Politisches Engagement und privater Umgang
mit dem nationalsozialistischen Erbe in den Biografien der ersten
RAF-Generation
Um zu eruieren,
welche biografischen Erfahrungen, welche theoretischen und
politischen Diskurse in die "Erklärung zur Sache" eingeflossen sind,
müsste nachvollzogen werden, wer auf welche Art und Weise daran
beteiligt war. Aus einem ersten Blick in die zur "Erklärung"
zwischen den Häftlingen zirkulierten Schriftstücke geht hervor, dass
der endgültigen Version mehrere Entwürfe, Anmerkungen und
Überarbeitungen nicht nur der Angeklagten in Stammheim vorausgingen.
Unübersehbar sind die Parallelen in den Argumentationsmustern zu den
Texten der Studentin und Journalistin Ulrike Meinhof. Die
Stipendiatin der "Studienstiftung des Deutschen Volkes", Jahrgang
1934, hatte seit ihrem Engagement gegen die atomare Bewaffnung
Westdeutschlands Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre immer
wieder Analogien zwischen der Bundesrepublik und deren
nationalsozialistischen Vorgängerstaat aufgestellt. Dass ihr dabei
die Professorin der Pädagogik Renate Riemeck Vorbild war, zeigt eine
jüngst erschienene Biografie über Ulrike Meinhof.
Nach dem Tod der Mutter von Ulrike Meinhof im Jahr 1949 übernahm
Renate Riemeck die Vormundschaft für die Waise. Später verbanden
beide, Ulrike Meinhof und Renate Riemeck, ihr publizistisches
Engagement gegen atomare Rüstung mit dem politischen Ziel der
Vereinigung von BRD zu DDR. Doch im Unterschied zur Mehrheit der
Akteure in der "Kampf-dem-Atomtod-Bewegung", die ebenfalls
neutralistisch und gesamtdeutsch eingestellt waren, hofften Renate
Riemeck und Ulrike Meinhof auf eine Vereinigung unter
kommunistischen Vorzeichen.
Auch Gudrun
Ensslin, Jahrgang 1940, war für die Gegner der atomaren Rüstung
aktiv. Im Unterschied zum Engagement ihrer späteren "Kampfgenossin"
Ulrike Meinhof, die sich Unterstützung aus hochschulpolitischen
Verbänden und später von der KPD und der SED holte, beschränkte sich
das pazifistische Engagement Gudrun Ensslins auf ein einmaliges
publizistisches Projekt. Gemeinsam mit ihrem damaligen
Lebensgefährten Bernward Vesper editierte sie 1964 die Anthologie
"Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die
Atombombe". Unter Autoren wie Heinrich Böll, Hans Magnus
Enzensberger, Walter Jens, Anna Seghers und Stefan Zweig überrascht
der Dichter Hans Baumann, der einst Liedtexte für die Hitler-Jugend
verfasst hatte.
Sowohl Gudrun
Ensslin als auch Ulrike Meinhof haben in ihrem publizistischen und
politischen Engagement intellektuelle Traditionen ihrer elterlichen
Bezugspersonen aufgegriffen. Auf den Protestantismus der
Elternhäuser von Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof wird häufig
verwiesen, um den Dezisionismus als Grundlage des späteren
terroristischen Handelns beider Frauen zu erklären.
Darüber hinaus fallen die Beziehungen beider Familien zu
publizistisch tätigen Theologen auf. Während Renate Riemeck, Ulrike
Meinhofs Vormund und Freundin ihrer Mutter, ihre politische Meinung
sowohl in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" als
auch in von Martin Niemöller herausgegebenen "Stimme der Gemeinde"
artikulierte, pflegte der Vater Gudrun Ensslins, evangelischer
Pfarrer in Württemberg, Kontakte zu Martin Niemöller, und anderen
protestantischen Persönlichkeiten, die sich für die
"Anti-Atombomben-Bewegung" und einen neutralistischen Kurs der BRD
engagierten.
Gudrun Ensslins
weitere publizistische Interessen waren darüber hinaus von ihrer
Partnerschaft mit ihrem ersten langjährigen Lebensgefährten Bernward
Vesper geprägt. Zusammen mit ihm hatte sie nicht nur die Anthologie
"Gegen den Tod" verlegt, sondern auch die Novellen-Sammlung
"Geschichten von Liebe, Traum und Tod" von Will Vesper im
österreichischen Verlag "Dr. Bertl Petrei" neu editiert. Die beiden
editorischen Projekte überschnitten sich zeitlich, wobei das zuletzt
genannte an dieser Stelle besondere Beachtung hinsichtlich des persönlichen Umgangs der späteren RAF-Terroristin mit der
nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Elterngeneration
verdient.
Im Namen des
Verlags "Dr. Bertl Petrei" verschickten Gudrun Ensslin und Bernward
Vesper Rezensionsexemplare der "Geschichten von Liebe, Traum und
Tod" von Will Vesper.
Auch der in Jerusalem lebende
österreichisch-israelische Publizist Moshe Ya’akov Ben-Gavriêl
erhielt ein solches Exemplar und schickte einen entsprechenden
Kommentar an die Adresse Gudrun Ensslins zurück. Darin bezeichnet er
es als "unerhörte Zumutung" und "außerordentliche Geschmacklosigkeit
(...), einem jüdischen Publizisten das Werk eines Nazis" zu
schicken, der zu jenen Schriftstellern gehörte, die "es für
opportun hielten, gegen Juden und ‚Kulturbolschewisten’ zu hetzen".[6]
Die Antwort von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper an Moshe Ya’akov
Ben-Gavriêl zeugt von einem Mangel an Empathie für die Opfer des
Holocausts und deren Angehörigen sowie von der Unfähigkeit, sich
ernsthaft mit der Verantwortung des Nationalsozialisten Will Vespers
auseinanderzusetzen.[7]
Dabei versuchen Ensslin und Vesper die Situation zu entschärfen und
teilen Ben-Gavriêl mit, es habe ihnen "fern gelegen ihn zu kränken",
sie bitten ihn jedoch nicht um Entschuldigung. Mit keinem Wort
benennen sie die tatsächliche Rolle Will Vespers im
Nationalsozialismus, sondern umschreiben diese schwammig mit
"politischen Ansichten", welche sie selbst "in keiner Weise teilen"
und welche Will Vesper auch nur "etwa 10 Jahre seines 80-jährigen
Lebens" vertreten habe. Es ist erstaunlich,
mit welcher Dichtheit und Ambivalenz in diesem zweiseitigen
Schreiben einerseits Tatsachen verschwiegen, verharmlost oder
verdreht werden – zum Beispiel, dass Will Vesper sich nach 1945 von
seinen nationalsozialistischem Gedankengut eben nicht getrennt hatte.
Zugleich wird der Adressat in belehrender Manier zurechtgewiesen.
Die aktuellen Probleme seien, dass "viele der echten Machthaber (...) wieder – oder noch immer – in
führenden Stellungen sind, wo Militarismus und Autoritarismus ihr
Haupt frech erheben."
In einem Satz
relativieren Gudrun Ensslin und Bernward Vesper die Verantwortung
Will Vespers, indem sie ihn den "echten Machthabern"
gegenüberstellen, und werfen zugleich Ben-Gavriêl vor, er würde sich
auf Probleme der Vergangenheit beziehen.
Als Anliegen für
die Neuauflage der Schriften Will Vespers geben die beiden
Herausgeber an, "der Forschung dieses Werk zugänglich" zu machen:
"Nachzuforschen wäre: wie kam ein solcher Mann dazu (...), in den
frühen dreißiger Jahren zu der Ihnen und auch uns bekannten und
unverständlichen Haltung zu gelangen." Dieses Anliegen
konterkarieren Gudrun Ensslin und Bernward Vesper zugleich in dem
Schreiben, indem sie eben nicht benennen, auf welche Weise sich Will
Vesper in den Dienst der Nationalsozialisten stellte, sondern
lediglich biografische Details Will Vespers aufzählen, in denen er
"nicht die Spur einer Verhetzung zeigte."
Zusammengenommen scheinen sich Gudrun Ensslin und Bernward Vesper
von Ben-Gavriêl vor allem eines erhofft zu haben: Von einem Juden
die Absolution für die nationalsozialistische Vergangenheit Will
Vespers zu erhalten, und dies möglicherweise stellvertretend für all
diejenigen Deutschen, die wie er, nicht zu den "echten Machthabern"
gehört hatten.
Die
Rehabilitation Will Vespers war zwar vermutlich in der Hauptsache
das Projekt seines Sohnes Bernward Vesper.
Doch aus welchen Motiven unterstütze Gudrun Ensslin das Projekt
ihres Lebensgefährten mit solch großer Tatkraft?
Während Will Vespers Rolle als aktiver Nationalsozialist schon
seiner herausgehobenen Position wegen nicht geleugnet werden kann,
findet man zum Verhalten der Eltern Gudrun Ensslins im
Nationalsozialismus bislang kaum Hinweise. Unklare Angaben kursieren
zum Vater Gudrun Ensslins, dem Pfarrer Helmut Ensslin, und seiner
Tätigkeit für die Bekennende Kirche. Ob und in welcher Weise er
bereits während des Nationalsozialismus oder erst nach 1945 zu den
sich offen gegen die Nationalsozialisten bekennenden Kirchenleuten
hielt, muss erst noch rekonstruiert werden.[12]
Hingegen existieren Hinweise darauf, dass das Verhalten der Eltern
im Nationalsozialismus im familiären Erinnerungsdiskurs eine
markante Rolle spielte.
Zum Vater Ulrike
Meinhofs, Werner Meinhof, sind jüngst biografische Details über die
Zeit im Nationalsozialismus veröffentlicht worden. Demnach war er
bereits im Juli 1933 Mitglied der NSDAP, und seine spätere
Zugehörigkeit zur "Renitenten Kirche" scheint ihm kein Hindernis
gewesen zu sein, im Jahr 1936 eine Stelle als Direktor des
Stadtmuseums in Jena anzunehmen.
Noch immer wenig bekannt ist über das Verhalten der Mutter und der
Ziehmutter von Ulrike Meinhof im Nationalsozialismus. Für die enge
Freundin der Mutter von Ulrike Meinhof, Renate Riemeck, hat die
Meinhof-Biografin Kristin Wesemann weder in Archiven noch aus der
Befragung von Weggefährtinnen Renate Riemecks Anhaltspunkte
gefunden, welche die von Renate Riemeck selbst kolportierte
Gegnerschaft zum Nationalsozialismus bezeugen könnten. Stattdessen
hat sie in Riemecks universitärer Karriere eine große Nähe zum
nationalsozialistischen Lehrkörper der Universität Jena und zudem
ihre Mitgliedschaft in der NSDAP nachgewiesen.
Darüber, wann und auf welche Weise Ulrike Meinhof von diesen
biografischen Details ihrer Ziehmutter und ihres Vaters erfuhr, kann
nur spekuliert werden. Spätestens 1968 hatte sie jedoch
entsprechende Informationen über ihren Vater erhalten.
Aus den
Biografien von Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof verdienen
hinsichtlich der Herausbildung von Motiven der Schuldabwehr drei
Aspekte besondere Beachtung. Erstens kamen beide in ihrem ersten
politischen Engagement in der "Anti-Atomtod"-Bewegung mit einem
Gemenge aus Pazifismus, antiwestlichen Ressentiments, nationalem
Denken und Mustern der Schuldabwehr in Berührung. Zweitens
artikulierten beide in dieser Bewegung bereits ihre Gegnerschaft
zur Politik der BRD, ohne dabei gegen ihr Elternhaus zu opponieren.
Drittens stellt sich bei beiden das familiäre Erinnern an das
Handeln der Eltern, der Schwiegereltern bzw. der Ziehmutter im
Nationalsozialismus zumindest ambivalent, wenn nicht widersprüchlich
dar.
Zu den anderen
Koautoren der "Erklärung zur Sache", Andreas Baader und Jan-Carl
Raspe besteht zu den intellektuellen Einflüssen und der Rolle ihrer
Familien im Nationalsozialismus noch Forschungsbedarf. Zu Jan-Carl
Raspe liegt bislang noch keine biografische Publikation vor. Die
bisherigen biografischen Publikationen zu Andreas Baader sprechen
vielmehr dafür, dass intellektuelle Traditionen und politische
Motive in seinem Lebenslauf erst sehr spät biografisch relevant
werden und dass ihn hierin vor allem Gudrun Ensslin prägte, die nach
ihrer Trennung von Bernward Vesper seine Lebensgefährtin geworden
war. Zum innerfamiliären Erinnern der Raspes und Baaders an den
Nationalsozialismus ist nichts bekannt. So lassen sich zwar nicht
für alle RAF-Mitglieder der ersten Generation gleichermaßen Motive
der Schuldabwehr ausmachen. Doch außer Gudrun Ensslin und Ulrike
Meinhof sind für ein drittes Gründungsmitglied Motive der
Schuldabwehr eindeutig zu erkennen: Horst Mahler, der sich während
seiner Haftzeit vom Linksterrorismus lossagte und heute bekennender
Neonazi ist.
Knotenpunkt Frankfurt
1969
Der Rechtsanwalt
und Mitbegründer der RAF Horst Mahler hat zwar an der "Erklärung zur
Sache" nicht mehr mitgewirkt, doch sind in anderen Äußerungen von
ihm Motive der Schuldabwehr zu erkennen.
Ob er mit seinem nationalsozialistischen Elternhaus jemals gebrochen
hat, bleibt nicht zuletzt seit seiner klar neonazistischen Wendung
fraglich. Analogien zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
nationalsozialistischen Herrschaft formulierte er, damals als
Bedrohungsszenario, unter anderem in seiner Verteidigung im Prozess
gegen Andreas Baader und Gudrun Ensslin im Jahr 1969 – knapp ein
Jahr vor der Gründung der RAF. Das Paar hatte gemeinsam mit zwei
Gesinnungsgenossen einen Brandanschlag auf ein Kaufhaus in Frankfurt
am Main verübt, um, so die Selbstexplikation, auf den "Völkermord
in Vietnam" aufmerksam zu machen.
Im Rahmen des
Gerichtsprozesses trafen verschiedene intellektuelle
Traditionslinien der Schuldabwehr zusammen: Die Kommunistin Ulrike
Meinhof, die als Journalistin zum Prozess angereist war, begegnete
hier zum ersten Mal Gudrun Ensslin. Der einstige Lebensgefährte
Gudrun Ensslins, Bernward Vesper, trat als Zeuge im Prozess auf und
betonte die Idee vom Widerstand gegen einen zweiten, sich in Vietnam
wiederholenden Holocaust. Zur Erinnerung: Mit Bernward Vesper hatte
Gudrun Ensslin die Werke seines Vaters, des nationalsozialistischen
Schriftstellers Will Vesper, neu aufgelegt. Bernward Vesper war
außerdem der Herausgeber der seit 1966 erscheinenden
"Voltaire-Flugschriften", in denen er die deutsche Übersetzung von
Günther Anders’ "Nürnberg und Vietnam" verlegt hatte und in denen er
auch die Rede der Angeklagten im Kaufhausbrandstifterprozess
druckte. Die Rede mit dem Titel "Unter einer solchen Justiz
verteidigen wir uns nicht", enthält bereits jene Muster der
Schuldabwehr, die sich in Analogien des nationalsozialistischen
Deutschlands mit den USA ausdrücken und die in der "Erklärung zur
Sache" zugespitzt und auf Israel übertragen formuliert werden.
Deutlich wird in der Rede zudem die Inanspruchnahme des Opferstatus
von Seiten der Angeklagten, die sich als Opfer einer
"faschistischen" Justiz darstellen.
Der gegen Israel
gerichtete Schuldabwehrantisemitismus, die faschismustheoretische
Abspaltung des historischen Holocaust auf einen gegenwärtigen,
schlimmeren Holocaust und die damit einhergehende Verharmlosung des
Genozids an den europäischen Juden, die Übertragung der
Verantwortung Deutschlands für den historischen Holocaust auf einen
von der USA zu verantwortenden gegenwärtigen Holocaust – all diese
Facetten der Schuldabwehr finden sich in der "Erklärung zur Sache"
zu einem einzigen großen Welterklärungsmuster zusammengestrickt. Die
einzelnen Fäden liefen bereits 1969 im Frankfurter
Kaufhausbrandstifterprozess zusammen. Dort trafen nicht nur die
späteren Gründerinnen und Gründer der RAF aufeinander, sondern
darüber hinaus befanden sich unter den Zeugen und im Gerichtssaal
jene Angehörigen der intellektuellen Szene, welche mit ihrer Kritik
am Vietnamkrieg und der zeitgenössischen BRD zugleich die Schuld der
Elterngeneration am Holocaust abwehrten.
Aus heutiger
Sicht fällt die Vorstellung schwer, dass die den Nationalsozialismus
relativierenden Analogisierungen und sekundärantisemitische
Argumentationsmuster, die sich aus der Zeit vor der RAF bis in der
"Erklärung zur Sache" verfolgen lassen, von Zeitgenossen nicht
vehement zurückgewiesen wurden. Der Soziologe Friedhelm Neidhardt
zieht Bedingungen einer terroristischen Lebensweise und die damit
einhergehenden scharfen Abgrenzungsprozesse zum Gruppenerhalt heran,
um die "Nichtfalsifizierbarkeit des Absurden" der
Argumentationsweise von Seiten der RAF zu erklären.
Ergänzend wäre zu fragen, wie denn von Außen, ob im zeitgenössischen
Umfeld der Gegner oder dem der mehr oder weniger zaghaften
Unterstützer überhaupt versucht wurde, die Argumentationsmuster der
Schuldabwehr und des sekundären Antisemitismus öffentlich zu
falsifizieren.
Reaktionen der
bundesdeutschen Justiz und Öffentlichkeit
Richter und
Staatsanwälte im Stammheimer Verfahren hatten gute Gründe, aus der
Strafsache gegen
Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl
Raspe keinen politischen Prozess zu machen. Hört man die
Tonbandaufzeichnungen aus den Verhandlungen, bekommt man jedoch den
Eindruck, dass dies ein Unterfangen war, das dem Gericht nicht
gerade leicht fiel.
Dies lag unter anderem daran, dass die Verteidiger die RAF-Häftlinge
in ihrer Argumentation mit großem Engagement unterstützten. So
bezeichnete Axel Azzola, Verteidiger von Ulrike Meinhof und
Rechtsprofessor in Darmstadt, im Anschluss an die von den
Angeklagten vorgetragene "Erklärung zur Sache" die Taten der RAF als
Teil des internationalen Widerstands der proletarischen
Freiheitsbewegungen gegen den Imperialismus des Kapitals. Vor diesem
Hintergrund forderte er, die Angeklagten nach dem Kriegsrecht zu
behandeln.
Otto Schily, der Verteidiger von Gudrun Ensslin, setzte den Krieg
der USA in Vietnam mit dem Holocaust gleich
und beantragte, Richard Nixon als Zeugen zu laden.
Um diese Anträge
zurückzuweisen, musste das Gericht nicht die Gleichsetzungen von den
USA mit NS-Deutschland sowie von der RAF mit dem Widerstand gegen
den Holocaust zurückweisen, sondern mit verfahrensrechtlichen
Argumenten entscheiden. Dennoch drängt sich, aus dem zeitlichen
Abstand und derzeitigen Kenntnisstand heraus, die Frage auf, warum
es Staatsanwälte und Richter versäumten, die Anträge auch einer
inhaltlichen Prüfung zu unterziehen. Wären die
Rechtfertigungsversuche der RAF und derjenigen Unterstützer, die
zwar nicht die Gewalt der RAF, aber deren Motive befürworteten,
nicht viel besser entkräftet worden, hätte man sie als Verharmlosung
des Holocausts und als Schuldabwehr hinsichtlich des
Nationalsozialismus und des Genozids an den europäischen Juden
herausgestellt?
Eine Ausnahme, in
der das Gericht auch auf politische Argumente einging, ist der
Antrag von Axel Azzola, den der Bundesanwalt Heinrich Wunder wie
folgt kommentierte:
"Das
Widerstandrecht in diesem Zusammenhang anzuführen, ist meiner
Auffassung nach fast beleidigend für all diejenigen, die im 'Dritten
Reich' zulässigen Widerstand geleistet haben, leisten mussten und
dankenswerter Weise geleistet haben."
Mehr nicht?
"Fast" beleidigend – also noch nicht mal eine Beleidigung? Und was
ist unter "zulässigem Widerstand" im "Dritten Reich" zu verstehen?
Über Azzolas
Antrag wurde in allen großen überregionalen Tages- und
Wochenzeitungen der BRD berichtet. Die Entgegnung des Bundesanwalts
Heinrich Wunder zum Vergleich mit dem Widerstand gegen den
Nationalsozialismus wurde jedoch nur in einem Artikel der
Süddeutschen Zeitung wiedergegeben und nirgendwo kommentiert.
Warum rief ausgerechnet dieses Argument der Rechtfertigung
linksextremer Terroristen so wenig Reaktionen von Seiten der Justiz
und der Öffentlichkeit hervor?
Dass die
westdeutsche und später gesamtdeutsche Justiz sich bis in die 1990er
Jahre hinein davor scheute, von Gerichten der Wehrmacht verhängte
Urteile des "Vaterlandsverrats" und der "Wehrmachtszersetzung" zu
revidieren, kann Hans-Jochen Vogel, in den 1970er Jahren
Bundesjustizminister, heute nicht mehr nachvollziehen.
Er ist einer der wenigen Politiker, der die Frage nach den eigenen
Versäumnissen auf diesem Gebiet öffentlich thematisiert. Vielleicht
liegt in solchen Fragen der Schlüssel zum Verständnis, warum auch
von Seiten der Gegner der RAF und von der Justiz eine öffentliche
Zurückweisung derjenigen Argumente der Gefangenen in Stammheim
weitgehend ausblieb, die einerseits eine Entlastung der
nationalsozialistischen deutschen Täter und "Mitläufer"
artikulierten, und die andererseits westdeutsche Politiker für
damalige tatsächliche oder angebliche Unrechtsregime und
völkerrechtliche Verbrechen mitverantwortlich machten.
Wie der Holocaust
zu verstehen und was aus dem Nationalsozialismus zu lernen sei,
scheint jedenfalls weder eine Frage zu sein, welche die Generationen
in der BRD spaltete, noch ein geeignetes Kriterium, um zwischen der
RAF als terroristischem Ausläufer von "1968" einerseits und der
nicht gewalttätig gewordenen Mehrheit der Studentenbewegung
anderseits zu unterscheiden. In dieser Frage bildeten sich andere
Grenzverläufe. Dass auch aus Kreisen der intellektuellen
Unterstützer der Studentenbewegung Kritik an der einseitigen
Israelfeindschaft geübt wurde, zeigt das Beispiel des
Erziehungswissenschaftlers und Sozialisten Berthold Siemonsohn. In
einem Porträt für die Jüdische Allgemeine zitiert Micha
Brumlik einen Kommentar von Siemonsohn zu der sich etablierenden
Abkehr seiner einstigen Mitstreiter von Israel nach dem
Sechstagekrieg:
"Niemand verlangt
eine einseitige Identifikation des internationalen Sozialismus mit
der israelischen Politik, aber ich dachte, dass eine eindeutige
Stellungnahme gegen Chauvinismus und Kriegshetzerei der Araber,
gegen deren bedingungslose Aufrüstung durch die Sowjetunion und für
ein Programm der Verständigung mit dessen Grundsätzen durchaus
vereinbar sei. Ich bin der Meinung, dass es für Sozialisten auch in
der Politik einen Grundtatbestand an moralischen Prinzipien gibt,
die man nicht ungestraft verletzen darf."
Warum es so vielen Zeitgenossen von Berthold
Siemonsohn nicht gelang, die andere Seite zu sehen, bleibt an dieser
Stelle eine offene Frage, die vielleicht nur anhand individueller
Biografien zu beantworten ist.
Anmerkungen:
RAF-Sammlung des Archivs des Hamburger Instituts für
Sozialforschung, Mappen; St,V/ 034, 001-003, St,V/ 011, 006; Gr, M/
025, 010.
Kristin Wesemann, Ulrike Meinhof: Kommunistin, Journalistin,
Terroristin – eine politische Biografie, Baden-Baden 2007.
Kristin Wesemann, a.a.O.
Jörg Herrmann, "Unsere Söhne und Töchter". Protestantismus und
RAF-Terrorismus in den 1970er Jahren, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.),
Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 644-656;
Wolfgang Kraushaar, Entschlossenheit: Dezisionismus als Denkfigur:
Von der antiautoritären Bewegung zum bewaffneten Kampf, in: Ders.
(Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S.
140-156.
Gerd Koenen 2003, a.a.O., S. 29; Michael Kapellen,
Doppelt Leben: Bernward Vesper und Gudrun
Ensslin. Die Tübinger Jahre,
Tübingen 2005.
Ben-gavriêl, M.Y., an "Sehr geehrte Frau Ensslin"/Verlag Dr. Bertl
Petrei, Stuttgart-Cannstatt, 15.10.1963, Deutsches Literaturarchiv
Marbach, A: März-Archiv I (Nachlass B. Vesper), Mappe 119a; zit. in:
Gerd Koenen 2003, a. a. O., S. 29.
Dr. Bertl Petrei, Pressestelle f.d.A. (für das Ausland),
Stuttgart-Cannstatt, an M.Y. Ben-Gavriêl, 18.10. 1963, Deutsches
Literaturarchiv Marbach, A: März-Archiv I (Nachlass B. Vesper),
Mappe 119a, zit. in: Gerd Koenen, a. a. O., S. 30. Laut Gerd Koenen,
der in die gesamte archivierte Korrespondenz Bernward Vespers
Einsicht hatte, stammt die Antwort aus "Ensslins Schreibmaschine";
eine Kopie des Schriftwechsels zwischen Ben-Gavriêl und Gudrun
Ensslin/ Bernward Vesper aus dem Archiv liegt der Verf. vor.
Zu Will Vespers Wirken im Nationalsozialismus und nach 1945 siehe:
Gisela Berglund,
Der Kampf um den Leser im Dritten Reich.. Die Literaturpolitik der
"Neuen Literatur” (Will Vesper) und der "Nationalsozialistischen
Monatshefte", Worms 1980 (Schriftenreihe Deutsches Exil 1933-45
hrsg. v. Georg Heintz).
Auch entbehrt das Buch jeden editorischen Hinweises darauf, dass es
zu den erwähnten Forschungszwecken neu aufgelegt worden sei. Im
Klappentext, im Umschlagstext sowie im Nachwort des Germanisten
Adolf von Grolman finden sich nur lobende Worte für Will Vesper.
Vgl. Will Vesper, Geschichten von Liebe, Traum und Tod,
Maria-Rain/Kärnten u.a., 1963.
Zu den Motiven Bernward Vespers, der mit der Rolle seines Vaters und
zugleich seiner eigenen Sozialisation einerseits sehr haderte,
andererseits zeitlebens große Schwierigkeiten hatte, sich von seinem
Vater zu lösen, siehe
Frederick Alfred Lubich, "Bernward Vespers 'Die
Reise': Von der Hitler-Jugend zur RAF. Identitätssuche unter dem
Fluch des Faschismus”, in: German studies review 10 (1987),
S. 69-94, zu den Aktivitäten des adoleszenten Bernward Vesper in
rechtsextremen und revisonistischen Zirkeln siehe Gerd Koenen, a.a.O.,
S. 31f.
Wie Gudrun Ensslin an Bernward Vespers verlegerischem Projekt
mitwirkte, schildern Gerd Koenen, a. a. O., S. 29, S.99 und Michael
Kapellen, a.a.O.
[12] Die
bisherigen Angaben hierzu weisen keine Quellen nach. Bei Jörg
Herrmann liest man von einer "Zugehörigkeit" des Pfarrers Helmut
Ensslin zur Bekennenden Kirche (Jörg Herrmann, "Unsere Söhne und
Töchter", Protestantismus und RAF-Terrorismus in der 1970er Jahren,
in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus,
Hamburg 2006, S. 644-656, hier S.647); In einem anderen Text
bezeichnet Jörg Hermann Helmut Ensslin lediglich als "Anhänger" der
Bekennenden Kirche (Jörg Herrmann, Ulrike Meinhof und Gudrun
Ensslin – Vom Protestantismus zum Terrorismus, in: Klaus
Biesenbach (Hg.), Zur Vorstellung des Terrors. Die
RAF-Ausstellung Band 2, Berlin/Göttingen 2005, S. 112-114, hier
S. 112). Gerd Koenen schreibt, Helmut Ensslin habe "im Dritten Reich
(...) zur Bekennenden Kirche gehalten." (Gerd Koenen 2003, a.a.O.,
S. 100). Hingegen schildert Gudrun Ensslins sechs Jahre jüngerer
Bruder Gottfried in einem Interview gerade die Nichtzugehörigkeit
seines Vaters zur Bekennenden Kirche als problematisch: "Mein Vater
war ja im Dritten Reich, hatte eine Zeit, wo er von der Kanzel
einige Sätze gegen Hitler sagte. Sinngemäß war die Äußerung, dass
Christus größer als Hitler sei. Eigentlich für damalige Verhältnisse
mutig, so was zu sagen. Es gab eine Anzeige von einem Lehrer am Ort.
Nach einem Heimtückegesetz hieß das damals. Daraufhin ist mein Vater
in den Krieg gegangen. Also es war, ich würde sagen, ein
unvollendeter Widerstand. Und ich glaube, dass das nachgewirkt hat.
Sowohl in der Diskussion in unserer Familie. Bei meinem Vater, der
den Mut bewundert hat der Leute aus der Bekennenden Kirche, die sehr
viel konsequenter gehandelt haben als er, wo er nicht mitgemacht
hat." (Gottfried Ensslin zitiert in Margot Overath, Wer war
Gudrun Ensslin? Ein Portrait. Produktion der Feature-Abteilung
des Rundfunk Berlin Brandenburg mit dem Westdeutschen und dem
Norddeutschen Rundfunk, 2005, Sendung: WDR 3, 1.2.2005, 22 – 23 Uhr,
S. 9). Nach einer Auskunft aus dem Archiv der Evangelischen
Landeskirche Württemberg kann eine Zugehörigkeit Ensslins zur
Bekennenden Kirche während der nationalsozialistischen Diktatur aus
den Akten weder nachgewiesen noch ausgeschlossen werden (E-Mail von
Michael Bing, Landeskirchliches Archiv Stuttgart, 15.06.2007).
Vgl. für eine Schwester Gudrun Ensslins: Gerd Koenen, a.a.O., S.313,
für Gottfried Ensslin vgl. Margot Overath, a.a.O. S.9.
Kristin Wesemann, a.a.O., S. 49 u. S. 301-302.
Kristin Wesemann, a.a.O., S. 43.-56. Wesemann schließt aus den Akten
über Renate Riemeck auch auf eine NSDAP-Mitgliedschaft der Mutter
von Ulrike Meinhof, ohne dies zu explizieren (S. 54, Fußnote 210).
Kristin Wesemann, a.a.O., S. 49.
Vgl. Martin Jander, "Horst Mahler",
In: Wolfgang Kraushaar
(Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg, 372-397.
Friedhelm Neidhardt, Soziale Bedingungen
terroristischen Handelns. Das Beispiel der "Baader-Meinhof-Gruppe"
(RAF). In: Wanda von Baeyer-Katte
u.a. (Hg.), Gruppenprozesse (Analysen zum Terrorismus Bd 3,
hrsg. v. Bundesministerium des Innern), Opladen, 318-391,
hier S. 320.
Eine Veröffentlichung der Bundeszentrale für politische Bildung
widmete sich dem Thema schon Anfang der 1970er Jahre: Axel Silenius
(Hg.), Antisemitismus und Antizionismus, Analyse, Funktionen,
Wirkung, Frankfurt 1973. Wie das Thema darüber hinaus rezipiert
wurde, bedarf einer Recherche in der zeitgenössischen Presse und
weiteren wissenschaftlichen Veröffentlichungen.
Die Tonbänder stehen als Audio-Datei zur Verfügung unter:
http://www.wdr.de/themen/politik/deutschland/deutscher_herbst/stammheim_baender/_mo/
fotos_baender.jhtml [12.03.2008]
Süddeutsche Zeitung v. 21.01.1976, S. 5.
"Das sind die
gleichen Bilder: das jüdische Kind im Getto, das mit erhobenen
Händen auf die SS-Leute zugeht, und die vietnamesischen Kinder, die
schreiend, napalmverbrannt dem Fotografen entgegengelaufen kommen
nach den Flächenbombardements.", zit in: Stefan Reinecke, "Otto
Schily." Vom RAF-Anwalt zum Innenminister, Hamburg 2003, S. 179.
Bundesanwalt Heinrich Wunder am 65. Verhandlungstag in der
Strafsache gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof,
Jan-Carl-Raspe, 20.01.1976, Tonbandmitschnitt, hier zitiert aus der
Sendung "Funkhausgespräche spezial" im WDR 5, 08.10.2007,
http://www.wdr.de/themen/_config_/mediabox/
index.jhtml?url=/themen/politik/deutschland/deutscher_herbst/stammheim_baender/_mo/audio_teil_7.jhtml
[11.02.2008].
Süddeutsche Zeitung v. 21.01.1976, S. 5. Ausgewertet wurden für den
Zeitraum vom 15.01.-31.01.1976 außer der Süddeutschen Zeitung:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Die Welt,
Bild, Zeit und Spiegel.
Hans-Jochen Vogel, Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Was damals
Recht war..." – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht,
21.06.2007, Deutsches Theater, Berlin.
Micha Brumlik, Der andere Achtundsechziger. Jurist, Pädagoge,
Sozialist und Zionist. Vor 30 Jahren starb Berthold Siemonsohn, in:
Jüdische Allgemeine Nr. 12/2008, S. 13. |