Sehr geehrte Frau Abgeordnete!
Sehr geehrter Herr Abgeordneter!
Nach allem, was den österreichischen Juden in Österreich in der
Zeit von 1938 - 1945 angetan wurde - der Ermordung von 65.000
Gemeindemitgliedern, der Vertreibung von 135.000 von ihnen, und dem
größten Raubzug in der Geschichte Österreichs - schien es nach 1945
undenkbar, dass in Österreich wieder eine jüdische Gemeinde
entstehen würde. Und dennoch geschah das Unerwartete. Mehr noch: vor
30 Jahren hat sich die Mehrzahl der Wiener Juden entschlossen, die
Koffer, auf denen sie nach den traumatischen Erlebnissen der
Vergangenheit saßen, auszupacken und sich hier eine Heimat
aufzubauen. Es entstanden Schulen, Synagogen, Sozialeinrichtungen.
Ja, wir Juden haben Österreich damals einen Vertrauensvorschuss
gegeben in der Meinung, in einem neuen Österreich zu leben, in dem
die Existenz einer jüdischen Gemeinde nach der Schoah nicht nur eine
Selbstverständlichkeit, sondern allen ein besonderes Anliegen ist.
Heute sehen wir uns an den Anfang zurückgeworfen und fragen uns,
ob die vom österreichischen Volk gewählten Mandatare bereit sind,
dieser jüdischen Gemeinde jene finanzielle Basis zu geben, die es
ihr ermöglicht, ihre Infrastruktur aus Eigenem zu erhalten, oder ob
nicht doch alles ein schöner Traum war und wir, aus diesem Traum
gerissen, ernüchtert konstatieren müssen, dass wir zu Bettlern
degradiert werden.
Wir wollen trotz allem festhalten an der Meinung, dass die
Existenz einer jüdischen Gemeinde für Österreich ebenso wichtig und
bedeutsam ist, wie für uns Juden. Wir sind überzeugt, dass ein
demokratisches Land, das sich zu Menschenrechten und zur
europäischen Wertegesellschaft bekennt, auch verpflichtet ist, eine
jüdische Gemeinde zu fördern und zu unterstützen, ohne dass diese -
täglich, wöchentlich, jährlich - darum kämpfen muss, dies
insbesondere im Licht der Tatsache, dass wir heute einer der größten
und reichsten Gemeinden Europas wären, hätte es nicht die Schoah
gegeben, in die so viele Österreicher schuldhaft verstrickt waren.
Ich wende mich heute mit diesem persönlichen Appell an Sie, der
Sie es als gewählter Vertreterin des österreichischen Volkes in der
Hand haben über die Existenz oder Schließung einer jüdischen
Gemeinde in Österreich zu entscheiden.
Lassen Sie uns auf die Ihnen vorliegenden Fakten verweisen
http://www.historikerkommission.gv.at der von der
Bundesregierung eingesetzten Historikerkornmission, insbesondere
Bericht von Angelika Shoshana Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden,
Vereine, Stiftungen und Fonds. Arisierung und Restitution): Das den
jüdischen Gemeinden in Österreich gehörende Vermögen wurde geraubt
oder zerstört. Restituiert wurden 230 Liegenschaften, großteils
Schutthalden mit den Überresten der gesprengten und niedergebrannten
Synagogen.
Darüber hinaus erhielt die Israelitische Kultusgemeinde unter dem
Titel "Restitution" Barbeträge in der Höhe von ATS 30 Mio. bzw. ATS
23 Mio., sowie seit dem Jahre 1960 - übrigens wie alle anderen
Religionsgemeinschaften auch - eine jährliche Subvention.
In den letzten drei Jahrzehnten ist eine neue, vielschichtige
Gemeindestruktur entstanden, nicht - wie in Deutschland unmittelbar
nach dem Krieg auf Kosten des Bundes und der Länder, sondern auf
Initiative der Kultusgemeinde und weitgehend auf eigene Kosten, mit
finanzieller Unterstützung der öffentlichen Hand. Rund ATS
1.140,000.000 (nicht valorisiert) investierte die Gemeinde im Laufe
der Jahrzehnte! Was die laufenden Kosten anlangt, blieb die
Kultusgemeinde weitgehend auf sich alleine gestellt, wofür aber, da
seit 1945 das ursprünglich vorhanden gewesene Gemeindevermögen nicht
zurückgestellt wurde, jegliche finanzielle Basis fehlte. Die so
entstandenen jährlichen Abgänge mussten zunächst durch
Liegenschaftsverkäufe und, als es keine Liegenschaften mehr zu
verkaufen gab, durch Bankkredite abgedeckt werden.
Da nunmehr die Banken angesichts des sich anhäufenden
Schuldenberges nicht mehr bereit sind, den Kreditrahmen auszudehnen,
und damit auch diese Quelle versiegt ist, sieht sich die
Kultusgemeinde außerstande, ihr laufendes Budget zu decken, und muss
- nolens volens - darangehen, ihre Institutionen zuzusperren.
Wir wenden uns in dieser schicksalhaften Stunde daher an alle
demokratischen Parteien dieses Landes mit dem dringenden Appell, der
Kultusgemeinde zu Hilfe zu eilen und den im Parlament eingebrachten
Abänderungsantrag zur Existenzsicherung der jüdischen Gemeinde zu
unterstützen. Ihre Stimme ist entscheidend!
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Ariel Muzicant