Merkmale der
Rückbenennungsdiskussion
Von Sascha Kindermann
Laut Bannasch war die
evangelische St. Nikolai-Gemeinde stets "vehementer Gegner" der
Rückbenennung. Dagegen hätten der übergeordnete evangelische Kirchenkreis
Spandau, die Katholische Gemeinde und die "Arbeitsgemeinschaft verfolgter
Sozialdemokraten" von Anfang an eine Rückbenennung befürwortet. Auch die CDU
habe stets zu den Fürsprechern gehört, "hat sich aber immer sehr bedeckt
gehalten" und die Diskussion "nie offensiv geführt." Auf
Landesebene hätten sich der Landesbischof, andere Kirchenrepräsentanten und
der Präsident des Abgeordnetenhauses nicht deutlich hinter das Vorhaben
gestellt, obwohl sie sich in ähnlichen Fällen sofort in die Diskussion
eingeschaltet hätten.
Die Jüdische Gemeinde sprach sich stets für die Rückbenennung aus.
Die Rückbenennungsdiskussion
wies die folgenden Argumente und sonstigen Bestandteile auf:
Frühere jüdische
Bevölkerung Spandaus
Bannasch bewertet die
geschichtliche Bedeutung des Judentums für Spandau höher als die Kinkels:
"Der Name Jüdenstraße erinnert an das einst rege jüdische Leben in der
Havelstadt".
Die Straße sei "über 400 Jahre Ausdruck für ein friedliches Zusammenleben
jüdischer und christlicher Bürger in der Stadt Spandau" gewesen.
Auch für Brenner ist
"Jüdenstraße" "ein Name, der vierhundert Jahre Spandauer, Berliner und
Jüdische Geschichte symbolisierte."
Johann Gottfried Kinkel
Einige Gegner der Rückbenennung
argumentierten, Kinkel (1815-1882) stehe in enger Verbindung zu Spandau. Er
hatte von August bis November 1850 im Spandauer Gefängnis eingesessen.
Kinkel gehörte zu den Kämpfern
der Revolution von 1848, die bei den Nazis durchaus beliebt waren. Dazu
schreibt Aly: "Mit den Umbenennungen [...] [u.a. in Kinkelstraße, Anm.
d.A.] folgten die Spandauer besonders schnell dem Willen ihres Führers."
Denn Hitler brachte die Revolutionäre in Mode, indem er kurz nach der
Einverleibung Österreichs im März 1938 die Erinnerung an sie beschwor. Sich
sah er als Exekutor ihres Ziels eines großdeutschen Nationalstaats. Aly: "Das
Dritte Reich verehrte die deutschen Nationalrevolutionäre, und sie gaben
dazu selbst einigen Anlass. Einer von ihnen hatte »Von der Maas bis an die
Memel .« gedichtet. [...] Kinkels Freund und Trauzeuge Emanuel Geibel [...]
schrieb die Verse: »Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt
genesen.«" (Zeichensetzung i.O., Anm. d.A.)
Nach Bannasch ist Kinkel "ambivalent
zu betrachten", da er zuließ, dass in seiner Neuen Bonner Zeitung
antisemitische Gedichte veröffentlicht wurden.
Aufhebung der
antisemitischen Umbenennung
Nach Bannasch wies die FDP von
Anfang an darauf hin, dass die Nationalsozialisten intendierten, "das
jüdische Element aus der Öffentlichkeit zu eliminieren."
Deswegen solle man die Umbenennung nicht länger tolerieren,
fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus sei es an der Zeit "die
Makel der deutschen Geschichte durch die Rückbenennung auszugleichen".
"Ausgleichen" lassen sich die präzedenzlosen deutschen Verbrechen gewiss
nicht. Trotzdem ist es selbstverständlich sinnvoll, die antisemitischen
Beschlüsse aufzuheben, wo immer es möglich ist.
Verbot der
Doppelbenennung von Straßen
Sigurd Hauff (SPD),
Bürgermeister von 1992 bis 1995, verwies auf das Berliner Straßengesetz, das
die doppelte Verwendung von Straßennamen nicht zulasse (Jüdenstraße im
Bezirk Mitte).
Dieses Argument weist Bannasch zurück, "weil es sich um Straßennamen
handelt, die im Dritten Reich umbenannt worden sind. Dafür gilt eine
Ausnahmeregelung."
Mangelnde Einbeziehung
der Anlieger
Das Argument, die Anliegerinnen
und Anlieger der Kinkelstraße seien zu wenig beteiligt worden, stellte wohl
das am häufigsten geäußerte dar.
Swen Schulz (SPD) bezeichnete
das Verfahren als "bürgerfeindlich"
und kritisierte mangelnde Bürgerbeteiligung - "schließlich lautet der
Name seit über 50 Jahren Kinkelstraße."
Das Bezirksamt habe die Anlieger viel zu spät über die beschlossene Änderung
des Straßennamens und der Hausnummern informiert. Dadurch seien die Bürger
de facto um ihr Widerspruchsrecht gebracht worden.
Schulz berücksichtigte nicht, dass die Zeitungen über den Beschluss
berichteten und die interessierten, zum Teil organisierten Anlieger ihn mit
Sicherheit frühzeitig zur Kenntnis nahmen. Die Berliner Morgenpost
vom 5.11.2002 kritisierte Schulz’ Haltung und erhob den "Vorwurf des
leichtsinnigen Populismus". Er habe das Thema im Bundestagswahlkampf
entdeckt und das gesamte Verfahren als "bürgerfeindlich" gegeißelt: "Nach
dem Motto: Kritik muss ja wohl noch erlaubt sein dürfen. Möllemann lässt
grüßen!"
Es lässt sich feststellen, dass Schulz, indem er sich nicht inhaltlich
positionierte und stets nur vom üblen Verhalten gegenüber den
"Jüdenstraßen"-Gegnern sprach, das Bild von Unschuldslämmern, von Opfern von
Politik und Verwaltung, zeichnete. Kritisch zu betrachtende politische
Haltungen, Gewichtungen und Denkstrukturen wurden durch diese
argumentatorische Fixierung komplett ausgeblendet.
Auch die Bürgeraktion selbst
kritisierte mangelnde Bürgerbeteiligung: "Wir wehren uns dagegen, dass
das Bezirksamt Entscheidungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit trifft"
(Siegfried Schmidt).
Die Berliner Zeitung kommentierte: "Und es klingt, als wäre der
Beschluss in einem Hinterzimmer und nicht in einer öffentlichen Tagung der
gewählten Bezirksverordneten getroffen worden."
Ebenso wehrte Bürgermeister Konrad Birkholz (CDU) ab: "Die Diskussion ist
hinlänglich bekannt." Alle Gremien seien angehört worden. Und Lieselotte
Trieb von der Stadtentwicklungsverwaltung informierte: "Anwohner sind in
geeigneter Weise in Kenntnis zu setzen", wozu eine Anhörung, Handzettel
oder Anschreiben nicht vorgeschrieben seien.
Folgekosten der
Adressänderung
Ein befragter Geschäftsmann "bekommt
schlechte Laune, wenn er an die Rückbenennung der ehemaligen Kinkelstraße
denkt, denn: Der Umsatz sinke seit Jahren, immer mehr Läden machten in der
Altstadt dicht, und jetzt auch noch eine neue Anschrift, inklusive einer
neuen Hausnummer. Das bedeutet Behördengänge für Ummeldungen, neue
Visitenkarten, Stempel . . ." (Berliner Morgenpost)
"Neue Visitenkarten, wat dat kostet", zitierte die Zeit einen
Anlieger.
Der Morgenpost zufolge repräsentierte dies das Denken der meisten
Geschäftsleute in der Straße.
Bannasch gibt an, im Hinblick auf die Kosten, die aufgrund einer neuen
Anschrift entstehen, könne er einen Teil der Anlieger, die von Anfang an
dagegen gewesen seien, "ein Stück weit verstehen".
Genügend andere
Gedenkmaßnahmen
Der Spandauer Bürgermeister
Werner Salomon (SPD) äußerte 1994 als Argument gegen die Rückbenennung, es
seien eine Gedenktafel installiert und an den Straßenschildern Zusatztafeln
zum früheren Straßennamen angebracht worden. Sein Nachfolger, Sigurd Hauff
(SPD), teilte diese Auffassung.
Auch die Bürgeraktion vertrat die Auffassung, eine Rückbenennung sei
unnötig, weil mit Gedenktafeln und Zusatzschildern ausreichend an das
jüdische Leben erinnert werde.
Förderung des Antisemitismus
In früherer Zeit, so Bannasch,
warf ihm u.a. der Tagesspiegel vor, er fördere durch sein Handeln
zugunsten einer Rückbenennung den Antisemitismus und hole die Antisemiten
nach Spandau. Den Vorwurf, er wolle den Antisemiten "Tür und Tor öffnen",
habe auch ein Mitglied der CDU in einem Leserbrief erhoben, woraufhin sich
allerdings der CDU-Vorsitzende "hoch und heilig" bei ihm entschuldigt
habe.
Persönliche Profilierung
Immer wieder wurde Bannasch
unterstellt, dass er mit seinem Engagement für die Rückbenennung "sich
doch nur profilieren wolle." (Die Zeit)
Ghetto-Kennzeichnung
Judith Kessler von der
Gemeindezeitung
jüdisches berlin findet "eine Jüdenstraße völlig unnötig und sogar
kontraproduktiv." Der Name "Jüdenstraße" sei generell eine "Ghetto-Kennzeichnung"
gewesen.
Diese Argumentation war ansonsten nicht festzustellen.
Einzelveranstalter
Karl-Heinz Bannasch
Laut Bannasch äußerte sich
latenter Antisemitismus dadurch, dass den gesamten Schriftverkehr der
Bürgeraktion die Rede vom "Einzelveranstalter Karl-Heinz Bannasch"
durchzogen habe. Dadurch sei die FDP als eigentliche Akteurin nicht zur
Kenntnis genommen worden. Mit dieser Wortwahl habe man beabsichtigt, den
Eindruck zu erwecken, dass ein "Querulant", ein "armer Irrer"
am Werk sei, der bloß versuche, seine "Einzelmeinung" durchzusetzen.
Anfeindungen per Post und
Telefon
Bannasch berichtet, er sei am
Telefon und per Post als "Judenfreund" bezeichnet worden. Ein Anrufer
habe die Ansicht geäußert: "Sie können ja nur Jude sein." Oder: "Sie
sind bestimmt Jude, und Sie können ja nicht anders. Gehen Sie in Ihr
Heimatland zurück!" Bannasch kommentiert diese Anfeindungen im Hinblick
auf Antisemitismus: "Das ist schon fast nicht unterschwellig."
Tag der Rückbenennung: 1. November 2002
Diskussion nach der Rückbenennung
Resümee
Verwendete Quellen
Anmerkungen:
Eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
Vgl. Gäding 2002c.
Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
Zit. n. Wobig 2002.
Zit. n. Münner 1994. Diese Beschreibung erweist sich jedoch schon allein
dann als Idealisierung, wenn man an den "Hostienschändungsprozess" gegen
Juden und deren anschließende Vertreibung im 16. Jahrhundert denkt. Das
Argument der großen historischen Bedeutung wird dadurch freilich nicht
entwertet.
Brenner, Alexander: Aktuelles. In: jüdisches berlin v. Dezember 2002.
Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
Vgl. Aly, Götz: Jüdenstraße - Kinkelstraße. Ausgerechnet 1938 ehrte
Berlin-Spandau zwei Revolutionäre von 1848. In: Berliner Zeitung v.
4.11.2002.
Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
Ebd.
Vgl. Wobig 2002.
Zit. n. Münner 1994.
Vgl. ebd.
Zit. n. ebd.
Zit. n. Gäding, Marcel: Antisemitische Parolen in Spandau. In: Berliner
Zeitung v. 2.11.2002a.
Zit. n. Wobig 2002.
Vgl. Kersten 2002b. - Zwei Wochen später erschien ein Artikel über
eine BVV-Sitzung, der den gleichen Tenor aufweist. Die SPD habe die
Bürgeraktion unterstützt, Schulz fordere "die Einführung erweiterter
Bürgerbeteiligungsrechte." Die CDU dagegen bezeichne das Vorgehen des
Bezirksamtes als "rechtlich korrekt" und "mit allen Fraktionen
[...] abgesprochen." Vgl. Kersten, Christian: Kinkelstraße:
Namens-Streit geht weiter. In: Märkische Allgemeine Zeitung v. 13.9.2002a.
Vgl. o.V.: Guten Morgen, . . . Swen Schulz! In: Berliner
Morgenpost v. 5.11.2002.
Zit. n. Gäding 2002b.
Gäding 2002b.
Vgl. ebd.
Heun, Sylke: Straßenumbenennung kommt bei Geschäftsleuten nicht
gut an. In: Berliner Morgenpost v. 6.11.2002.
Zit. n. Schimmeck, Tom: Volkszorn in der Jüdenstraße. Eskalation.
In: Die Zeit v. 14.11.2002.
Vgl. Heun 2002.
Eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
Vgl. Münner 1994.
Vgl. Gäding 2002b.
Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 /
9.6.2004.
Schimmeck 2002. Vgl. auch Gäding 2002c.
Vgl. eigenes Interview mit Kessler, Judith, 3.5.2004.
Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 /
9.6.2004.
Ebd.
hagalil.com / 08-02-2004 |