70 Jahre danach:
Approbationsentzug 1938
Aus einer Rede anläßlich des 70. Jahrestags des Approbationsentzugs
jüdischer Ärzte
Dr. Janusz Rat, München
1990 erschien ein Buch
Simon Wiesenthals mit dem Titel: „Jeder Tag ein Gedenktag“. Wiesenthal hat darin
Verbrechen um Verbrechen aufgelistet, die gegen Juden im Laufe von Jahrhunderten
begangen worden sind. So wird jeder Tag des Jahres zum Gedenktag, an jedem Tag
gibt es Grund zur Trauer.
Der Jahrestag des Approbationsentzugs jüdischer Ärzte ist ein
besonderer Gedenktag.
Laut einer Umfrage weiß kaum ein Medizinstudent, dass sich die
deutsche Ärzteschaft weit mehr als die Durchschnittsbevölkerung
nationalsozialistisch organisiert hatte. Der Eindruck, die medizinischen
Verbrechen im Nationalsozialismus seien nur von einigen wenigen gewissenlosen
Ärzten begangen worden, die sich von der NS-Ideologie hatten verführen lassen,
ist schlicht falsch, denn Hitlers Machtergreifung wurde von vielen freudig
begrüßt: 45 Prozent aller Ärzte traten nach 1933 in die NSDAP ein – doppelt so
viele, wie beispielsweise Lehrer. 26 Prozent traten in die SA, die
„Sturmabteilung“ ein, den politischen Kampftrupp der NSDAP. Im Vergleich zur
Durchschnittsbevölkerung waren Mediziner siebenmal häufiger in den
„Schutzstaffeln“, der SS der NSDAP vertreten. Im gleichen Jahr gingen die beiden
größten ärztlichen Standesorganisationen, der Hartmannbund und der Deutsche
Ärztevereinsbund, mit dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB)
ein Bündnis ein.
Der seit 1933 amtierende Vorsitzende des Reichsverbands der
Zahnärzte Deutschlands, Dr. med. dent. Ernst Stuck,
gratulierte Hitler zu seinem 44. Geburtstag mit folgendem Telegramm:
"Der Reichsverband der Zahnärzte Deutschlands grüßt in heiliger
Zuversicht den geliebten Kanzler und Befreier aus tiefster deutscher Not und
entbietet die herzlichsten Glückwünsche. Die deutsche Zahnärzteschaft verspricht
mit Leib und Seele an dem großen Werk der inneren und äußeren Befreiung des
Deutschen Volkes mitzuarbeiten.“
Ende des Zitats.
„Viele deutsche Ärzte haben sich im
Ersten Weltkrieg bereits an energisches ,Durchgreifen' und Missachtung der
Patientenrechte gewöhnt, schon lange vor 1933 den späteren
nationalsozialistischen Herrschern bereitwillig, ja begeistert angedient“,
schreibt der Arzt und Medizinhistoriker Till
Bastian in seinem Buch „Furchtbare Ärzte“.
Zwar gab es einige, die sich im Widerstand gegen Hitler
engagierten und dafür mit dem Leben bezahlten: Hans
Scholl und andere Mitglieder der Münchner Widerstandsgruppe "Weiße Rose"
studierten Medizin, auch am Hamburger Widerstand beteiligten sich Ärzte. Dennoch
schlossen sich nur ein paar Dutzend organisierten Gruppen an. Öffentlichen
Widerstand leisteten Mediziner nur in Ausnahmefällen.
Viele unterstützten das Nazi-Regime bis zuletzt und gaben nach
dem Krieg vor, immer schon dagegen gewesen zu sein – wie zum Beispiel der
berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch. Der Chefarzt der Berliner Charité
protestierte im privaten Kreis gegen Euthanasie und Antisemitismus, zählte
jedoch Hitler und Goebbels zu seinen Patienten und stellte sich dem System als
Generalarzt der Wehrmacht zur Verfügung.
Ralph Giordano bezeichnet dies als „Zweite Schuld“ in seinem
gleichnamigen Buch: die Verleugnung, Verdrängung oder Verheimlichung des
Geschehenen durch die Täter, statt Aufbereitung, Erkenntnis, Reue und Abbitte.
Viele Ärzte, die schon vor der sogenannten Machtübernahme
praktiziert hatten, übernahmen die NS-Ideologien kritiklos. 1934 trat das Gesetz
zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Darin wurde die
Zwangssterilisierung von Menschen mit „Schwachsinn“, Schizophrenie, Epilepsie,
erblicher Blindheit und Taubheit, körperlichen Missbildungen oder schwerem
Alkoholismus beschlossen. Etwa 350.000 Menschen wurden unfruchtbar gemacht – von
ganz normalen Medizinern an ganz normalen Krankenhäusern wie der I.
Universitätsfrauenklinik München: 1.345 Frauen wurden dort zwangssterilisiert.
Auch am Massenmord an behinderten und geisteskranken Männern und
Frauen beteiligten sich "ganz normale Ärzte". Hitler bezweckte damit "das
Ausmerzen nutzloser Esser", die in Irrenhäusern verwahrt für das Reich von
"keinem Nutzen" mehr waren. Organisiert wurde die "Vernichtung lebensunwerten
Lebens" unter dem Namen "Aktion T-4" von der Berliner Zentrale Tiergartenstraße 4: Deutsche Ordinarien für
Psychiatrie und Nervenheilkunde erhielten Meldeformulare für ihre Patienten.
Danach wurde beschlossen, wer in den insgesamt sechs Tötungsanstalten umkommen
sollte.
Nach dem Krieg wurde das Gesetz nicht etwa umgehend außer Kraft
gesetzt – im Gegenteil: Jahrzehntelang bemühten sich die Behörden und die
psychiatrische Wissenschaft (!), die eugenischen Kerngedanken des Gesetzes zu
retten und die Wiedergutmachungsansprüche der Betroffenen zu minimieren. Diese
lebten mit dem Makel der Minderwertigkeit, sprachen aus Scham nicht über das
ihnen angetane Leid, stellten kaum Anträge. Und da sind wir wieder bei der
„zweiten Schuld“.
Doch da war ein Mann, ein hochkarätiger Wissenschaftler,
ausgezeichnet unter vielem anderen mit der Hippokrates-Medaille, dessen
Verdienst es ist, ungefähr ab 1980 deren kleinen „Interessenverband“ so
tatkräftig und öffentlichkeitswirksam – wie ein Megaphon – unterstützt zu haben,
dass der Bundestag 1987 ein Hearing veranstalten musste, in der die Opfer sich
zum ersten Mal öffentlich artikulieren konnten.
Anschließend bekamen sie eine Entschädigung vom 5.000 Mark, und
zwar ohne Einzelfallprüfung. Wichtiger aber war, dass durch die Aktion von
Klaus Dörner das so genannte
Sterilisierungsgesetz vom Bundestag im Jahr 1988 – 43 Jahre nach Kriegende! –
zum nationalsozialistischen Unrechtsgesetz erklärt wurde. Dass die Opfer auf
diese Weise endlich vom Makel der Minderwertigkeit befreit wurden, ist Klaus
Dörner zu verdanken.
Ich komme noch auf ihn zurück.
Es gelten in Deutschland unverändert einige
Buchstabenkombinationen an Autonummernschildern als obsolet, beispielsweise gibt
es kein Kennzeichen M-SS oder M-KZ. Was mich bis heute stört, ist, dass alle
deutschen Vertragszahnärzte unverändert bis heute Mitglieder einer K-Z-V sind,
der Abkürzung von "Kassenzahnärztlicher Vereinigung". Ein Schlüsselerlebnis
hatte ich, als ich vor drei Jahren als KZVB-Vorsitzender eine Kreditkarte
erhielt, die wegen der langen Bezeichnung und der begrenzten Buchstabenanzahl
dann die Abkürzung „KZ Vereinigung Bayerns“ und meinen Namen enthielt.
Es wäre schon lange an der Zeit gewesen, seitens des
Gesetzgebers mehr Sensibilität zu zeigen und die KZ-Ven z. B. in VZVen
umzubenennen, in Vertragszahnärztliche Vereinigungen, und entsprechend die KVen
in Vertragsärztliche Vereinigungen, noch dazu, weil wir schon lange nicht mehr
Kassenärzte und Kassenzahnärzte sind, sondern Vertragsärzte und
Vertragszahnärzte.
Kaiser Wilhelm hat im § 29 der Gewerbeordnung für das
Deutsche Reich vom 21. Juni 1869, die erste Approbationsordnung für Ärzte,
Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker verkündet. Fast 70 Jahre später erfolgte der
Approbationsentzug der jüdischen Heilberufsangehörigen. Und wiederum 70 Jahre
später begehen wir einen Gedenktag wegen des Approbationsentzugs. Der Eid des
Hippokrates war mit dem Approbationsentzug außer Kraft gesetzt.
Diesem Akt folgten die vielen Dr. Mengeles, deren Untaten –
Menschenversuche aller Art – hier nicht erneut beschrieben werden müssen. Es
herrschte eine Medizin der Unmenschlichkeit.
Jeder Medizinstudent kennt die
Henle-Schleife, den Auerbach-Plexus, den
Edinger-Kern und die
Herxheimer-Reaktion, aber kaum einer weiß, dass diese Begriffe nach
jüdischen Ärzten benannt worden sind. Sie hatten Ende des 19. Jahrhunderts die
deutsche Medizin mit ihren Forschungsergebnissen berühmt gemacht. Das
Nazi-Regime nahm darauf keine Rücksicht: Juden sollten aus der Medizin ebenso
vertrieben werden wie aus jedem anderen Bereich. Da zählten nicht Namen, die
hier nur exemplarisch genannt werden sollen, wie
Paul Ehrlich, der den Nobelpreis für die Entdeckung des ersten Mittels gegen
Syphilis erhielt, oder Sigmund Freud, den
Begründer der Psychoanalyse, oder die Geschichte der modernen Hygiene, die 1846
mit Ignaz Semmelweiss begann und der dem
Massensterben an Kindbettfieber ein Ende bereitete. Oder denken wir an Casimir Funk, der 1912 die Vitamine entdeckte und sie
auch erstmals als solche benannte, nämlich B1, B2, B3, Vitamin C und Vitamin D,
oder den Entdecker der Glykolyse, Otto Fritz
Mayerhof, Nobelpreis 1922.
Die Liste ist lang – sehr lang. Es würde dauern, alle
aufzuzählen.
Nur wenige deutsche Mediziner setzten sich für ihre jüdischen
Kollegen ein – obwohl das durchaus möglich gewesen wäre. Karl Bonhoeffer, Direktor der Nervenklinik an der
Berliner Charité, verlängerte die Verträge seiner jüdischen Mitarbeiter, soweit
die Gesetze ihm Spielraum ließen. Als er ihre Entlassung nicht mehr verhindern
konnte, verschaffte er ihnen Arbeitsstellen im Ausland. Für mindestens zwei
Ärzte und ihre Familien war sein Einsatz lebensrettend.
An der Vertreibung aus dem Beruf waren Ärzterepräsentanten
maßgeblich beteiligt. Es war eine „institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen
den Spitzenverbänden der deutschen Ärzteschaft und dem NS-Gesetzgeber“, wie es
der ehemalige Präsident der Bundesärztekammer
Karsten Vilmar beschrieben hat. Ich zitiere Vilmar weiter: „Führende
Vertreter der Ärzteschaft haben sich aktiv an der Vertreibung ihrer jüdischen
Kollegen und Kolleginnen beteiligt“. Ende des Zitats.
Drei Faktoren waren dabei ausschlaggebend:
Die Hörigkeit für die Nazi-Ideologie des arischen Blutes, Neid und die
Ausschaltung von ärztlicher oder zahnärztlicher Konkurrenz.
Professor Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner, den ich bereits
erwähnt hatte, gilt als der vielleicht profilierteste Vertreter der deutschen
Sozialpsychiatrie. Er bezeichnete den Approbationsentzug jüdischer Ärzte und
Zahnärzte in seinem Festvortrag bei der Gedenkveranstaltung vor zehn Jahren, bei
der ich anwesend sein durfte, als „berufsständische
Vernichtung der jüdischen Kollegen“.
Ignaz Bubis, der 1999 verstorbene Vorsitzende des
Zentralrats der Juden in Deutschland, hat bei der gleichen Veranstaltung in
seiner Gedenkrede gewarnt: „Dies ist nicht nur eine
Gedenkstunde, sondern auch eine Warnung an die heutige Gesellschaft. Die
Geschichte wiederholt sich!"
Ignaz Bubis beendete damals seine Rede mit dem Zitat von Pastor Martin Niemöller. Ich möchte – auch zu seinem
Andenken – meine Rede ebenso beschließen:
„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialisten einsperrten, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialist.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie die Juden einsperrten, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren
konnte.“
Ich danke den Initiatoren und Organisatoren dieser
Gedenkveranstaltung und Ausstellung. Ich danke Ihnen allen für Ihr Kommen. Sie
zeigen durch Ihre Präsenz auch Ihre Wachsamkeit für mögliche Fehlentwicklungen
in unserer Gesellschaft. Ich danke Ihnen.
Dr. Janusz Rat
Zahnarzt, Vorsitzender des Vorstandes
Kassenzahnärztliche Vereinigung Bayerns
25. Juli 2008
Rede von Dr. Janusz Rat aus Anlass des 70. Jahrestags des Approbationsentzugs
jüdischer Ärzte
Jüdische Ärzte zwischen
nationalsozialistischer Verfolgung, Emigration und Wiedergutmachung:
Zerrissene Biographien
Der Approbationsentzug im Jahre 1938 stellte eine Zäsur im Leben jüdischer Ärzte
dar. Daneben beeinträchtigten weitere nationalsozialistische
Verfolgungsmaßnahmen das Leben und Wirken jüdischer Mediziner während des
National-sozialismus und die Nachwirkungen von Flucht und Vertreibung prägten
die Lebenswelt der Verfolgten weit über das Jahr 1945 hinaus...
Approbationsentzug 1938:
Und keiner hat es gewusst?
Als Vorsitzender des Jüdischen Ärzteverbandes Paul Ehrlich vertrete ich etwa 80
Kolleginnen und Kollegen in ganz Bayern. Es sind 20 Jahre her, 50 Jahre nach
Approbationsentzug für jüdische Ärzte in Deutschland, als wir, auf der Suche
nach unseren Wurzeln, diesen Verband zu neuem Leben erweckten...
Ausstellung in München:
Approbationsentzug 1938
In München ist zur Zeit die Ausstellung „Approbationsentzug 1938“ zu sehen.
Darin wird anhand von Dokumenten und persönlichen Lebenswegen auf das Schicksal
jüdischer Ärztinnen und Ärzte aufmerksam gemacht, die zum Zeitpunkt der
Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 in München lebten und
arbeiteten...
|