In memoriam
Marcus Omofuma
Erinnerung an Leopold Hilsner
Von Petr Vasicek
Das malerische Städtchen Polná liegt in Tschechien genau 100 km von
Prag auf der einen und von Brünn auf der anderen Seite entfernt. Vor über
100 Jahren kam es dort zum sogenannten "Fall Hilsner", der enorme Wellen
schlug, weit über die Grenzen der Monarchie hinaus, und die Tragödie eines
jüdischen Mannes zu einem bis heute aktuellen Politikum machte.
Ostern 1899 wurde die 16jährige Anezka Hruzova ermordet aufgefunden. Der
Halsschnitt von einem Ohr zum anderen, das Vorhandensein von nur wenig Blut
- und sofort weiß das Volk den Täter: der Schustergeselle Leopold Hilsner
wurde der Ermordung des christlichen Mädchens angeklagt. Ohne Beweise und
ohne Indizien, nur wegen seines mosaischen Glaubens und im Zusammenhang mit
dem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Donaumonarchie
epidemieartig grassierenden Ritualmordwahn. Weit über 30 mal wurde da den
Juden unterstellt, das Blut christlicher Kinder und Jungfrauen zur
Herstellung ihrer Mazzes am Pesachfest zu gebrauchen.
Hier liegt jedoch bereits auch die Einzigartigkeit des Falles: keiner der
vielen Prozesse vor oder nach Hilsner führte zu einer Verurteilung. Die
Lächerlichkeit der Prozessführung erstaunt heute ebenso wie die a priori
feststehenden Gerichtsurteile. zeugen wurden eingeschüchtert, wenn sie
aussagen wollten, was sie wirklich gesehen oder erlebt hatten, und bezahlt,
wenn sie phantasierten, vor allem in Nachhinein. Der Kronzeuge z.B. entsann
sich nach Monaten unglaublicher Details und vermochte sie mit zeitlichem
Abstand sogar noch zu verfeinern. Allzu gern schenkten die Gerichte aller
Instanzen dubiosen Zeitgenossen Glauben, die ihre Chance witterten, endlich
und höchstwahrscheinlich das einzige mal im Rampenlicht zu stehen.
Die Unschuldsannahme existierte ebenso wenig wie ein fair trial.
Hilsner wurde also folgerichtig zum Tode verurteilt, gleich zweimal, und
dieses Verdikt vom Kassationsgericht Wien gern und rasch bestätigt. Auf
wachsenden Druck aus Paris und vor allem aus Berlin begnadigt der Kaiser
Hilsner zwar 1901 und ändert das Urteil in lebenslänglich um.
Erst im Rahmen einer Generalamnestie für Schwerverbrecher von Kaiser Karl I.
kommt Hilsner im März 1918 frei - nach fast 19 Jahren Haft, vorwiegend in
Stein an der Donau. 10 Jahre vagabundiert er noch zwischen Wien, Prag und
Velke Mezirici, dem Wohnsitz seiner Familie, bis er am 8. Januar 1928 im
Wiener Rothschild-Krankenhaus an Darmkrebs stirbt.
Bis heute ist das Urteil rechtskräftig
Bis heute ist das Urteil rechtskräftig, eine vollständige Rehabilitierung
hat nie stattgefunden, entsprechende Anträge wurden in Wien souverän
abgewiesen.
In einer Zeit eskalierender nationaler Spannungen kommt es bei Hilsner zu
einer Mesalliance von tschechischen Nationalisten und Wiener Antisemiten,
flankiert von Gesinnungsgenossen aus München. Ruhe und Verstand bewahren
daneben nur wenige, vor allem wäre da zu nennen der Florisdorfer
Bezirksrabbiner Joseph Samuel Bloch: unentwegt schickt er finanzielle
Hilfe an Hilsner und dessen Familie nach Mähren, startet immer neue
Rehabilitierungsversuche - doch die bleiben wirkungslos angesichts des in
Richtung auf offenen Antisemitismus ständig rauher werdenden Klimas in Wien.
Und
Tomas Garrigue Masaryk, TGM, Universitätsprofessor für Soziologie und
späterer Gründungspräsident der Tschechoslowakei.
Der bezahlt sein Engagement mit Entzug des Lehrauftrags an der Prager
Universität, mit offenen Ausschreitungen gegen ihn persönlich und gegen
seiner Familie seitens der eigenen Studentenschaft - er erwägt sogar die
Emigration in die USA.
Penetrant schweigen z.B. Sigmund Freud, Gustav Mahler, Otto Wagner, Gustav
Klimt und so gut wie alle Repräsentanten der Wiener Kultur zur
Jahrhundertwende. Sogar bei Theodor Herzl findet sich nur eine einzige, sehr
flüchtige, wenngleich bezeichnende Erwähnung in den Tagebüchern.
Pikanterweise sind die meisten der eben Erwähnten regelmäßige Leser der
Hilsner-freundlichen "Neuen Freien Presse" als auch der dezidiert
anti-orientierten "Fackel" des Karl Kraus. Deren 1. Nummer erscheint am Tag
der Auffindung von Anezkas Leichnam bei Polna, und sehr bald weiß Kraus vom
Schreibtisch im 3. Wiener Bezirk aus, dass Hilsner der Täter ist.
In Österreich - kein Thema
100 Jahre nach der Katastrophe fanden 1999 und 2000 in Tschechien
unerwartet viele Veranstaltungen zum Thema statt: Ausstellungen in Polna und
Prag, Konferenzen in Kromeriz (Kremsier) und an der Karls Universität in
Prag, Berichte und Aufsätze in sämtlichen Zeitungen des Landes, Sendungen
und Programme in Rundfunk und Fernsehen.
In Österreich - nichts. Zeitungen, vom Standard bis zur Presse zeigten
sich ebenso wenig interessiert, wie der ORF oder das Jüdische Museum Wien -
dort lief zeitgleich zur Hilsner-Ausstellung im Prager Jüdischen Museum eine
Karl Kraus-Ausstellung.
Über die dreitägige Prager Konferenz Ende November 1999 berichteten z.B.
The Jerusalem Post oder ha'Arez in Tel Aviv. Oder auch die Frankfurter
Allgemeine Zeitung - sogar zweimal. Im Mai 2000 klärte mich selbst so ein so
liberaler Mann wie der ORF-Korrespondent in Israel, Ben Segenreich, nach
einem Vortrag an der Hebräischen Universität in Jerusalem auf, das Thema sei
für ihn nicht von Interesse, weil ja Österreich nicht involviert sei....
Sogar
die ursprüngliche Idee, das desolate Grab Hilsners am Zentralfriedhof in
Zusammenarbeit von Magistrat der Stadt Wien und der Botschaft der
Tschechischen Republik zu renovieren, stieß auf unerwartete Schwierigkeiten,
wurde von beiden Seiten abgelehnt, von beiden mit hanebüchenen Argumenten:
das Magistrat teilte mit, Grabrenovierungen seien nicht in der Tradition des
Judentums. Und die Botschaft empfahl, mir für "mein Projekt" finanzielle
Mittel zu suchen und das Projekt dann ggf. erneut zu präsentieren.
Lueger in Ehren gehalten
Gleichzeitig liess sich Botschafter Grusa beim Gansl-Essen für die
"Seitenblicke" in teueren Wiener Restaurants filmen, liess in seiner
Residenz einen Swimming-Pool installieren und zum "Schutz" gegen
Temelin-Gegner Mitglieder einer schnellen Eingriffstruppe der tschechischen
Polizei nach Wien kommen. Auch der früher im Prager Außenministerium
zuständige Sektionschef für Mitteleuropa, Jiri Sitler, der heute die
Verhandlungen mit Berlin und Wien zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern
leitet, sprach von "meinem" persönlichen Anliegen, also keinesfalls von der
Causa Hilsner als negatives Beispiel österreichisch-tschechischen
Geschichte. 10.000 Schilling waren also zum Problem geworden, Millionen für
die Restaurierung der Lueger-Kirche keinesfalls. Und der brüllte im
Parlament Masaryk hinterher, wo denn das "Christenblut von Polna" sei.
In Privatinitiative von Alt-Bürgermeister Dr. Zilk, KR Harant von der
Österreich-Tschechischen Gesellschaft, Stadtschulratspräsident und mir wurde
die Renovierung des Hilsner-Grabes dann doch durchgezogen, mit der
Ausführung wurde die Berufsschule für Baugewerbe in Wien-Kagran betraut.
Bei einer Gedenkfeier am 21. Juni 2000 am Zentralfriedhof wurde u.a. im
Beisein von Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg, Kantor Shmuel Barzilai, der
Herren Zilk und Scholz und Vertretern des tschechischen Wiens Leopold
Hilsner gedacht. Die tschechische Botschaft glänzte durch schon zur Regel
gewordene Abwesenheit.
Dafür wies der Vertreter des Staates Israel, Yoel Lion, auf die
Parallelen zwischen der Lage der Juden zur Jahrhundertwende und der
Situation der Schwarzafrikaner heute in Wien hin.
Analogien
bieten sich verzweifelt viele, zwischen Hilsner und Marcus Omofuma ( http://www.salzburg.com/sn/99/05/03/seite1-27810.html),
von dubiosen Obduktionsprotokollen bis zum juristischen Wirrwarr.
Oder auch zur Einstellung der Glaubensgenossen 1899: das absolute Gros
des jüdischen Wiens zog es vor, zu Hilsner zu schweigen. Ebenso wie
die nigerianische Botschaft und Kommunität 1999 zu Omofuma.
Und ebenso wenig zeichnete sich das
tschechische Wien aus, damals immerhin eine knappe halbe Million in der
2-Millionen-Metropole. So fand die erste tschechische, Hilsner gewidmete
Veranstaltung erst am 9. Mai 2000 im Tschechischen Zentrum in der
Herrengasse 8 statt. Wie üblich: gegen den Willen des tschechischen
Botschafters und in traditioneller Abwesenheit tschechischer Diplomaten.
Jedoch: die juristische Rehabilitierung Leopold Hilsners ist eine
moralische Pflicht für uns Nichtjuden. nach jahrelangem Insistieren ist es
gelungen, dass im Februar 1998 die tschechische Justizministerin, Frau Dr.
Parkanova, die Urteile beider Prozesse 1. Instanz aufhob. Ihr 20-seitiges
Gutachten wurde 1999 vom Jüdischen Museum Prag in Buchform präsentiert.
Juristisch korrekt und logisch argumentiert sie - ebenso wie ihr Nachfolger
Dr. Motejl im Oktober 1999 - dass jedoch die vollständige Rehabilitierung
Hilsners in den Händen des österreichischen Justizministers bzw. des
österreichischen Bundespräsidenten lägen. Weil ja das Oberste (Kassations-)
Gericht in Wien war und Wien damals Reichshauptstadt war und die Republik
Österreich sich seit den Verträgen von Saint-Germain 1919 zur
Rechtsnachfolge der Donaumonarchie bekennt.
Von den betreffenden Stellen (Präsidentschaftskanzlei, Bundesministerium
für Justiz oder Parlamentspräsident Dr. Fischer) bekam ich monatelang jedoch
immer wieder zu hören, dass Prag der eigentliche Rechtsnachfolger sei und
daher für die Rehabilitierung zuständig. Ähnliches erfuhr auch Dr. Scholz
vom jetzigen Justizminister. Und der römische Jurist, Prof. M. U. Morini,
Experte für Internationales und EU-Recht und Autor eines juristischen
Gutachtens zur Rehabilitierung Hilsners, hat auf seinen Antrag auf
Wiederaufnahme eines Gerichtsverfahrens im Mai 2000 von den politischen
Spitzen Österreichs wie Bundespräsident, Bundeskanzler, Vizekanzlerin,
Außenministerin oder Justizminister keine einzige Antwort erhalten! Das
Gutachten ist ausgestellt. Leopold Hilsner ist also 102 Jahre nach der
Katastrophe und 73 Jahre nach seinem Tod immer noch Spielball und Zankapfel
von Kompetenz-Streitigkeiten.
Einige Bemerkungen noch zum Abschluß: in Israel hat jede größere Stadt
einen Platzt oder eine Straße nach Masaryk benannt, auch und vor allem wegen
dessen tragender Rolle in der Causa Hilsner. Selbiges gilt für Mexico City.
Nichts dergleichen bis dato in Wien oder in Polna. Dies kann man durchaus
symbolisch interpretieren.
Und dennoch wird Polna heute an der ersten Stelle anzuführen sein in
pucto Wiedergutmachung: als erste tschechische Stadt nach der politischen
Wende vom November 1989 hat es jüdisches Eigentum restituiert, Hilsner und
generell das jüdische Erbe betreffende Gedenkveranstaltungen organisiert und
am 5. September 2000 die renovierte Synagoge eröffnet - dort befindet sich
eine Ausstellung zum jüdischen Jahr im allgemeinen und zur Hilsner-Affäre im
besonderen. Ermöglicht wurde dies dank großzügiger finanzieller
Unterstützung durch die französische Botschaft in Prag. Der Botschafter
wohnte der Feier selbstverständlich bei, ebenso wie die Botschafterin des
Staates Israel in der Tschechischen Republik, Frau Erella Hadar.
Österreischische Diplomaten blieben fern....
Während die Karls-Universität Prag eine dreitätige Konferenz zum Thema
"die Affäre Hilsner und die tschechische Gesellschaft 1899-1999"
veranstaltet und die Hebrew University Jerusalem im Mai 2000 zu einem
Vortrag einlädt mit dem Titel "The Leopold Hilsner Case of 1899 and its
Echoes in the Czech Republic and Austria Today", hüllt man sich in Wien in
Schweigen.
So z.B. wäre auch die Rolle der hochgejubelten Wiener Medizinischen
Schule zu untersuchen und zu beleuchten. Wurden 1899 bereits im Sommer
Mediziner in Paris und dann vor allem in Berlin mit kritischen Publikationen
aktiv, ist bis heute in Wien keine Auseinandersetzung mit dem Thema von
medizinischer Seite erfolgt. Mein diesbezügliches Angebot an die Wiener
Klinische Wochenschrift wurde mit dem Argument abgelehnt, das fachliche
Versagen der Kollegen damals und ergo die Mitschuld von Ärzten an der
Verurteilung eines Unschuldigen sei allein von historischen Interesse. Eine
etwas sonderbare, wenngleich nicht unbekannte Art von
Vergangenheitsbewältigung.
Schönbrunn, Sissi und eventuell Kafka gehören zum willkomenen Erbe,
Hilsner nicht.
Anm.:
Marcus Omofuma - ein 25jähriger
Nigerianer ist im Mai '99 bei seiner Abschiebung aus Österreich gestorben.
Der Afrikaner, dessen Asylantrag abgelehnt worden war, sollte in Begleitung
von drei Kriminalbeamten in seine Heimat geflogen werden. Da er heftigen
Widerstand leistete, wurden ihm von den Polizisten Hände und Füße gefesselt
und der Mund mit Klebebändern verschlossen. Bei einer Zwischenlandung in
Sofia war der Mann tot. Vermutliche Todesursache: Herz- oder Lungeninfarkt.
Der Autor, Petr Vasicek, ist Musiker und Mediziner, beschäftigt sich
seit Jahren mit der Person Leopold Hilsner, engagiert sich für dessen
Rehabilitierung. Er lebt in Wien und in Prag.
7 March 2001 -
The Day of President Tomás Garrigue Masaryk
MEMORANDUM - Leopold Hilsner
Dear Mr. President Havel ! Dear Mr. President Klestil !
We would like to draw your attention to the fact that, 100 years
on, Mr. Leopold Hilsner (1876-1928) is still condemned, simply
because of his Jewish origins, for so-called ritual murder he
never committed.
In recent years, little has been done in the Czech Republic and
in Israel to commemorate this victim of Czech Nationalism and
Austrian Antisemitism.
The Charles University Prague organised a three-day
conference on Hilsner in November 1999 and the Hebrew University
Jerusalem a lecture during its 75th anniversary
celebrations in May 2000.
Efforts to get a posthumous rehabilitation of Mr. Hilsner proved
successful in Prague to the extent that the verdicts of the lower
courts in Kutná Hora and Písek were quashed three years ago.
However, the verdicts of the Supreme Court based in Vienna have
never been abolished. His death sentence was not carried out only
because of pressure from Paris and Berlin.
Given the fact that there are problems in Austria regarding the
judicial approach to the matter, we would like to suggest to both of
you a symbolic political act.
As the Hilsner case is part of the Czech Republic' s and Austria'
s shared past, a joint declaration by both of you condemning what
happened to Hilsner seems the best thing.
Czecho-Austrian heritage consists not only of wonderful things
like the creation of musical string quartets (the Lobkowicz family
!), but also of dark sides like the Hilsner affair of 1899/1900.
You both have been active in the past in your countries against
antisemitism, racism and xenophobia, and your personal authority
would be fully appreciated.
The city of Polná has dedicated every effort to the memory of
Hilsner - especially due to author Jan Prchal and mayor Jindrich
Skocdopole - and has issued the Polná Declaration of 10th
November 1999 criticizing the behaviour of local authorities of 1899
and pointing out the parallels and analogies today. Father Tomás
Halík, a close friend of President Havel, joined the commemorative
acts there in March 1999.
And it was President Havel who, during the Masaryk celebrations
in March 2000, spoke about Hilsner together with US Secretary of
State , Mrs.Madeleine Albright.
Why not perform that symbolic act in Polná, thus
celebrating President Masaryk who was engaged in the case and who
symbolises another link between Prague and Vienna ?
The Iustinian Digest teaches us about the "right" solution
to the Hilsner case:
"Qui damnare potest, is absolvendi quoque potestatem habet" (He
who can condemn, has the power to acquit too) Iustiniani Digesta,
Liber 42, tit. 1, fragm.3, Paulus libro septimo decimo ad edictum.
Please, accept this invitation.
Dekuji. Besten Dank. Thank you. Toda raba. Tante grazie. Merci
beaucoup.
Dr.Petr Vasicek Dott. Mario U. Morini
Email:
pvasicek@hotmail.com
Email:
mumorini@comm2000.it
Attention Mr. Jindrich Skocdopole, Mayor, Polná, Czech
Republic
|
Siehe auch:
JUDEN in der ehemaligen
Tschechoslowakei
- 19.
Jahrhundert und Jahrhundertwende
- -
Antisemitismus
- - Der
jüdische Beitrag zur tschechischen
Kultur
[SPAZIERGÄNGE
IN PRAG]
|