Janusz Rat und Charlotte Knobloch im Gespräch:
"Ergreifende Einblicke
in eine dunkle Zeit"
Gespräch mit Charlotte Knobloch über den Approbationsentzug
jüdischer Zahnärzte
Charlotte Knobloch ist seit Juni 2006 Präsidentin des
Zentralrats der Juden. Über das Schicksal jüdischer Zahnärzte während der
Herrschaft der Nationalsozialisten sprach die gebürtige Münchnerin mit dem
Vorsitzenden des Vorstandes der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Bayerns (KZVB),
Dr. Janusz Rat.
Dr. Rat: Sehr geehrte Frau Knobloch, vor rund 70 Jahren
wurde den jüdischen Zahnärzten die Approbation entzogen. Welchen Stellenwert hat
dieser Schritt auf dem langen Weg der totalen Entrechtung der Juden?
Knobloch: Die Entrechtung begann schon viel
früher. Mit den schändlichen Nürnberger Rassegesetzen am 15. September 1935 gab es bereits erste
Anzeichen für eine sich zuspitzende Diskriminierung
und Ausgrenzung jüdischer Bürger. Die Lage
verschärfte sich weiter, als am 30. September 1938
der Approbationsentzug jüdischer Ärzte und kurz
darauf der jüdischer Zahnärzte folgte. Das Berufsverbot,
durch das vielen jüdischen Familien die
Existenzgrundlage entzogen wurde, war eine Vorstufe
zur Reichspogromnacht.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938
kam der entscheidende Wendepunkt. Fast überall
in ganz Deutschland brannten die Synagogen, Geschäfte
wurden geplündert, Wohnungen verwüstet,
jüdische Bürger misshandelt, mit Füßen getreten,
verhaftet und ermordet. Die Reichspogromnacht
markierte den Übergang von der Diskriminierung
und Ausgrenzung jüdischer Deutscher hin zur systematischen
Verfolgung und gezielten Ermordung
wehrloser Männer, Frauen und Kinder.
Dr. Rat: Nach dem Krieg haben sich die zahnärztlichen Standesorganisationen, so wie die Mehrheit der
Deutschen, lange nicht mit ihrer dunklen Vergangenheit
beschäftigt. Worauf führen Sie diese beschämende
Haltung zurück?
Knobloch: Nach dem Krieg war das Misstrauen der
jüdischen Deutschen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft
so groß, dass sich die jüdische Gemeinschaft
zunächst aus der Öffentlichkeit zurückzog.
Kaum ein jüdischer Bürger wollte in Deutschland
bleiben. Die meisten bemühten sich um eine rasche
Ausreise aus dem Land der Täter in die USA oder
nach Israel.
Nach Kriegsende war das jüdische Leben fast zur
Gänze aus der Öffentlichkeit verschwunden. Auf
den Straßen gab es noch zahlreiche überzeugte
Nazis, die frei herumliefen und von denen viele
ungeschoren davonkamen. Wir wussten nicht, wer
Freund und wer Feind war.
Damals war eine Mischung aus Sprachlosigkeit,
Zorn und Anteilnahme zu spüren. Keiner wollte etwas
gewusst haben oder gar mit schuld an der Schoa
sein. Das gegenseitige Misstrauen blieb über Jahrzehnte
bestehen. Beide Seiten schwiegen aus Scham
und aus Schmerz. Es gab kein Vertrauen mehr. Dieses
musste erst langsam wieder aufgebaut werden.
Obwohl ich einst auswandern wollte, bin ich heute
froh, dass ich in Deutschland geblieben bin. Das
jüdische Leben, das so lange im Verborgenen existierte,
ist endlich wieder in der Mitte der Gesellschaft
angekommen. Wir erleben eine Renaissance
des Judentums. Synagogen und jüdische Gemeindezentren
werden errichtet. Dieses Aufblühen ist für
mich ein später Triumph über die Nationalsozialisten.
Sie haben es nicht geschafft, in Deutschland
jüdisches Leben auszulöschen.
Dr. Rat: Immer mehr Verbände, Körperschaften und
Firmen stellen sich der eigenen Geschichte. Woher kommt
Ihrer Meinung nach dieser „Sinneswandel“ und was
bedeutet das für die heute in Deutschland lebenden
Juden?
Foto: Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern
„Nur wer die Geschichte kennt und sie als Auftrag für die
Zukunft annimmt, kann
verhindern, dass sie sich wiederholt“: Charlotte Knobloch
Knobloch: Zunächst einmal möchte ich betonen,
dass es sehr wichtig ist, dass sich Verbände, Körperschaften,
Behörden und Firmen mit der eigenen Vergangenheit
während des NS-Regimes beschäftigen
und sich der Verantwortung gegenüber dem jüdischen
Volk stellen. Als treibende Kraft hinter dieser
Aufarbeitung sehe ich die Nachkriegsgeneration,
die wissen will, ob und inwieweit sich die eigenen
Vorfahren oder einzelne Institutionen an den Verbrechen
der Nationalsozialisten beteiligt haben.
Deutschland musste erst wieder das demokratische
Grundverständnis erlernen. Heute gibt es einen
gesellschaftlichen
Grundkonsens zur Aufarbeitung
dieses Kapitels der Vergangenheit. Das Interesse, das
von den Institutionen selbst ausgeht, ist für die jüdische
Gemeinschaft in Deutschland ein Zeichen dafür,
dass die Verantwortung für die Verbrechen jener
Zeit wahrgenommen wird. Denn nur wer die Geschichte
kennt und sie als Auftrag für die Zukunft annimmt,
kann verhindern, dass sie sich wiederholt.
Dr. Rat: Vor 1933 waren überdurchschnittlich viele
Zahnärzte Angehörige jüdischen Glaubens. Doch nicht
nur der Anteil der Juden war in der Zahnärzteschaft zu
der damaligen Zeit sehr hoch; es gab auch überdurchschnittlich
viele Nationalsozialisten unter den Zahn -
ärzten. Ist das eine „Besonderheit“?
Knobloch: In einigen Berufen waren jüdische
Bürger überproportional häufig vertreten, insbesondere
bei den Ärzten, Rechtsanwälten, Maklern,
Händlern, Bankiers und Künstlern. Das lag vielfach
an den Jahrhunderte alten antisemitischen Gesetzen,
die es jüdischen Bürgern verwehrten, sich für
andere Berufe zu entscheiden. Der Antisemitismus
war tief in der Gesellschaft verwurzelt, was die Diskriminierung
und Ausgrenzung der jüdischen Bürger
über Jahrhunderte belegt, aber unter der NS-Herrschaft
erlebte er seine radikalste Zuspitzung
im Genozid am jüdischen Volk.
Sowohl bei den Zahnärzten als auch in vielen anderen
Berufsgruppen gab es Mitläufer und Profiteure.
Nur wenige Mutige leisteten Widerstand oder halfen
jüdischen Bürgern. Viele legten die Unrechtsgesetze
sogar zuungunsten jüdischer Bürger aus, obwohl sie
die Wahl gehabt hätten, ein Auge zuzudrücken.
Dr. Rat: Entsteht aus dem überproportionalen Anteil
von Juden und Nazis in der Zahnärzteschaft eine besondere
Verantwortung für die heutige Generation der
Zahnärzte, sich der eigenen Geschichte zu stellen?
Knobloch: Die heutige Generation der Zahnärzte
trägt nicht die Schuld an den Verbrechen der Generation
ihrer Vorfahren, sondern die Verantwortung
dafür, dass die Erinnerung an die Vergangenheit
wachgehalten wird und die Lehren daraus gezogen
werden. Die Zahnärzte haben daher wie auch unsere
gesamte Gesellschaft die Verpflichtung, den
Anfängen zu wehren und jeglicher Form von Antisemitismus
entschieden entgegenzutreten.
Dr. Rat: Aber es gab auch andere Mediziner, wie
beispielsweise
den Direktor der Berliner Charité, Karl Bonhoeffer,
der sich mit großer Leidenschaft für seine jüdischen
Mitarbeiter einsetzte und dadurch mindestens
zwei Ärzten und ihren Familien das Leben retten konnte.
Welche Lehren können wir aus dem Verhalten von
Menschen wie Bonhoeffer ziehen?
Knobloch: Es gab damals auch Helfer, die jüdische
Bürger – auch ich gehöre dazu – versteckten, obwohl
sie dadurch ihr eigenes Leben riskierten. Den
Mut dazu hatten nur wenige. Die stillen Helden
jener Zeit führen der heutigen Gesellschaft vor
Augen, wie wichtig Zivilcourage, die Verteidigung
der demokratischen Grundwerte und der Einsatz
für Toleranz und Menschlichkeit auch in schwierigen
Zeiten sind.
Dr. Rat: Das Ehepaar Ebell hat eine Ausstellung über
den Approbationsentzug bei jüdischen Ärzten erarbeitet,
die unter anderem in den Räumen der Kassenärztlichen
Vereinigung Bayerns (KVB) zu sehen war. Diese
Ausstellung bildet die Grundlage für die Ausstellung,
die ab Ende Januar kommenden Jahres im Münchner
Zahnärztehaus gezeigt wird. Wie bewerten Sie die Aussagekraft
dieser Ausstellung?
Knobloch: Die Ausstellung zum Approbationsentzug
1938 ist konzeptionell gut durchdacht. Die Dokumentationen
mit den persönlichen Schicksalen
jüdischer Ärzte nach 1933 vermögen es, ergreifende
Einblicke in jene dunkle Zeit zu gewähren. Die Ausstellung
verdeutlicht, wohin die Verletzung der Menschenrechte
und der Verlust jeglicher Menschlichkeit
führen können und beinhaltet wichtige ergänzende
Aspekte der Aufarbeitungsarbeit. Daher war
es mir ein großes Anliegen, die Schirmherrschaft für
die Ausstellung zu übernehmen. Ich wünsche Ihnen,
sehr geehrter Herr Dr. Rat, und Ihrem Verband eine
erfolgreiche Ausstellung im Münchner Zahnärztehaus.
Dr. Rat: Sehr geehrte Frau Knobloch, ich bedanke mich
herzlich für das Gespräch. |