
27. Januar:
Schafft diesen Gedenktag wieder ab!
Der 27. Januar, der Tag der
Befreiung von Auschwitz, ist seit 1995 der offizielle deutsche
Gedenktag. Und niemand merkt es
Michael Bodemann
Es könnte alles so schön werden: erst ein ordentlicher
Gedenktag für die Opfer, dazu das für den ausländischen Besucher
eindrucksvolle Eisenman-Mahnmal. Letzterem wird nun vielleicht ein
halbherziger Strich durch die Rechnung gemacht, doch der Gedenktag, ohne
viel Debatte und in beflissener Hast 1995 beschlossen, hat alles
unbeschadet überstanden.
Er scheint als Gedenktag für alle Nazi-Opfer weniger
kontrovers: Der 27. Januar erinnert an die Befreiung von Auschwitz durch
die Rote Armee 1945. Doch zu diesem Zeitpunkt war das KZ nur noch ein
Schatten. In den Wochen zuvor hatte sich die Mordmaschinerie
verlangsamt, zehn Tage zuvor wurde Auschwitz evakuiert, über 130.000
Häftlinge wurden auf Transporte und Todesmärsche geschickt, und nur ein
elendes Überbleibsel von knapp 8.000 Insassen wurde am 27. Januar
befreit.
Warum wurde dieser Tag gewählt? Warum keiner der historisch
und national bedeutsamen Tage? Warum nicht der 30. Januar 1933, als die
Deutschen Hitler zujubelten? Warum nicht der 10. November 1938, der
zentrale Tag der Novemberpogrome, als viele Deutsche zusahen und viele
mitmachten? Warum nicht der 1. September 1939, der Beginn des Zweiten
Weltkriegs? Oder der 20. Januar 1942, der Tag der Wannseekonferenz? Oder
der 8. Mai, der Tag nicht der Befreiung eines einzelnen KZ, sondern der
Befreiung Europas insgesamt?
Greifen wir zwei dieser Tage heraus: Der 1. September
signalisiert nicht nur das Morden in den Lagern, sondern den Tod von
weit über 20 Millionen Menschen, den dieser Krieg verursachte.
Tatsächlich wurde dieser Tag, was wenigen heute bewußt ist, nicht nur in
der jungen DDR, sondern auch in Westdeutschland begangen, und zwar am 2.
Sonntag im September, als Gedenktag für die Opfer der Naziverbrechen. In
der restaurativen Phase im Kalten Krieg wurde dieser Gedenktag im Westen
klammheimlich entsorgt - die damalige jüdische Vertretung in Deutschland
nahm dies halb empört, halb resigniert zur Kenntnis. Die
Wiederherstellung dieses Tages nach der deutschen Vereinigung hätte also
nicht nur die Verbindung zu den antinazistischen Anfängen der
gesamtdeutschen Nachkriegszeit und dem positiven Kern des
antifaschistischen Gedenkens im Osten wiederhergestellt, sondern die
Würde aller Verfolgten und aller Ermordeten als gleichwertige Opfer
betont.
Oder nehmen wir den 10. November, den Tag der Pogrome.
Übrigens nicht, wie fälschlich immer noch behauptet, den 9. November,
die "Reichskristallnacht", denn die Verwüstungen, Plünderungen und
Brände geschahen am Morgen des 10. November - vor aller Augen, am
hellichten Tag. Ebendieser Tag, das Startsignal zum Großangriff auf die
Juden, wirft die Schuldproblematik auf, die zuletzt in der Goldhagen-
Debatte zum Ausdruck kam: über jene, die sich angewidert abwandten oder
auch heimlich Juden halfen, jene, die hilflos schweigend oder mehr oder
weniger belustigt zusahen, jene, die vor den Juden die Türen schlossen,
jene, die der SA freudig zuarbeiteten.
Es ist bemerkenswert, daß dieser Tag, eben aufgrund seiner
lebendigen Erinnerung im Herzen fast jeder deutschen Stadt, in den
letzten zwei Jahrzehnten zum Anlaß breiten Gedenkens, gewiß auch oft im
Fragwürdigen, geworden war. Es ist ein Tag nicht nur mit dramatischer
Suggestion, der Nachvollziehbares erzählt und transportiert: die
Aussonderung der eigenen Bürger, das eklatante, allen sichtbare Unrecht
mit der Zerstörung von Gotteshäusern, Mißhandlung auch älterer Menschen
und dem zerstörten Mobiliar von Bürgerhäusern auf der Straße. Nach der
Vereinigung gewann dieser Tag angesichts heutiger Pogrome gegen
Ausländer neue Aktualität. Der neue staatliche Gedenktag, der 27.
Januar, neutralisiert ebendieses Gedenken der Novemberpogrome.
Der 27. Januar ist ein fernes, konstruiertes Datum, ohne
deutsche Erinnerung, in einem anderen Land und ohne deutsche Akteure,
denn selbst die SS-Wachmannschaften waren damals bereits verschwunden.
Für die Verfolgtenseite mag dieser Tag ein Symbol der
Befreiung sein, es waren ihre Angehörigen, die nun das Ende dieses
Schreckens vor sich sahen. In Deutschland stand hinter der Entscheidung
für diesen Tag offenbar die wohlmeinende, doch naive und beschönigende
Idee, in Solidarität mit der Opferseite an das Ende des Mordens zu
erinnern. Dadurch, daß der Befreiung von Auschwitz statt seiner
Errichtung gedacht wird, stellt sich Deutschland an die Seite der Opfer
und der Siegermächte - ein Anspruch, der Deutschen nicht zusteht. Der
27. Januar suggeriert darüber hinaus ein "Ende gut, alles gut". Ein Tag
der Erinnerung für Deutsche soll er sein, doch tatsächlich ist es ein
Tag der Zubetonierung von Erinnerung, ein Tag, der den historischen
Schlußstrich signalisiert.
Wir könnten nun pragmatisch argumentieren: Solange dieser Tag
engagiert begangen wird, wäre es ja gut; zumindest besser als gar
nichts. Doch der 27. Januar ist eben gerade nicht angenommen worden, er
ist ein Tag ohne deutsche Erinnerung geblieben. Die obligatorischen
Reden werden zwar gehalten, doch schon bei seiner Einführung 1996 wurden
die Feiern im Bundestag um einige Tage vorverlegt, weil es den
Abgeordneten so wegen der Urlaubszeit besser paßte. Auch 1998 waren die
Gedenkfeierlichkeiten Pflichtübungen, die in der Mahnmaldebatte
untergingen: Über diesen Tag gab es wenig zu sagen, da kam die
Mahnmaldebatte gerade recht.
Als nach dem Fall der Mauer das nationale Gedenken neu
geordnet wurde, mußte bekanntlich der 17. Juni dem 3. Oktober weichen.
Ein visionärer Wurf wäre es gewesen, den 9. November zum
Nationalfeiertag und den darauffolgenden 10. November, den historischen
Tag der Pogrome, zum Gedenktag für die NS-Opfer zu erklären. Die Freude
über die Einheit Deutschlands wäre somit gepaart worden mit der Trauer
über diese Katastrophe. Der 9. November als Erinnerung an die
Zivilcourage der ostdeutschen Bevölkerung, die die Vereinigung ja erst
ermöglichte, und der 10. November als Hinweis auf einen Mangel an
Zivilcourage, wo es um eklatantes Unrecht und Hilfe für bedrängte Bürger
ging. Statt des ostorientierten 9. November wurde der westzentrierte 3.
Oktober gewählt und nicht die demokratische Bewegung im Osten, sondern
Schäubles bürokratisch-juristisches Einigungswerk des Westens gewürdigt.
Mit dem 27. Januar wurde ein Datum gewählt, das Erinnerung eher
verhindert.
taz
vom 26.1.1999 - Kommentar Michael Bodemann
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