antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info

haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

hagalil.com

Search haGalil

Newsletter abonnieren
Bücher / Morascha
Musik

Koscher leben...
Tourismus
Jüdische Weisheit
 
Sie finden hier zahlreiche Artikel aus dem 90er Jahren, d.h. aus den Anfangsjahren des WWW. Aktuellere Meldungen finden Sie im Nachrichtenarchiv unter Jüdisches Leben in Deutschland..., Antisemitismus, Rechtsextremismus..., Europa und die Welt... oder in den täglich aktuellen Nachrichten von haGalil.com...
Etliche Artikel in diesem Ordner entsprechen in Formatierung und Gestaltung nicht den heutigen Internetstandards. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.

 

Resümee

Von Sascha Kindermann

Wie ist nun, was die Jüdenstraße angeht, die Frage nach dem Antisemitismus zu beantworten? Welche Rolle spielten antisemitische Ressentiments und Denkmuster im Verlauf der siebzehnjährigen Debatte und auch nach der Rückbenennung?

Gerade im Hinblick auf die Ereignisse während der Rückkehr der "Jüdenstraße" am 1.11.2002 gehen die Ansichten darüber, was genau geschah, weit auseinander. Aus Sicht der Einen tobte ein antisemitischer Mob, bislang verborgener Hass kam in kollektiver Form zum Ausbruch. Aus Sicht der Anderen gab es nicht eine einzige Äußerung, überhaupt keine Pöbelei mit antisemitischem Inhalt - nicht einmal durch eine Person oder durch wenige der Anwesenden. Es ist nicht zulässig, der Wahrnehmung einer Quelle, einer Seite, blind zu vertrauen, den Schilderungen einer Konfliktpartei absolute Gültigkeit zuzuweisen.

Doch kann man, da mehrere Personen (zum Beispiel Alexander Brenner, Karl-Heinz Bannasch und Marcel Gäding) es angeben, mit Sicherheit davon ausgehen, dass es während der Redebeiträge zur Rückbenennung zu Zwischenrufen wie "Juden raus!" und "Die Juden sind an allem schuld, was hier passiert!" kam.

Was sich hier manifestierte, ist als sekundärer Antisemitismus zu kennzeichnen, dessen entscheidende Motivation der "Wunsch nach Entlastung von der deutschen Vergangenheit" (Salzborn / Schwietring) ist.160 Wer es ausrief, machte "die Juden" für die ihm nicht gelegen kommende Straßenrückbenennung verantwortlich, wies ihnen die Schuld an ihr zu, machte das eingebildete Kollektiv der Juden zu Tätern - ganz im Sinne der Täter-Opfer-Umkehr.

Andererseits kann man nicht davon ausgehen, dass alle, die anwesend waren, diesen offenen Antisemitismus auch vernahmen. Als sie später behaupteten, es habe keine derartigen Ausbrüche gegeben, gaben einige vielleicht an, was sie wirklich wahrgenommen hatten, andere logen möglicherweise, damit kein Schatten auf die Bürgeraktion mit ihrem Anliegen und auf Spandau falle. Es ist unwahrscheinlich, dass alle befragten Teilnehmer wahrheitsgemäße Angaben machten - schließlich beschrieben einige Zeugen die Rufe als "unüberhörbar".

Keiner derjenigen Zuhörer, zu denen die Hassparolen vordrangen, unternahm etwas gegen deren Urheber.

Doch es ist nicht ausschließlich die Frage von Belang, wer am 1.11.2002 unverschleierten Antisemitismus herausplatzen ließ, wer die Ausbrüche hörte. Es stellt sich grundsätzlich die Frage danach, warum viele Bürgerinnen und Bürger sich siebzehn Jahre lang mit Vehemenz dagegen sträubten, den Namen "Kinkelstraße" aufzugeben und den alten Namen "Jüdenstraße" als neuen zu akzeptieren.

Sucht man nach den Argumenten, die gegen die Rückbenennung vorgebracht wurden, kann man "allerlei Simples" zu Tage befördern, wie die Zeit es formulierte:161 "Selbst die konsequenten Neinsager von der Bürgeraktion Kinkelstraße hatten zum Schluss keine überzeugenden Einwände mehr." (Berliner Morgenpost)162 Sicherlich ist die Änderung der Adresse und der Hausnummer mit einem gewissen Aufwand und mit einigen Kosten verbunden. Und man muss sich an den neuen Namen der Straße, in der man wohnt oder arbeitet, gewöhnen. Doch nach nicht allzu langer Zeit sollten sich die unangenehmen Folgen aufgelöst haben.

Der entscheidende Punkt ist, dass all diese für sich genommen vielleicht nachvollziehbaren simplen Einwände eben nicht "für sich genommen" werden können; sie können nicht als im luftleeren Raum Freischwebendes angesehen werden. Vielmehr müssen die eingebrachten Gegenargumente vor dem Hintergrund dessen bewertet werden, was den Zweck der Rückbenennung von "Kinkelstraße" in "Jüdenstraße" darstellte: den antisemitischen Umbenennungsbeschluss der Nazis gegen einen "jüdischen Straßennamen" zu revidieren; angerichtetes Unrecht nicht einfach auf sich beruhen zu lassen. Doch im Gegensatz dazu vertrat etwa ein Geschäftsinhaber folgende Auffassung: "Ich habe nichts gegen Juden. Was mich ärgert, sind die für mich entstehenden Kosten. Das wäre auch so, wenn sie die Straße Cowboy- oder Indianerstraße genannt hätten."163

Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, die Fortexistenz und das Fortwirken antisemitischer Maßnahmen der Nationalsozialisten - wo immer dies möglich ist - zu beenden. Im Fall der Kinkelstraße bot sich stets die Möglichkeit, was die Nazis ins Straßenbild trugen, wieder zu streichen, was sie in ihrem Wahn tilgten, wieder hereinzuholen.

Wolfgang Frindte et al. führten eine empirische Studie über die Verbreitung von antisemitischen Einstellungen durch. Sie untersuchten dabei drei Ausprägungen: latenten und manifesten Antisemitismus sowie einen Mangel an "Verantwortung gegenüber den Juden":

"Nicht mehr über die Schuld der Deutschen gegenüber den Juden nachdenken, endlich einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen und keine besondere Verantwortung gegenüber den Juden zeigen - all das scheint auch zu den Facetten antisemitischer Einstellungen [...] zu gehören. Die Zurückweisung von historischer Verantwortung ist vielleicht ein Teil der neuen oder neu gewendeten alten antisemitischen Mythen."164

Die Bürgeraktion bekannte sich zwar zum "Gedenken an jüdisches Leben in Spandau" - doch ausgerechnet im Fall der "Jüdenstraße" wollte sie keine Konsequenzen aus der Vergangenheit der deutschen Judenverfolgung ziehen. Diese Verweigerung handfester Konsequenzen korrespondiert damit, dass unter anderem von der Bürgeraktion sogar der "Bruch der Geschichte" als Argument gegen die Rückbenennung angeführt wurde; der Bruch bleibe mit dem Namen "Kinkelstraße" im Stadtbild besser sichtbar.

In Reaktion auf die antisemitischen Anwürfe, die ihm entgegengeschleudert wurden, sagte Alexander Brenner, die Protestierer würden sich in eine Reihe mit den Neonazis stellen. Viele der Anwesenden nahmen diesen Vorwurf vermutlich als ungerechtfertigt wahr, weil sie keine eindeutigen Hetztiraden gehört hatten; ihnen schien es nur um sachlich begründeten Protest zu gehen. Doch kann man vielleicht konstatieren, dass die grundsätzliche Einstellung der Rückbenennungsgegner - die kleinen, privaten Interessen zählten mehr als die Aufhebung eines antisemitischen Verwaltungsaktes "aus längst vergangener Zeit" - extremen Rechten durchaus Anknüpfungspunkte bietet. Wenn es stimmt, was in einem Interview angegeben wurde, dann saßen die Anlieger der Kinkelstraße mit Mitgliedern der NPD im selben Gemeindesaal, ohne es fertigzubringen, sich eindeutig von den Rechtsextremen abzugrenzen, diese auszugrenzen.

Außerdem sind Äußerungen im Laufe der langjährigen Diskussion zu beachten, die zwar nicht das Bild vom grässlichen Juden zeichnen, jedoch auf subtile Weise Antisemitismus reproduzieren und nähren. Es sei an den offenen Brief eines wahrscheinlich vielen Gegnern der Rückbenennung bekannten Bistrobetreibers erinnert. Sein Brief wurde ebenfalls mit einiger Wahrscheinlichkeit von vielen Bürgern zur Kenntnis genommen. Das Schreiben impliziert, ohne von Juden zu sprechen, dass das vom Verfasser als Problem Wahrgenommene etwas mit dem Namen "Jüdenstraße" und damit mit "den Juden" zu tun habe.

Dazu gesellt sich etwa die Tatsache, dass Swen Schulz (SPD) im Hinblick auf den 1.11.2002 gegenüber der Presse zwar angab, auch er sei "erschüttert und ratlos" angesichts der berichteten antisemitischen Zwischenrufe, dann jedoch meinte, alle Beteiligten müssten sich an die eigene Nase fassen: "Auch die FDP. Mit der Einladung an Herrn Brenner wurde die Sache erst richtig aufgebauscht."165 Darin ist die Behauptung enthalten, konkretes Verhalten - die Einladung an Brenner und dessen Besuch in Spandau - sei geeignet, Antisemitismus, Hass gegenüber allem Jüdischen, bei eh schon aufgebrachten Bürgern zu verursachen. Das Denkmuster ist identisch mit dem von Jürgen W. Möllemann, der Michel Friedman unterstellte, durch sein konkretes Verhalten den Antisemitismus in Deutschland anzuheizen.

So lässt sich resümieren, dass im Streit um die Wiedereinführung des Namens "Jüdenstraße" das Problem weniger im sich offen zeigenden "Radauantisemitismus" als im gesellschaftlichen Zusammenspiel subtiler, uneindeutiger Ausprägungen besteht; für sie scheint kein Problembewusstsein zu bestehen.

Verwendete Quellen

Anmerkungen:
160 Vgl. Salzborn, Samuel / Schwietring, Marc: Antizivilisatorische Affektmobilisierung. Zur Normalisierung des sekundären Antisemitismus. In: Klundt, Michael et al.: Erinnern, verdrängen, vergessen. Geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert. Gießen 2003, S. 43-76, hier S. 44.
161 Vgl. Schimmeck 2002.
162 o.V. (Guten Morgen, . . . Swen Schulz!) 2002.
163 Siebrecht, Thomas, Inhaber vom "Ü-Ei Punkt", zit. n. Heun 2002.
164 Frindte, Wolfgang et al.: Neu-alte Mythen über Juden. Ein Forschungsbericht. In: Dollase, R. et al. (Hg.): Opfer und Täter fremdenfeindlicher Gewalt. München 1997.
165 Zit. n. Schubert 2002.

hagalil.com / 08-02-2004


Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!

Werben in haGalil?
Ihre Anzeige hier!

Advertize in haGalil?
Your Ad here!

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München
1995-2014 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved