Resümee
Von
Sascha Kindermann
Wie ist nun, was die
Jüdenstraße angeht, die Frage nach dem Antisemitismus zu beantworten? Welche
Rolle spielten antisemitische Ressentiments und Denkmuster im Verlauf der
siebzehnjährigen Debatte und auch nach der Rückbenennung?
Gerade im Hinblick auf die
Ereignisse während der Rückkehr der "Jüdenstraße" am 1.11.2002 gehen die
Ansichten darüber, was genau geschah, weit auseinander. Aus Sicht der Einen
tobte ein antisemitischer Mob, bislang verborgener Hass kam in kollektiver
Form zum Ausbruch. Aus Sicht der Anderen gab es nicht eine einzige Äußerung,
überhaupt keine Pöbelei mit antisemitischem Inhalt - nicht einmal durch eine
Person oder durch wenige der Anwesenden. Es ist nicht zulässig, der
Wahrnehmung einer Quelle, einer Seite, blind zu vertrauen, den Schilderungen
einer Konfliktpartei absolute Gültigkeit zuzuweisen.
Doch kann man, da mehrere
Personen (zum Beispiel Alexander Brenner, Karl-Heinz Bannasch und Marcel
Gäding) es angeben, mit Sicherheit davon ausgehen, dass es während der
Redebeiträge zur Rückbenennung zu Zwischenrufen wie "Juden raus!" und "Die
Juden sind an allem schuld, was hier passiert!" kam.
Was sich hier manifestierte,
ist als sekundärer Antisemitismus zu kennzeichnen, dessen entscheidende
Motivation der "Wunsch nach Entlastung von der deutschen Vergangenheit"
(Salzborn / Schwietring) ist.
Wer es ausrief, machte "die Juden" für die ihm nicht gelegen kommende
Straßenrückbenennung verantwortlich, wies ihnen die Schuld an ihr zu, machte
das eingebildete Kollektiv der Juden zu Tätern - ganz im Sinne der
Täter-Opfer-Umkehr.
Andererseits kann man nicht
davon ausgehen, dass alle, die anwesend waren, diesen offenen Antisemitismus
auch vernahmen. Als sie später behaupteten, es habe keine derartigen
Ausbrüche gegeben, gaben einige vielleicht an, was sie wirklich wahrgenommen
hatten, andere logen möglicherweise, damit kein Schatten auf die
Bürgeraktion mit ihrem Anliegen und auf Spandau falle. Es ist
unwahrscheinlich, dass alle befragten Teilnehmer wahrheitsgemäße Angaben
machten - schließlich beschrieben einige Zeugen die Rufe als "unüberhörbar".
Keiner derjenigen Zuhörer, zu
denen die Hassparolen vordrangen, unternahm etwas gegen deren Urheber.
Doch es ist nicht
ausschließlich die Frage von Belang, wer am 1.11.2002 unverschleierten
Antisemitismus herausplatzen ließ, wer die Ausbrüche hörte. Es stellt sich
grundsätzlich die Frage danach, warum viele Bürgerinnen und Bürger sich
siebzehn Jahre lang mit Vehemenz dagegen sträubten, den Namen "Kinkelstraße"
aufzugeben und den alten Namen "Jüdenstraße" als neuen zu akzeptieren.
Sucht man nach den Argumenten,
die gegen die Rückbenennung vorgebracht wurden, kann man "allerlei
Simples" zu Tage befördern, wie die Zeit es formulierte:
"Selbst die konsequenten Neinsager von der Bürgeraktion Kinkelstraße
hatten zum Schluss keine überzeugenden Einwände mehr." (Berliner
Morgenpost)
Sicherlich ist die Änderung der Adresse und der Hausnummer mit einem
gewissen Aufwand und mit einigen Kosten verbunden. Und man muss sich an den
neuen Namen der Straße, in der man wohnt oder arbeitet, gewöhnen. Doch nach
nicht allzu langer Zeit sollten sich die unangenehmen Folgen aufgelöst
haben.
Der entscheidende Punkt ist,
dass all diese für sich genommen vielleicht nachvollziehbaren simplen
Einwände eben nicht "für sich genommen" werden können; sie können nicht als
im luftleeren Raum Freischwebendes angesehen werden. Vielmehr müssen die
eingebrachten Gegenargumente vor dem Hintergrund dessen bewertet werden, was
den Zweck der Rückbenennung von "Kinkelstraße" in "Jüdenstraße" darstellte:
den antisemitischen Umbenennungsbeschluss der Nazis gegen einen "jüdischen
Straßennamen" zu revidieren; angerichtetes Unrecht nicht einfach auf sich
beruhen zu lassen. Doch im Gegensatz dazu vertrat etwa ein Geschäftsinhaber
folgende Auffassung: "Ich habe nichts gegen Juden. Was mich ärgert, sind
die für mich entstehenden Kosten. Das wäre auch so, wenn sie die Straße
Cowboy- oder Indianerstraße genannt hätten."
Es sollte eine
Selbstverständlichkeit sein, die Fortexistenz und das Fortwirken
antisemitischer Maßnahmen der Nationalsozialisten - wo immer dies möglich
ist - zu beenden. Im Fall der Kinkelstraße bot sich stets die Möglichkeit,
was die Nazis ins Straßenbild trugen, wieder zu streichen, was sie in ihrem
Wahn tilgten, wieder hereinzuholen.
Wolfgang Frindte et al. führten
eine empirische Studie über die Verbreitung von antisemitischen
Einstellungen durch. Sie untersuchten dabei drei Ausprägungen: latenten und
manifesten Antisemitismus sowie einen Mangel an "Verantwortung gegenüber den
Juden":
"Nicht mehr über die Schuld
der Deutschen gegenüber den Juden nachdenken, endlich einen Schlußstrich
unter die Vergangenheit ziehen und keine besondere Verantwortung gegenüber
den Juden zeigen - all das scheint auch zu den Facetten antisemitischer
Einstellungen [...] zu gehören. Die Zurückweisung von historischer
Verantwortung ist vielleicht ein Teil der neuen oder neu gewendeten alten
antisemitischen Mythen."
Die Bürgeraktion bekannte sich
zwar zum "Gedenken an jüdisches Leben in Spandau" - doch ausgerechnet im
Fall der "Jüdenstraße" wollte sie keine Konsequenzen aus der Vergangenheit
der deutschen Judenverfolgung ziehen. Diese Verweigerung handfester
Konsequenzen korrespondiert damit, dass unter anderem von der Bürgeraktion
sogar der "Bruch der Geschichte" als Argument gegen die Rückbenennung
angeführt wurde; der Bruch bleibe mit dem Namen "Kinkelstraße" im Stadtbild
besser sichtbar.
In Reaktion auf die
antisemitischen Anwürfe, die ihm entgegengeschleudert wurden, sagte
Alexander Brenner, die Protestierer würden sich in eine Reihe mit den
Neonazis stellen. Viele der Anwesenden nahmen diesen Vorwurf vermutlich als
ungerechtfertigt wahr, weil sie keine eindeutigen Hetztiraden gehört hatten;
ihnen schien es nur um sachlich begründeten Protest zu gehen. Doch kann man
vielleicht konstatieren, dass die grundsätzliche Einstellung der
Rückbenennungsgegner - die kleinen, privaten Interessen zählten mehr als die
Aufhebung eines antisemitischen Verwaltungsaktes "aus längst vergangener
Zeit" - extremen Rechten durchaus Anknüpfungspunkte bietet. Wenn es stimmt,
was in einem Interview angegeben wurde, dann saßen die Anlieger der
Kinkelstraße mit Mitgliedern der NPD im selben Gemeindesaal, ohne es
fertigzubringen, sich eindeutig von den Rechtsextremen abzugrenzen, diese
auszugrenzen.
Außerdem sind Äußerungen im
Laufe der langjährigen Diskussion zu beachten, die zwar nicht das Bild vom
grässlichen Juden zeichnen, jedoch auf subtile Weise Antisemitismus
reproduzieren und nähren. Es sei an den offenen Brief eines wahrscheinlich
vielen Gegnern der Rückbenennung bekannten Bistrobetreibers erinnert. Sein
Brief wurde ebenfalls mit einiger Wahrscheinlichkeit von vielen Bürgern zur
Kenntnis genommen. Das Schreiben impliziert, ohne von Juden zu sprechen,
dass das vom Verfasser als Problem Wahrgenommene etwas mit dem Namen
"Jüdenstraße" und damit mit "den Juden" zu tun habe.
Dazu gesellt sich etwa die
Tatsache, dass Swen Schulz (SPD) im Hinblick auf den 1.11.2002 gegenüber der
Presse zwar angab, auch er sei "erschüttert und ratlos" angesichts
der berichteten antisemitischen Zwischenrufe, dann jedoch meinte, alle
Beteiligten müssten sich an die eigene Nase fassen: "Auch die FDP. Mit
der Einladung an Herrn Brenner wurde die Sache erst richtig aufgebauscht."
Darin ist die Behauptung enthalten, konkretes Verhalten - die Einladung an
Brenner und dessen Besuch in Spandau - sei geeignet, Antisemitismus, Hass
gegenüber allem Jüdischen, bei eh schon aufgebrachten Bürgern zu
verursachen. Das Denkmuster ist identisch mit dem von Jürgen W.
Möllemann, der Michel Friedman unterstellte, durch sein konkretes Verhalten
den Antisemitismus in Deutschland anzuheizen.
So lässt sich resümieren, dass
im Streit um die Wiedereinführung des Namens "Jüdenstraße" das Problem
weniger im sich offen zeigenden "Radauantisemitismus" als im
gesellschaftlichen Zusammenspiel subtiler, uneindeutiger Ausprägungen
besteht; für sie scheint kein Problembewusstsein zu bestehen.
Verwendete Quellen
Anmerkungen:
Vgl. Salzborn, Samuel /
Schwietring, Marc: Antizivilisatorische Affektmobilisierung. Zur
Normalisierung des sekundären Antisemitismus. In: Klundt, Michael et al.:
Erinnern, verdrängen, vergessen. Geschichtspolitische Wege ins 21.
Jahrhundert. Gießen 2003, S. 43-76, hier S. 44.
Vgl. Schimmeck 2002.
o.V. (Guten Morgen, . . . Swen Schulz!) 2002.
Siebrecht, Thomas, Inhaber vom "Ü-Ei Punkt", zit. n. Heun 2002.
Frindte, Wolfgang et al.: Neu-alte Mythen über Juden. Ein
Forschungsbericht. In: Dollase, R. et al. (Hg.): Opfer und Täter
fremdenfeindlicher Gewalt. München 1997.
Zit. n. Schubert 2002.
hagalil.com / 08-02-2004 |