Alarmistische Rhetorik:
Zur Diskussion um die Israelsolidarität
Von
Andrea Livnat
Nachdem
es in der vergangenen Zeit scharfe Diskussionen um Texte gab, die bei
haGalil veröffentlicht wurden, möchte ich einige Dinge im Namen der
Redaktion klarstellen und anmerken.
Beide Autoren, Uriel Kashi
wie auch Arne Behrensen, haben um Publikation ihrer Texte bei uns gebeten,
nicht zuletzt deshalb, da Meinungsvielfalt in anderen Medien ähnlicher
Ausrichtung offensichtlich unerwünscht ist. haGalil hält in seiner über
10jährigen Arbeit an der Überzeugung fest, dass Pluralismus nicht nur ein
lustiges Wort ist, sondern Realität. Die Kenntnis unterschiedlicher
Sichtweisen ist also unerlässlich, wenn man jüdisches Denken und Leben
verstehen will.
Schon der nicht nur wegen seines Namens berühmt gewordene Ben Bag Bag sagt
im Talmud und über den Talmud: "Drehe und wende es immer von neuem, denn
alles ist darin enthalten". Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass
heute so getan wird, als sei es überraschend oder eine Schwäche, wenn man zu
den vielfältigen Facetten auch noch zahlreiche Ansichten zulässt und
Meinungen aus allen Spektren des politischen Lebens publiziert, genau wie
unsere Leser Texte von Chabad neben solchen von Reformrabbinern finden.
Gerade in Bezug auf Israel scheint dem deutschsprachigen
Otto-Normalverbraucher nicht immer bewusst zu sein, dass hier eine
Demokratie im westlichen Sinne herrscht, in der es sehr viele
unterschiedliche Meinungen gibt.
Wir hatten also gehofft, dass die Texte von Uriel Kashi und Arne Behrensen
eine Diskussion über das "Wie" der Israelsolidarität anstoßen können. Dies
ist aber offensichtlich nicht erwünscht, was sehr zu bedauern ist, vor allem
aus jüdischer Sicht. Dabei wäre das "Wie" doch spätestens diskussionswürdig,
nachdem die Veranstalter der Berliner Demonstration klarmachten, dass sie
nur noch drei Gruppen sehen: Jene, die sie unterstützen, jene die
gleichgültig sind und jene die Ahmadinedschad bestätigen.
Die Reaktion von Thomas
Schreiber auf Arne Behrensens Text ist in meinen Augen eine ganz typische
und sollte in keinem Falle unwidersprochen stehen. Es ist schön, dass sich
Thomas Schreiber in Israel ganz besonders gut auskennt und ich stimme ihm
darin gerne zu, dass die Dinge aus Berlin oder Frankfurt oft ganz anders
aussehen. Lokale Expertise alleine hilft aber nicht weiter, genauso wenig
wie biblische Vergleiche. Was haben der 9. Aw oder die aktuellen
Korruptionsaffären Israels mit unserer Diskussion zu tun? Übrigens, wenn wir
hier schon in die jüdische Geschichte einsteigen wollen, bitte nicht derart
platt*. Auch zum 9. Aw gibt es durchaus
differenzierte Ansichten unter den Weisen Israels, nachzulesen bei haGalil.
Böswillig könne man, so Schreiber, in Behrensens Text die Forderung
hineinlesen, "dass doch bitteschön die Juden/Israelis/Zionisten nicht auf
ihrem Existenzrecht bestehen mögen, weil das kontraproduktiv sei." Jedoch,
egal wie böswillig ich mich versuche zu verstellen, kann ich derartiges beim
besten Willen in diesem Text nicht lesen. Aber wenn Schreiber schon erkannt
hat, dass Böswilligkeit dazu gehört, derartiges über Behrensens Text zu
behaupten, warum erklärt er es dann überhaupt? Ist jede Kritik gleich so zu
interpretieren, dass man am Existenzrecht Israels zweifelt? Wie kommt man
dazu, dem Autor den insgeheimen Wunsch nach Auflösung des jüdischen Volkes
zu unterstellen? Bei solcher Dämonisierung, wie können wir hier die Basis
zur Gemeinsamkeit finden?
Auch haGalil hat sich derartigen Mist wiederholt anhören müssen, weil wir
uns erlauben von ca. 4000 Artikeln im Jahr ab und an einen Text von Amira
Hass, Uri Avnery, Jossi Beilin, Avraham Burg, Shulamit Aloni oder Jossi
Sarid zu veröffentlichen. Mal davon abgesehen, dass man jenen zwar viel
vorwerfen kann, aber sicherlich nicht die Leugnung des Rechts der Existenz
Israels, zeugt dies doch vor allem von einem: der fehlenden Bereitschaft den
Pluralismus im jüdischen Leben anzuerkennen. Davon abgesehen ist für manch
einen auch die Publikation von Texten Linker, die weit weniger exponiert
sind, wie etwa Amos Oz, bereits ein Skandal.
Und so ist dann auch der Ratschlag des Honestly Concerned Lesers
entsprechend: Juden, vertragt Euch! Oh, sie schreiben über Euch in den
Zeitungen, wenn Ihr Euch streitet! Und Israelsolidarische, tut es den Juden
gleich, vertragt Euch...
So einfach ist das nur leider nicht, denn dazu gehört die gegenseitige
Bereitschaft zu Gespräch, Diskussion und Lösungsfindung. Gerade im Bereich
der Israelsolidarität gibt es oftmals die Tendenz, Israel und "die Juden"
mit der Solidarität regelrecht zu erdrücken. Und das darf man dann noch
nicht einmal laut sagen, man könnte ja die "Freunde" vergraulen. Und diese
"Freunde" sind wirklich schnell vergrault, z.B. wenn man ihren Klischees
nicht entsprechen will oder sich nicht ihren ideologischen Vorgaben
unterordnet.
Im Übrigen wird es den Antisemiten in deutschen Landen und anderswo egal
sein, ob sich die Juden und deren Freunde streiten. Seit wann nehmen
Antisemiten denn zur Kenntnis, was Juden sagen oder tun? Sind etwas die
Juden schuld am Antisemitismus? Selbst wenn sich Antisemiten freuen sollten,
dürfte aus einem Streit kaum jemand mehr oder weniger zum Antisemiten
werden.
Juden in Deutschland, das ist noch immer keine Selbstverständlichkeit, und
das zeigt sich auch in der Tatsache, dass viele unter uns noch immer denken,
wir müssten immer einer Meinung sein. Von welcher anderen gesellschaftlichen
Gruppierung wird Ähnliches erwartet oder gar ausdrücklich verlangt?
Wir sollten unsere Pluralität vielmehr offen tragen und uns keiner
Diskussionen scheuen. Die Tatsache, dass es Meinungsdifferenzen gibt, heißt
schließlich nicht, dass wir alle verfeindete Lager sind. Auch unter
Freunden, und gerade unter Freunden, sollte es möglich sein, eine
konstruktive Diskussion zu führen.
[Zur
Diskussion im Forum]
Jenseits von alarmistischer Rhetorik:
Was tun in Deutschland gegen
die iranische Atombombe?!
Sacha Stawski/Honestly Concerned e.V.:
Stellungnahme zu der "alarmistischen
Rhetorik" von Arne Behrensen
*) Die Behauptung, der Tempel sei zerstört
worden durch "inneren Zwist", wie Thomas Schreiber behauptet, ist falsch.
Die Weisen sprechen ausdrücklich von "Sinath chinam", von grundlosem Hass,
also vom Nichtakzeptieren unterschiedlicher Ansichten, von Dämonisierung und
Verächtlichmachung des Gegners und Leugnung der Gemeinsamkeit. |