„Annäherung an Bruno Bettelheim“ – die erste posthume Studie über Leben und Wirken Bruno Bettelheim

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Drei Jahre nach Bettelheims Selbstmord erschien das vom Bettelheim-Forscher Roland Kaufhold herausgegebene Buch „Annäherung an Bruno Bettelheim“ – die erste und bis heute anregungsreiche, gut lesbare posthume Aufarbeitung des Lebens und Wirkens dieses Pioniers der Psychoanalytischen Pädagogik und jüdischen Exilanten. Bettelheim, 1903 in Wien geboren, musste 1939 als Jude und psychoanalytischer Pädagoge in die USA emigrieren., nachdem er ein Jahr in den Konzentrationslagern von Dachau und Buchenwald inhaftiert war. Sein Leben und Wirken galt der Arbeit mit emotional schwerstgestörten Kindern. Im Alter von 86 Jahren ist Bettelheim 1990 freiwillig aus dem Leben geschieden…

Diese „Annäherung an Bruno Bettelheim“ veröffnet erstmals einen systematischen Zugang zu seinem umfangreichen psychoanalytischen und pädagogischen Gesamtwerk. Fachleute aus den USA, aus Österreich, Frankreich und Deutschland nähern sich in biographisch orientierten Essays dem Lebensweg sowie der Persönlichkeit dieses jüdischen Überlebenden an. Weiter werden mehrere Interviews mit Bruno Bettelheim aus seinen letzten Lebensjahren (David James Fisher, Herlinde Koelbl, Daniel Karlin, Celeste Fremon) veröffentlicht, in denen Bettelheim, an der Schwelle des Todes stehend, die ihm wichtigsten Themen, persönlichen Motive sowie seine wissenschaftliche und praktische Arbeit reflektiert. Ernst Federn, der mit Bettelheim gemeinsam in Buchenwald inhaftiert war und später zu einem Pionier einer Psychologie des Terrors wurde, erinnert an Bettelheims wegweisende, 1942 verfasste Studie “Individuelles und Massenverhalten in Extremsituationen“. Abgeschlossen wird dieser Band durch die Erstpublikation des Briefwechsels (1946–1985) zwischen Bettelheim und seinem engen Freund und Kollegen Rudolf Ekstein. Die im Anhang publizierte weltweit erste Bibliographie zum Gesamtwerk ist für die zukünftige wissenschaftliche Arbeit zum Werk Bettelheims unverzichtbar.

Rezension zu: Roland Kaufhold (Hg.) (1994): Annäherung an Bruno Bettelheim. Mit einem Vorwort von Rudolf Ekstein

Als Annäherung an den Menschen Bruno Bettelheim und an sein Werk versteht sich das von Roland Kaufhold herausgegebene und mit viel Mühe und Liebe zum Gegenstand zusammengestellte Buch.

Das Bedürfnis, sich Bruno Bettelheim „anzunähern“, resultiert – so der Herausgeber – aus der Diskrepanz zwischen der großen Bekanntheit Bettelheims und der Tatsache, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bettelheim kaum stattgefunden hat. Zum anderen lösen die Angriffe und Diffamierungen, die Bettelheim nach seinem Freitod im März 1990 posthum ereilten und zu denen er nicht mehr Stellung nehmen konnte, bei vielen Autoren des Buches den Wunsch aus, das Lebenswerk Bruno Bettelheims zu würdigen.

Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt, von denen das erste und das zweite den breitesten Raum einnehmen. Das erste Kapitel enthält verschiedene Aufsätze, Gespräche und Interviews über den Menschen Bruno Bettelheim und sein Schicksal. Die Verbindung des Einzelschicksals mit der Geschichte dieses Jahrhunderts wird oftmals sehr anschaulich. Im zweiten Kapitel nehmen verschiedene Autoren Stellung zu Bettelheims wissenschaftlichen Arbeiten. Im dritten Kapitel finden sich Aufsätze, in denen die Bedeutung Bettelheims für Sozialarbeit, Heimerziehung und Heilpädagogik reflektiert wird. Das vierte Kapitel gilt dem Briefwechsel zwischen Bruno Bettelheim, Paul Federn, Ernst Federn sowie Rudolf Ekstein. Eine Auswahl dieses Briefwechsels ist faksimile abgedruckt und vom Herausgeber kommentiert.

Das fünfte Kapitel besteht aus dem vollständigen Abdruck des offenen Briefes, den David James Fisher und Rudolf Ekstein an die Zeitschrift „Newsweek“ geschrieben hatten und der in einer nur „verstümmelten“ Form am 8.10.1990 abgedruckt wurde. Der Brief war eine Antwort auf den Artikel der Journalistin Nina Darnton, in dem Bruno Bettelheim schwere Vorwürfe gemacht wurden. Dieser Artikel ist – wie alle folgenden seiner Art – in diesem Buch nicht enthalten, als wäre die Veröffentlichung hier gleichzustellen mit einer Art Nestbeschmutzung, einer Herabsetzung auf das Niveau dieser Äußerungen. Das sechste Kapitel ist eine gut aufgearbeitete Bibliographie zu Bettelheims Werken und zur Sekundärliteratur, einschließlich Rezensionen und Zeitungsartikeln.

Bettelheim, der 1903 in Wien geboren wurde, als junger Mensch schon mit der Psychoanalyse in Berührung kam, emigrierte 1939 nach Amerika, nachdem er ein Jahr die Schrecken der Konzentrationslager in Dachau und Buchenwald überlebt hatte. Die Erfahrung der Lager hat sein weiteres Leben und seine Arbeit entscheidend geprägt. Er hat als erster versucht, das Phänomen der Konzentrationslager psychologisch und psychoanalytisch aufzuarbeiten, wobei auch in seine theoretischen Arbeiten die Erfahrung der Konzentrationslager eingeflossen ist. Die Gegenwärtigkeit der Lagererfahrung in Bettelheims Werk stört den kollektiven Verdrängungsprozess und mag somit – zumindest im deutschsprachigen Raum – für die geringe und widersprüchliche Rezeption seines Werkes mitverantwortlich sein. Die Erfahrungen des Konzentrationslagers und deren Auswirkung auf Bettelheims Leben und Arbeit werden in mehreren Beiträgen anschaulich herausgearbeitet, so im Aufsatz von Ernst Federn, der Bruno Bettelheim als Mithäftling in Buchenwald kennenlernte, in Herlinde Koelbls „Jüdische Portraits – Ein Gespräch mit Bruno Bettelheim“ oder im Gespräch zwischen Daniel Karlin und Bruno Bettelheim, wenn Bettelheim über die Schuld der Überlebenden spricht und die Scham darüber, sich so große Erniedrigungen gefallen lassen zu haben.

Das Portrait Bettelheims, das seine jahrzehntelangen Freunde Ernst Federn und Rudolf Ekstein zeichnen, ähnelt den Aussagen derer, die Bettelheim erst in seinen letzten Lebensjahren kennenlernen sollten. Er wird als „schwieriger“ Mensch, ein wenig „unnahbar“, „mitunter autoritär und barsch in seinen Urteilen“, „von einer Intoleranz gegenüber der Verrücktheit und Dummheit der Menschen“ (Fisher) geschildert, der von sich und seinen Mitarbeitern äußerstes verlangte, dabei von großer emotionaler Tiefe, Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit war, als ein Mensch, der sich mit ungeheurer Empathie und persönlichem Einsatz um seine Patienten gekümmert hat.

Beeindruckend ist, wie offen Bettelheim u.a. im Gespräch mit Celeste Fremon („Liebe und Tod“) von den Problemen des Alterns spricht, von der Trauer nach dem Verlust seiner Frau, von dem Gefühl, nicht mehr nützlich sein zu können, vom Rückzug der Libido von den Objekten, um dem Tod begegnen zu können und von den Gedanken und Plänen, sein Leben selbst zu beenden. Man wird beim Lesen gewahr, wie weitgehend wir das Alter als eigene zu bewältigende Lebensphase verdrängen und auch kaum in unsere psychoanalytischen Betrachtungen einschließen.

Unter den Aufsätzen des zweiten Kapitels finden sich detaillierte Auseinandersetzungen mit einzelnen Werken Bettelheims, so auch ein kritischer Aufsatz zu Bettelheims wohl populärstem Buch „Kinder brauchen Märchen“.

Wertvoll für die anfängliche Fragestellung nach der widersprüchlichen Rezeption Bettelheims sind die Gedanken, die Ulrike Schmauch in „Das Gefühl der Hölle. Sprache und Methode bei Bruno Bettelheim“ darlegt. In der Sprache Bruno Bettelheims findet man im Vergleich zur Sprache anderer Psychoanalytiker wenig Fachterminologie, er hat keine theoretisches Gebäude errichtet, keine weitere Metaebene eingeführt. Bettelheims Darstellungen „bleiben in direktem Bezug zum ganzen, leidenden Individuum“ (S. 130). Ulrike Schmauch versäumt es nicht, auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die auftreten können, will man sich über ein psychisches Niveau, einen psychischen Prozess oder Zustand klare Vorstellungen machen. Mit dieser „ganzheitlichen“ Sprache entfallen aber Distanzierungsmöglichkeiten zwischen dem kranken Objekt Patient und dem Analytiker.

Wer Bettelheim liest, kommt tatsächlich kaum darum herum, über das menschliche Leben, soziale Verhältnisse und sich selbst nachzudenken.

Das Buch leistet, was es im Titel verspricht, eine Annäherung an Bruno Bettelheim. Die kritische Auseinandersetzung beschränkt sich auf die oben zitierten Charakterzüge Bettelheims und auf Einzelheiten in seinem wissenschaftlichen Werk. Die Angriffe gegen Bettelheim werden als unverschämte Diffamierungen dargestellt bzw. sie werden „tiefenpsychologisch“ erklärt und „wegerklärt“ – so als Entidealisierungen einer ehemals hochidealisierten Person oder als Reaktionen auf seinen Selbstmord.

Als Leser ist man geneigt, der Sichtweise des Buchs zu folgen; man schließt das Buch mit einem tiefen Respekt vor dem Leben, dem Werk und dem Tod Bruno Bettelheims; und dennoch würde man sich eine sorgfältigere Dokumentation der kritischen Stimmen wünschen oder Stellungnahmen von Mitarbeitern der Orthogenic School, selbst wenn dies nicht das Anliegen des Buches ist.

Elfriede Freiberger (München). Diese Rezension ist in der Zeitschrift Kinderanalyse, 2. Jg., H. 4/1994, S. 477-479 erschienen.

Das Buch Annäherung an Bruno Bettelheim (Reihe Psychoanalytische Pädagogik, Bd. 13) (336 S.), welches 1994 – vier Jahre nach Bettelheims Freitod – von Roland Kaufhold beim Matthias-Grünewald- Verlag, Mainz herausgegeben wurde, ist in einer kleinen Restauflage beim Verfasser für 12 € (plus Porto) erhältlich. Der Verlag existiert nicht mehr. Bestellung über: rolandkaufhold (at) netcologne.de

Annäherung an Bruno Bettelheim (Reihe Psychoanalytische Pädagogik)

Inhaltsverzeichnis

Rudolf Ekstein: Vorwort

Roland Kaufhold: Einleitung

Kap. I. Annäherung an Bruno Bettelheim

Roland Kaufhold: Engagement als Lebensprinzip

Grenzgänge zwischen den Kulturen. Das letzte Gespräch zwischen Bettelheim und Rudolf Ekstein

Herlinde Koelbl: Jüdische Portraits – Ein Gespräch mit Bruno Bettelheim

Daniel Karlin: Bruno Bettelheim über seine Arbeit, die Krise der Psychoanalyse, Alter und Selbstmord

Roland Kaufhold: Psychoanalyse, Kindererziehung und das Schicksal der Juden. Die Lebensbilanz des jüdischen Psychoanalytikers Bruno Bettelheim

Rudolf Ekstein: Mein Freund Bruno (1903 – 1990). Wie ich mich an ihn erinnere

David James Fisher: Hommage an Bruno Bettelheim

Celeste Fremon: Liebe und Tod

Michael Ignatieff: Die Einsamkeit der Überlebenden

II. Zu Bruno Bettelheims wissenschaftlichen Beiträgen

Ernst Federn: Bruno Bettelheim und das Überleben im Konzentrationslager

Ulrike Schmauch: Das Gefühl der Hölle. Sprache und Methode bei Bruno Bettelheim

Kersten Reich: Bettelheims Psychologie der Extremsituation

Kersten Reich: Die symbolische Wunden

Maud Mannoni: Diese Kinder, die Autisten genannt werden

Rotraut Hoeppel: Kinder brauchen Märchen

Roland Kaufhold: Das Spiel als Tor zum bewussten und unbewussten Seelenleben des Kindes

III. Zu verschiedenen Praxisfeldern

Stephan Becker: Die Bedeutung Bruno Bettelheims für die psychoanalytische Sozialarbeit

Manfred Gerspach: George, der Ausreißer. Bruno Bettelheims Anregungen für die Heilpädagogik

Christel Manske: Die Kultur des Schweigens und die Kultur des Widerstands

IV. Zum Briefwechsel zwischen Bruno Bettelheim und Ernst Federn und zwischen Bettelheim und Ekstein

Literaturhinweis:
Rolf Wagner: Psychoanalytische Pädagogik – ein Gespräch zwischen Roland Kaufhold und Rolf Wagner. In: Fragen und Versuche Nr. 100, Juli 2002 (Zeitschrift der Freinet-Pädagogen). Internet: http://www.text-galerie.de/kaufhold_wagner.htm

Für 12 € erhältlich: Bestellung über: rolandkaufhold (at) netcologne.de.

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