"Historische Existenz
und Identität der Deutschen"
Kann man nach dem
Bezug der westdeutschen Linksterroristen zur nationalsozialistischen
Vergangenheit ihrer Elterngeneration auch fragen, indem man nicht
nur nach Brüchen, sondern auch nach Kontinuitäten und Identitäten
mit eben dieser Generation sucht? Zumindest hinsichtlich des
Antisemitismus, wenn auch in einer anderen Form, scheint diese Suche
berechtigt. Die Journalistin Jillian Becker hat Kontinuitäten der
ersten Generation der RAF zum Nationalsozialismus vor allem
bezüglich der Menschenverachtung und der Gewalttätigkeit schon früh
postuliert.
Ende der 1980er Jahre hat sich der Sozialphilosoph Norbert Elias und
jüngst die Historikerin Dorothea Hauser auf die Suche nach
Kontinuitäten begeben, wobei in ihren Erörterungen dem
Antisemitismus keine entscheidende Bedeutung zukommt. Beide
fokussieren in ihrer Analyse das Topos der Kriegsverlierer und
weisen auf ähnliche Entwicklungen in Italien und Japan hin. Dorothea
Hauser nimmt dabei auch die "völkische" Komponente in den
Selbstexplikationen der RAF ins Visier.
Dorothea Hausers
Feststellung, die RAF übertrage die Idee des Befreiungsnationalismus
auf die BRD als zu befreiende Nation, lässt sich an vielen Passagen
der "Erklärung zur Sache" nachvollziehen.
Die angeblich von den USA aufgestellte Behauptung einer zu
antidemokratischen Einstellungen neigenden "Charakterstruktur des
deutschen Volkes" setzen die Autoren der "Erklärung" mit dem
Pejorativ des "geborenen Verbrechers" gleich, das die französischen
Kolonialherren "dem Algerier" aufgedrückt hätten:
"Der ‚geistigen Infantilität des Eingeborenen’, mit der der
Imperialismus seit je in der Dritten Welt operiert gegen die Völker,
entspricht die 'politische (demokratische) Infantilität'. Mit der
die US-imperialistische Besatzungsmacht in Westdeutschland gegen das
Proletariat operierte."
Den kolonialistisch beherrschten
"Völkern" entspricht in den Augen der RAF-Autoren das von den USA
kolonialisierte Proletariat in Westdeutschland. Verschwommen bleibt
indes, wer im Sinne der RAF außer dem Proletariat zum "Volk"
überhaupt gehört. Das wird im Verlauf des Textes nur noch
widersprüchlicher, wenn die Begriffe "die Deutschen" und "das
Proletariat" synonym verwendet werden. Denn im weiteren Text heißt
es:
"Also ging es
für die Besatzer darum, nach den Bestimmungen ihrer psychologischen
Herrschaftstechniken‚ die Deutschen zur Demokratie zu erziehen’ –
d.h. die Kultur, das Geschichtsverständnis, das Bewußtsein der
historischen Existenz und Identität nicht nur zu verändern, sondern
vor allem und zuerst zu brechen."
Wenn die
RAF-Autoren an dieser Stelle "die Deutschen" als natürlich
gewachsene, homogene Kulturnation vorstellen, deren "historische
Existenz und Identität" allein durch die USA bedroht werde, fragt
sich, wo denn innerhalb dieser Nation ein Klassengegensatz zu
verorten wäre. Stattdessen verlagern die Autoren die Gegensätze nach
außen. Der Antagonismus zwischen Imperialismus und Dritter Welt sei
gleichbedeutend mit dem Antagonismus von Imperialismus und
Proletariat, der wiederum gleichbedeutend sei mit dem Antagonismus
zwischen den USA und der deutschen Nation.
Um zu
verdeutlichen, wie dieser in der Dritten Welt und Deutschland
analoge imperialistische Mechanismus angeblich wirke, zitieren die
Autoren den damaligen PLO-Chef Yassir Arafat:
"Der Imperialismus mit seinen verschiedenen Namen ist in unsere
Länder eingedrungen, um die Menschen zu erniedrigen, um ihn (sic!)
seiner zivilisatorischen, nationalen und menschlichen
Entwicklungsmöglichkeiten zu berauben, um ihm die grundlegenden
Menschenrechte zu entziehen, um dann seine Rolle in der Geschichte
und der Kultur zu unterdrücken, um seine geistigen und materiellen
Energien auszubeuten und um seine schöpferische Fähigkeiten zu
lähmen."
Angesichts der
aktiven Kontakte mit der palästinensischen Guerilla, von denen sich
die Anführer der RAF im bewaffneten Kampf hatten schulen lassen,
verwundert es nicht, dass die Autoren der "Erklärung" Yassir Arafat,
der zu dieser Zeit ganz offiziell die Zerschlagung Israels forderte,
als Referenz heranziehen. Das RAF-eigene Verständnis von
Kolonialisierung entblößt in dieser Gleichsetzung der Beziehung
zwischen den USA und Deutschland mit der Beziehung zwischen Israel
und Palästina gänzlich seine Absurdität, wenn man sich vor Augen
führt, welche Rolle das nationalsozialistische Deutschland für die
Entstehung des Staates Israel gespielt hatte. Stattdessen soll
Deutschland, so die RAF-Logik, von den USA mit dem Ziel besetzt
worden sein, den Deutschen die Menschenrechte zu entziehen. So
perfide dürften nur wenige Texte zeigen, welche Gestalt sekundärer
Antisemitismus annehmen kann. Doch wie gelang es den Autoren, die
Tatsache zu verdrängen, dass es Deutsche waren, die millionenfach
gemordet und Menschenrechte verletzt hatten, und dass in den
Verfassungen der Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches
Menschenrechtsstandards erst wieder verankert werden mussten?
Für die Motive
der RAF-Terroristen bringt Dorothea Hauser als emotionalen Faktor
die Scham ins Spiel. Tatsächlich haben an anderer Stelle zwei der
RAF-Gründer, Horst Mahler und Ulrike Meinhof, als Motive ihres
Handelns formuliert, sich nicht mehr für das "deutsche Volk" schämen
zu müssen.
Deshalb spricht Hauser nicht von Schuldabwehr, sondern von
Schamabwehr. Damit versucht sie insbesondere die verbreitete These
zurückzuweisen, die RAF habe versucht, den unterlassenen Widerstand
ihrer Elterngeneration im Nationalsozialismus stellvertretend
nachzuholen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass im
Linksterrorismus sowohl Scham- als auch Schuldgefühle abgewehrt
wurden. Belässt man es bei der Analyse der in der "Erklärung zur
Sache" herausgearbeiteten Muster der Schuldabwehr und anderer von
RAF-Gründern verfasster Texte, dann ist es schwierig zu entscheiden,
ob es sich nun mehr um die Abwehr der Schuld der Elterngeneration
oder um die Abwehr der Scham über die Schuld der Elterngeneration
handelt. Nicht zu zweifeln ist allerdings daran, dass sich die
Gründer der RAF als nationale Befreiungskämpfer sahen, für die eine
kollektive Identität einer als kulturell homogen imaginierten Nation
wichtiger Bezugspunkt war.
Insofern liegt es nahe zu vermuten, dass es ihnen tatsächlich auch
darum ging, Schuld von "ihrem Volk" abzuweisen, mit dem sich eins
fühlten oder sich danach sehnten, sich eins fühlen zu können.
In der "Erklärung zur Sache"
finden sich Hinweise auf Motive einer solchen Schuldabwehr in
Zusammengang mit der Zurückweisung einer, so die Autoren der RAF,
von den USA behaupteten Kollektivschuld der Deutschen. Die
"propagandistischen Anstrengungen der US-Regierung, die Deutschen
insgesamt mit dem faschistischen Staat zu identifizieren", sei neben
der "Bestimmung", dass im Zweiten Weltkrieg nicht Industrieanlagen,
sondern die Wohnviertel Ziel der "amerikanischen Bomberkommandos"
gewesen seien, eine Methode zur "Demoralisierung" der Deutschen und
zur "präventiven Ausschaltung jedes Widerstandes in Deutschland
gegen die Pläne des US-Imperialismus" gewesen.
Während die
Autoren der "Erklärung" an anderer Stelle selbst eine "Kontinuität
der faschistischen Volksgemeinschaft" behaupten,
sind sie hier wie über weite Strecken der "Erklärung" bemüht, das
"deutsche Volk" vom Vorwurf des Faschismus zu entlasten. Wer
überhaupt Täter war, wird nicht thematisiert, die Problematik des "Mitläufertums"
nicht erwähnt. Stattdessen werden nur einige wenige in der
politischen Führungsriege und die üblichen "Monopolkapitalisten" für
das Funktionieren der nationalsozialistischen Diktatur und ihre
Verbrechen verantwortlich gemacht. Besonders originell ist diese
Sichtweise freilich nicht, stellte sie doch die offizielle
Perspektive der DDR auf die jüngste deutsche Vergangenheit dar.
Schuldabwehr von links
Die eingangs zitierte Rede von
Auschwitz als "wichtigstes Codewort der Generationsbewegung, aus der
die RAF hervorging", impliziert zwei weit verbreitete Annahmen: Zum
einen stellt sie für die Akteure der westdeutschen
Studentenbewegung/APO der 1960er Jahre als entscheidendes Motiv
heraus, sie hätten die Schuld der Elterngeneration anprangern und
offen legen wollen. Zum anderen stellt sie eine Kontinuitätslinie
zwischen Studentenbewegung und der RAF her.
Wie passen aber
die von Autoren der RAF in der "Erklärung zur Sache" formulierten
Argumentationsmuster, welche die Elterngeneration entlasten und
Feindschaft gegen die USA und Israel propagieren, mit der Anklage
der Elterngeneration für die nationalsozialistischen Verbrechen
zusammen? War die Opposition gegen Politik und Gesellschaft, die
ehemaliges nationalsozialistisches Personal an gehobenen Positionen
wieder einsetzte, eine nur vorgeschobene Opposition? War das
Entsetzen über den Holocaust nicht authentisch? Oder driftete die
RAF soweit vom Kurs der Studentenbewegung ab, dass ursprüngliche
Motive ins Gegenteil verkehrt wurden?
An dieser Stelle
kann der zeithistorische Diskurs, in dem diese Fragen anzusiedeln
wären, nicht wiedergegeben, sondern nur diejenigen Punkte angerissen
werden, welche für die Suche nach Anknüpfungspunkten für die
Argumentationen der RAF hinsichtlich der Schuld der Elterngeneration
und der praktizierten Täter-Opfer-Umkehr einerseits, und der
Wahrnehmung der Rolle Israels und der USA andererseits relevant
erscheinen.
Eine sich in
jüngster Zeit durchsetzende zeithistorische Perspektive auf die
Studentenbewegung spricht dieser den tatsächlichen Einfluss auf die
Bearbeitung des nationalsozialistischen Erbes ab. Diese Bearbeitung
hätten andere Kräfte bereits früher und wirkungsvoller geleistet,
diese Leistungen wiederum seien von den Akteuren der
Studentenbewegung nicht berücksichtigt worden.
An den empirischen Beispielen ist kaum zu zweifeln.
Wie sehr jedoch zugleich personelle und ideologische Kontinuitäten
aus dem nationalsozialistischen Deutschland in Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft der BRD über die 1960er Jahre hinaus weiter wirkten
und die Anschuldigungen aus der APO zu einem nicht unwesentlichen
Teil noch immer auf reale Verhältnisse trafen, wird in dieser
Perspektive häufig ausgeblendet. Zudem stellt die Nachwirkung
einzelner Unternehmungen der Bearbeitung der nationalsozialistischen
Vergangenheit der Elterngeneration innerhalb des SDS in der
Vorgeschichte der Studentenrevolte, wie die von Reinhard Strecker
organisierte Ausstellung "Ungesühnte Nazi-Justiz"
einerseits, und der private Umgang der Bewegungsakteure mit der
Schuld der Elterngeneration andererseits, ein Forschungsdesiderat
dar. Festzuhalten bleibt, dass öffentlichen Anschuldigen von Seiten
der APO seit den Jahren 1967/68 über einen plakativen Charakter
selten hinauskamen. Gut dokumentiert, jedoch in journalistischen wie
wissenschaftlichen Retrospektiven auf die westdeutsche
Studentenbewegung noch immer oft übergangen, ist zum andern die
Variante eines sekundären Antisemitismus, der sich nach dem
Sechstagekrieg Israels gegen Ägypten im Juni 1967 recht schnell in
linken Kreisen unter dem Schutzschild des Antizionismus ausformte.
Dass linke
Intellektuelle, wenn sie von "Auschwitz" oder vom
"Nationalsozialismus" reden, zugleich den historischen Holocaust und
seine Nachwirkungen ausblenden, scheint ein im Nachkriegsdeutschland
schon früh sich herausbildendes Muster zu sein und sich weder auf
die revisionistische noch auf die kommunistische Argumentationslinie
beschränken zu lassen.
Auch schon vor dem Juni 1967 und Jahre vor dem Erstarken der
Studentenbewegung sträubten sich Intellektuelle der jungen
Bundesrepublik, den Holocaust als ein Geschehen zu begreifen, das
sich konkret auf ihre Gegenwart auswirkte. Überlebenden oder
Angehörigen der Opfer des Holocausts räumte zum Beispiel Hans Magnus
Enzensberger in seinem Essay von 1964 zum Eichmann-Prozess in
Jerusalem
keinen Platz ein. Die Auseinandersetzung mit dem vergangenen
Faschismus behindere die Beschäftigung mit dem gegenwärtigen, so
Enzensberger. Und wer sich mit "Auschwitz" beschäftigen wolle, solle
sich heute nicht mit dem Mord an den Juden beschäftigen, sondern mit
Hiroshima. Enzensberger macht hier nicht die Opfer des Holocaust zu
Tätern, wie es für den sekundären Antisemitismus charakteristisch
ist, sondern diejenigen, die gemeinsam mit den anderen Siegermächten
der nationalsozialistischen Diktatur und dem Holocaust ein Ende
bereiteten – die USA. Das Muster ist ähnlich: Auch Enzensberger
lenkt von Schuld und Verantwortung des eigenen Staatsvolks ab.
Mit der
Zuspitzung des Vietnamkriegs seit Mitte der 1960er Jahre nahm in der
linken Kritik Vietnam jenen Platz ein, den Enzensberger in seinem
Aufsatz von 1964 noch Hiroshima und zugleich, wie zahlreiche andere
Intellektuelle, die in der "Kampf-dem-Atomtod"-Bewegung der späten
1950er und frühen 1960er Jahre engagiert waren, der Bedrohung der
gesamten Weltbevölkerung, vor allem aber Deutschlands, durch die
nukleare Rüstung zuwies. In den "Voltaire-Flugschriften", einem
wichtigen Sprachrohr für linke Intellektuelle in den 1960er Jahren,
erschien im Oktober 1967 zum ersten Mal die deutsche Übersetzung von
Günther Anders’ "Nürnberg und Vietnam", eine Gegenüberstellung von
Anklagen gegen Kriegsgräuel in Vietnam und den in den Nürnberger
Prozessen verhandelten nationalsozialistischen Verbrechen. Darin
erscheinen die Amerikaner als die Nazis der Gegenwart, mit dem
Unterschied, dass ihnen nicht, wie den Deutschen, der Prozess
gemacht wurde. Das entspricht dem Diskursrahmen, in dem
linksradikale Gruppen nach dem Sechstagekrieg Israels gegen Ägypten
im Jahr 1967 immer wieder Palästinenser mit den Opfern des
Holocausts gleichsetzten.
Freilich zeigt
das Beispiel von Günther Anders auch, dass das Argumentationsmuster
des Gleichsetzens von nationalsozialistischen Verbrechen mit
Kriegsverbrechen in Vietnam nicht immer aus Motiven der Schuldabwehr
von Seiten der Nachkommen der NS-Täter und Mitläufer gespeist sein
muss, ebenso wenig wie Antiamerikanismus, sekundärerer
Antisemitismus und Israelfeindschaft grundsätzlich dasselbe sind.
Stattdessen ist davon auszugehen, dass sich die verschiedenen
Versatzstücke in unterschiedlichen Diskursen zusammenfügen und
überschneiden.
Betrachtet man den in der westlichen Welt aus den
Studentenbewegungen sich herauslösenden Linksterrorismus der 1970er
Jahre hinsichtlich der Feindschaft gegen Israel in einer
transnationalen Perspektive, haben Motive der Schuldabwehr des
Genozids an den Juden Europas sowie des Opferneids sicherlich nicht
universell und für alle Akteure das gleiche Gewicht. Fokussiert man
die westdeutsche APO und deren terroristische Ausläufer, dann sind
eben diese Motive jedoch unübersehbar: Als im Herbst 1969, noch
bevor sich die RAF gründete, eines der ersten linksextrem
motivierten Attentate der Bundesrepublik auf ein jüdisches
Gemeindezentrum während einer Gedenkveranstaltung zur
Reichspogromnacht zielte,
hatten weite Kreise der APO ideologisch längst eine
"Täter-Opfer-Rochade"
vollzogen. In Schriften des SDS, auf Flugblättern und in der
Zeitschrift "Agit 883" – einem Sprachrohr linker West-Berliner
Studenten –, waren, breit gestreut, Bekundungen der Solidarität mit
dem bewaffneten Kampf der Palästinenser gegen das "faschistische"
Israel formuliert worden. Auf einer Veranstaltung in Frankfurt war
der israelische Botschafter Asher Ben Nathan von Mitgliedern
der Al Fatah, des "Israelischen Revolutionären Aktionskomitees"
sowie des Frankfurter SDS
durch Rufchöre, die den Diplomaten in eine Reihe mit "Nazi-Kiesinger"
stellten, so massiv gestört worden, dass ein Austausch von
Argumenten nicht möglich war.
Das Ziel des versuchten Anschlags auf das jüdische Gemeindehaus in
Berlin erntete zwar in der linken Szene durchaus – in erster Linie
instrumentelle – Kritik,
doch im Rahmen antiisraelischer Agitationen waren deutlich
antisemitische Konnotationen weiterhin üblich.
Bislang ist nicht
bekannt, wie die späteren RAF-Gründer und Verfasser der "Erklärung
zur Sache" den versuchten Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus im
November 1969 und die anschließende Diskussion bewerteten. Von
Ulrike Meinhof gibt eine für die Zeitschrift "Konkret" im Juli 1967
verfasste Kolumne zur bundesrepublikanischen Rezeption des
Sechstagekrieges lediglich Auskunft darüber, dass die Journalistin
zu diesem Punkt noch nicht als Israelfeindin auftrat. Vielmehr
misstraute sie der plötzlich sich etablierenden Israelsympathie in
bürgerlich-konservativen Kreisen, welche mit Begriffen wie
"Blitzkrieg" und anderen nationalsozialistisch besetzten Metaphern
den israelischen Sieg glorifizierten.
In der 1972 von Ulrike Meinhof in der Haft als RAF-Terroristin
verfassten Schrift "Der Schwarze September" finden sich dann
ähnliche Argumentationsmuster, wie sie in dem mit "Schalom + Napalm"
überschriebenen Flugblatt
zum versuchten antisemitischen Anschlag der "Tupamaros Westberlin"
aus dem Jahr 1969 und einem Kommentar von Dieter Kunzelmann
vorgebracht wurden.
In dem RAF-Gemeinschaftswerk, der "Erklärung zu Sache" aus dem Jahr
1976, dozieren die Autoren der RAF zwar nicht wie Dieter Kunzelmann
über einen angeblichen "Judenknax"
der deutschen Linken oder, wie die Autoren des Bekenner-Flugblatts,
über den "schuldbewussten Deckmantel der Bewältigung der
faschistischen Gräueltaten gegen Juden".
Die Schlussfolgerung, dass die BRD an den "faschistischen
Gräueltaten Israels gegen die palästinensischen Araber"
entscheidend mitwirke, dass die früheren Opfer des Faschismus also
selbst zu Faschisten geworden seien, ist in der "Erklärung zur
Sache" aber ebenso zu lesen.
Doch wäre es
irreführend, diese Facetten eines sekundärantisemitischen
Antizionismus allein den terroristischen Ausläufern der
westdeutschen Studentenbewegung zuzuschreiben. Auch auf dem "Marsch
durch die Institutionen" und in den neuen sozialen Bewegungen sind
Manifestationen des Antisemitismus im antizionistischen Gewand
ausreichend dokumentiert.
Das deutet daraufhin, dass sich anhand des Umgangs mit der
nationalsozialistischen Vergangenheit jedenfalls keine Trennung
zwischen der Mehrheit der Studentenbewegung und der sich später
bewaffnenden Protagonisten vornehmen lässt. Auf welchen Wegen sich
jedoch so erstaunlich viele ehemalige Protagonisten der
Studentenbewegung sekundärantisemitische Argumentationsmuster
angeeignet haben, dem ist bislang in einer biografischen Perspektive
nicht konsequent nachgegangen worden.
>> Weiter
Anmerkungen:
Jillian Becker, Hitler’s Children: The
Story of the Baader-Meinhof Terrorist Gang,
Philadelphia 1977.
Wie die Autoren der RAF "Volk" begrifflich fassen, schreiben sie in
der "Erklärung zur Sache" indes nicht.
Auszüge aus der Erklärung zur Sache, a.a.O., S. 211.
Auszüge aus der "Erklärung zur Sache", a.a.O., S. 211; Dorothea
Hauser zitiert diese Stelle ebenfalls (Dorothea Hauser,
Deutschland, Italien und Japan: Die ehemaligen Achsenmächte und der
Terrorismus der 1970er Jahre, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.),
Die RAF und der linke Terrorismus,
Hamburg, S. 1272-1298; hier
S. 1289).
An anderer Stelle wird die Kontinuität mit "der faschistischen
Volksgemeinschaft" beklagt ("Erklärung" zur Sache", a.a.O., S. 212).
Auszüge aus der "Erklärung zur Sache", a.a.O., S. 211.
Dorothea Hauser zitiert aus Ulrike Meinhofs Text "geschichte der brd,
alte linke, fragment – zu den beweisanträgen" die Passage: "(...)
dass aus dem zusammenhang von proletarischem internationalismus die
geschichte eines volkes, wie es die des deutschen ist, und so unsere
geschichte mal aufhört, eine geschichte zu sein, über die (...) man
sich schämen müsste". (internationales komitee zur verteidigung
politischer gefangener in westeuropa (Hg.), letzte texte von
ulrike (o.O)., 1976, S. 37, zit. in: Dorothea Hauser, a.a.O.,
2006, S. 1294. Martin Jander zitiert Horst Mahler aus einem Gespräch
mit dem Bundesinnenminister Gerhart Baum: "Ich musste mich sehr
früh, als ich politisch wach wurde, schämen, Deutscher zu sein. Das
ist eigentlich eine fürchterliche Sache, wenn man sich nicht mit
seinem Volk identifizieren kann." (Martin Jander, "Horst Mahler",
in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF
und der linke Terrorismus, Hamburg, 372-397, hier S.
390).
Zum Konzept des Nationalstaats vgl. auch den von Ulrike Meinhof
verfassten Text "zum begriff des nationalstaats", in dem die Autorin
Nation als ein in der Vergangenheit liegendes, urwüchsiges Gebilde
vorstellt, das erst durch den Kapitalismus "nur noch zur Fiktion"
wurde. (Ulrike Meinhof, "zum begriff des nationalstaats", in:
internationales komitee zur verteidigung politischer gefangener in
westeuropa (Hg.), letzte texte von ulrike, o.O., 1976, S.50).
"Erklärung zur Sache", a.a.O., S. 212.
Thomas Haury, Antisemitismus von Links.
Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der
frühen DDR,
Hamburg 2002.
Den Diskurs zur zeithistorischen Bewertung
der Vergangenheitsbearbeitung in der Bundesrepublik fasst
Wilfried Mausbach zusammen: Wilfried Mausbach, "Wende um 360 Grad?
Nationalsozialismus und Judenvernichtung in der 'zweiten
Gründungsphase' der Bundesrepublik", In: Christina von Hodenberg
(Hg.), Wo "1968" liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der
Bundesrepublik, Göttingen 2006, S.15-47.
Vgl. Claudia
Fröhlich/ Kohlstruck, Michael (Hg.), Engagierte Demokraten.
Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999.
Michael Kohlstruck, "Reinhard Strecker – ,Darf man seinen Kindern
wieder ein Leben in Deutschland zumuten?’", in:
Claudia Fröhlich/
Kohlstruck, Michael (Hg.), Engagierte Demokraten.
Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S.
185-200.
Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines
schwierigen Verhältnisses, Frankfurt/Main 1990.
Vgl. Martin Kloke, a.a.O. sowie zur kommunistischen
Argumentationslinie: Tomas
Haury, Antisemitismus von Links. Kommunistische
Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR,
Hamburg 2002.
Hans Magnus Enzensberger, Reflexionen vor einem Glaskasten, in: Ders.:
Politik und Verbrechen: Neun Beiträge. Frankfurt/Main 1964,
S.7-40. In einem kurzen, von der Zeitschrift "Merkur" initiierten
Briefwechsel kritisierte Hannah Arendt dieses "Felix Culpa"
Enzensbergers, der sich daraufhin zu rechtfertigen suchte. Auf eine
ausführliche Antwort Arendts ging Enzensberger dann nicht mehr ein.
(Briefwechsel mit Hannah Arendt, Merkur, 19. Jg. 1965 (4), S.
381-385) Vgl. Helmut König, Vortrag auf der Tagung "Streit um
den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980",
11.10.2007, Berlin, sowie Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere
kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Köln 2001, S. 95f.
Weitere Beispiele seit 1964 liefern
Martin Klimke/ Wilfried
Mausbach, Auf der äußeren Linie der Befreiungskriege: Die RAF und
der Vietnamkonflikt", in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und
der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S.620-643, hier S. 623.
Vgl. Martin Kloke, a.a.O.; Thomas Haury, Zur Logik des deutschen
Antizionismus (Vorwort), in: Leon Poliakov (Hg.) Vom
Antisemitismus zum Antizionismus., Freiburg 1992. Allerdings
findet man bei Martin Kloke an anderer Stelle den Hinweis, dass die
Kolumnistin der Wochenzeitung Die Zeit, Marion Gräfin
Dönhoff, bereits im Jahr 1948 "eine Gleichsetzung der israelischen
Regierung mit dem NS-Regime" formulierte. (Marion Gräfin Dönhoff,
Völkischer Ordensstaat Israel, Die Zeit, Nr. 39 v. 23.9.1948, S.1.,
zit. in Martin Kloke, Zwischen Scham und Wahn. Israel und die
deutsche Linke 1945-2000,
http://www.stud.uni-hannover.de/~muab/kloke01.htm
[20.03.20048].
Günther Anders, 1902-1992, floh bereits im März 1933 vor dem
judenfeindlichen Umbau Deutschlands nach Paris, später nach New
York.
Vgl. Christina von
Braun/
Eva-Maria Ziege (Hg), Das ‚bewegliche’ Vorurteil. Aspekte des
internationalen Antisemitismus, Würzburg 2004.
Für eine eingehendere Beschäftigung mit diesen
Zusammenhängen müsste zudem zwischen bewussten und unbewussten
Argumentationsmustern einerseits, antisemitischen Einstellungen und
antisemitischem Handeln anderseits unterschieden werden, um dann das
jeweilige Aufeinandertreffen von Unbewusstem und Bewusstem,
Einstellungen und Handeln zu untersuchen. Zu diesen Fragen vgl u.a.
Andreas Zick, Vorurteile und Rassismus.
Eine sozialpsychologische Analyse,
Münster u.a. 1997.
Die sich als Stadtguerilla verstehenden "Tupamaros Westberlin" um
den Ex-Kommunarden Dieter Kunzelmann bekannten sich zu dem
versuchten Bombenanschlag, der nur durch einen technischen Defekt
verhindert worden war. Vgl. Annette Vowinckel,
"Der kurze Weg nach Entebbe oder die Verlängerung der deutschen
Geschichte in den Nahen Osten", in: Zeithistorische Forschungen/
Studies in Contemporary History 1(2004), Abschnitt 9; Nr. 4;
Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im
Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005, S. 73ff.
Wilfried Mausbach, "Wende um 360 Grad? Nationalsozialismus und
Judenvernichtung in der 'zweiten Gründungsphase' der
Bundesrepublik", a.a.O., S. 29.
Martin Kloke, "Das zionistische Staatsgebilde als Brückenkopf des
Imperialismus". Vor vierzig Jahren wurde die neue deutsche Linke
antiisraelisch,
http://www.eurozine.com/articles/2007-06-05-kloke-de.html (Lange
Version; zugleich in
eine kürzeren Version: Merkur. Deutsche Zeitschrift für
europäisches Denken 698, S. 487-497.
Annette Vowinckel,
a.a.O., Abschnitt 9. Die Kritik der Redaktion von "Agit 883" bezieht
sich allerdings nicht auf die Wahl des Anschlagsziels. Vielmehr
kritisiert das Redaktionskollektiv die fehlerhafte Einschätzung der
"Möglichkeiten des Klassenfeindes", den "Verbalradikalismus", und
den Verzicht auf die "Analyse des spätkapitalistischen Systems";
außerdem seien die Aktionen der Tupamaros "ungeplant" und
"selbstmörderisch".
(Agit 883, Nr.
41 (20.11.1969), S. 7.
In derselben Ausgabe erscheint ein Artikel mit dem
Titel "Was ist Antisemitismus?" auf Grundlage eines im
Republikanischen Club gehaltenen Referats des "Palästinakomittees"
vom 16.11.1969. In diesem Artikel, als Kritik des Antisemitismus
angelegt, wird jedoch mit antisemitischen Stereotypen wie dem des
"Wucherers" argumentiert (ebd., S. 5). Eine Kritik des Anschlags auf
das jüdische Gemeindehaus enthält auch dieser Artikel nicht.
Martin Kloke, "Das zionistische
Staatsgebilde als Brückenkopf…" , a.a.O.
(2007); Ders., Israel und die deutsche Linke...a.a.O.
(1990), Knud
Andresen 2006. Das
"äußerst komplizierte Palästinaproblem". Antizionismus und
Antisemitismus in der Agit 883, in: rotaprint (Hg.), Agit 883.
Revolte - Underground in Westberlin 1969-1972, Berlin, 157-170,
Andresen verzichtet für ein von ihm angeführtes, besonders
eindrückliches Beispiel leider auf die Angabe einer Quelle, deshalb
sei es hier nur unter Vorbehalt hinzugezogen:
Auf einer Veranstaltung des Republikanischen Clubs in Berlin im
August 1969 unterbrach ein Student den Referenten, einen
israelischen Staatsrechtler, mit dem Zuruf: "Dich hat man vergessen
zu vergasen." Der Zwischenrufer fügte eine Entschuldigung hinzu, und
der Vorfall blieb von Seiten des Publikums wie der Veranstalter
unkommentiert (Knud
Andresen,
a.a.O., S. 161).
Ulrike Meinhof, "Drei Freunde Israels", Konkret Nr. 7, 1967; vgl.
Annette Vowinckel, a.a.O., Abschnitt 5-7; Martin Kloke weist auf die
Ambivalenz von Ulrike Meinhofs Blick auf Israel in ihrer Kolumne hin
(Martin Kloke, "Das zionistische Staatsgebilde als Brückenkopf des
Imperialismus", a.a.O., 2007.
Schwarze Ratten TW (=Tupamaros Westberlin), "Schalom + Napalm",
Agit 883 v. 13.11.1969, 1. Jg., Nr. 40. S. 9 (abgedruckt u.a.
in: Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im
Jüdischen Gemeindehaus,
Hamburg 2005. S. 47).
Dieter Kunzelmann, "Brief aus Amman", in. Agit 883 v.
27.11.1969, 1. Jg., Nr. 42, S. 5 (abgedruckt u.a. in Wolfgang
Kraushaar, a.a.O., S. 67). Dieter Kunzelmann hat mit dem "Brief aus
Amman" zugleich suggeriert, er sei zur Tatzeit nicht in Berlin
gewesen.
Dieter Kunzelmann, "Brief aus Amman", a.a.O.
"Schalom + Napalm", a.a.O.
"Schalom + Napalm", a.a.O.
vgl. Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke..., a.a.O, 1990;
Thomas Haury, "Der Antizionismus der Neuen
Linken in der BRD: Sekundärer Antisemitismus nach Auschwitz", in:
Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus (Hg.),
Antisemitismus: Geschichte und Wirkungsweise des Vernichtungswahns,
Freiburg 2001, S. 217-229, Thomas Haury, "Der
neue Antisemitismusstreit der deutschen Linken", in: Doron
Rabinovici et al. (Hg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale
Debatte, Frankfurt/Main 2004, S. 143-167. |