehefrau des Berliner Rabbiners, die auch beim Frühstück eine Baskenmütze trägt, erzählt, wie schwer es ihr gefallen sei, nach Berlin zu gehen: "Ich habe mir gesagt, wenn ich eine Woche ohne Alpträume überlebe, mach’ ich es", erzählt sie. Die Alpträume, die sie manchmal einholen, sind die ihres Vaters. Der hat Auschwitz überlebt und starb, als sie 16 Jahre alt war. Das Thema blieb in der Familie tabu.

Auch Kinder von NS-Verfolgten haben das Recht, sich über den verdrucksten Umgang mit der Vergangenheit zu beschweren, das haben Jacqueline und Walter Rothschild gemeinsam gelernt. Die beiden kennen sich von einem Kongreß, wo sich 1969 die Kinder von Überlebenden in Amsterdam trafen. Sie war damals Schnittmeisterin beim Film, er studierte Theologie in Cambridge und steckte mitten in seiner sechsjährigen Ausbildung am Rabbinerseminar. "Ich hatte nur zwei Adressen in der Stadt", sagt er entschuldigend, "und die andere Frau war nicht zu Hause."

Rabbi Rothschild hält sich ohne Zweifel für den größten Frauenhelden aller Zeiten, und seine Gemahlin kommentiert die endlose Serie von Herrenwitzen mit einem nachsichtigen Lächeln. Offenbar hat sie wenig Grund, sich über solche Dinge Sorgen zu machen. Eher gelassen berichtet Jacqueline Rothschild auch vom zweitliebsten Hobby ihres Mannes, Eisenbahnen aus aller Welt zu fotografieren. Immerhin ist Walter Rothschild Herausgeber des "Journal of the Railways of the Middle East", sein Freund in Berlin besitzt eine eigene Lok.

Für solche wichtigen Dinge bleibt natürlich nie genug Zeit. Bis über die Ränder schreibt der Rabbi den Terminkalender voll, während seine Frau im Alltag die klassische Mutterrolle spielt. Das war nicht immer so. Als die Familie noch im englischen Leeds lebte, half Jacqueline Rothschild jüdischen Frauen, sich auf Geburten und Beerdigungen vorzubereiten. Auch auf der Karibikinsel Aruba, wohin es die Familie verschlug, haben die beiden "als Team gearbeitet". In Berlin, schiebt sie vorsichtig nach, "geht das eben nicht".

Es ist kein Zufall, daß eine aktive Rabbinerfrau im hiesigen Gemeindeleben nicht vorgesehen ist. Anders als in den meisten westlichen Ländern sind Jüdinnen in Deutschland fast völlig von der Gottesdienstgestaltung ausgeschlossen. Vorsingen, predigen und seelsorgen bleibt – ähnlich wie in der katholischen Kirche – den Männern vorbehalten. Weil das anders werden soll, treffen sich ab 13. Mai Rabbinerinnen und Kantorinnen aus ganz Europa in Berlin, auch Jacqueline Rothschild wird bei dem Kongreß eine Zeremonie organisieren. Und es wird nur eine einzige Rabbinerin mit von der Partie sein, die ihren Beruf in Deutschland ausübt.

Daß theologisch ausgebildete Frauen sich in der Synagoge aufs Zuschauen beschränken, ist für Walter Rothschild ein Relikt von vorgestern. Auch seine Schwester ist Rabbinerin, sie wird zur Berliner Konferenz aus England anreisen. Und so vielleicht ein bißchen vom weltoffenen Geist ihrer Vorfahren in die Stadt zurückbringen. Die Gäste aus dem Westen verstehen sich dabei übrigens nicht als Oberlehrer, die den tumben Deutschen das ABC des modernen Lebens beibringen. Sie sehen sich als Fürsprecher eines jungen, unangepaßten jüdischen Mikrokosmos, der sich in Berlin längst jenseits der Gemeindegrenzen entwickelt hat. Eigenbrötlerische Künstler gehören dazu, kritische Feministinnen und Studenten. Viele von ihnen sind bekennende Juden, keiner hat die deutsche Geschichte vergessen, aber mit der klammen Steifheit der Altvorderen können viele nichts mehr anfangen.

"Ich will diese Leute integrieren und ihnen helfen, im Europa des 21. Jahrhunderts jüdisch zu leben, nicht im Osteuropa des 18. Jahrhunderts", sagt Walther Rothschild. Und da klingt er dann doch ganz leise durch, der alte Spott, den sich Vertreter des westlichen, akademisch gebildeten Judentums manchmal nicht verkneifen wollen, wenn sie über die vermeintlich rückständigen Gemüter ihrer osteuropäischen Glaubensbrüder reden. "Es gibt eben einige Rabbiner", orakelt Rothschild, "die das kleine Ghetto wieder aufleben lassen wollen."

Er scheint sich vor Streit in der Gemeinde nicht zu fürchten. Aber er meint mit seiner Kritik ausdrücklich nicht den orthodoxen Rabbiner, der auf der anderen Seite des Treppenhauses wohnt. Den grüßt er freundlich, als er gegen Mittag seinen schwarzen Hut aufgesetzt hat, die abgewetzte Aktentasche packt und das Haus verläßt. Im Büro der Gemeinde wartet ein Schreibtisch voller Anträge auf ihn. Wer ist Jude und hat Anspruch auf Unterstützung, wird da gefragt. Dürfen russische Gebetbücher verwendet werden, oder sollen die "Neuen" auf deutsch beten? Kann man zu einer Beerdigung Blumen bringen? In welcher Synagoge dürfen Frauen im Chor singen?

Über viele Debatten werde die Zeit hinweggehen, sagt der Rabbiner. Die jüdische Gemeinde von Berlin mache eben im Kleinen durch, was der deutsche Staat als Ganzes erlebe: die Identitätskrise einer Einwanderungsgesellschaft, die keine sein will. Was die aus Polen stammenden Berliner der Nachkriegsgeneration jetzt noch als reine Lehre verteidigten, könnten die Nachwendejuden mit russischen oder englischen Vorfahren in der nächsten Generation schon umgekrempelt haben. "Eine Katastrophe", findet Rothschild, "ist das nicht."


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haGalil onLine - 09-05-99


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