"... ein Fehler der Weltgeschichte"? -
Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht
Rudolf Steiners
Von Ralf Sonnenberg
Das Judentum als Katalysator
und kulturelles "Zersetzungsferment"
Nach 1900 begann Steiner in einer
Fülle von Schriften und in einer noch größeren Anzahl von Vorträgen
sein genuin esoterisches Weltbild zu entwerfen. Dieses sollte sich
in den folgenden Jahren von den in der damaligen Theosophischen
Gesellschaft vorherrschenden fernöstlichen Terminologien und
Anschauungen emanzipieren und in der Folgezeit weiter
ausdifferenzieren. Der Boden theosophischer Sinnerfahrungen und
-konzeptionen wurde damit jedoch nicht verlassen: Die Kosmogonese
von Mensch und Natur, die Evolution des Bewusstseins,
Reinkarnations- und Karmatheorien sowie das Modell der "Runden" und
"Globen" als vorgeschichtliche Emanations- und Entwicklungsetappen
des Geistes blieben Konstanten, auf die sich Aussagen und Deutungen
der in den Folgejahren entwickelten anthroposophischen Inhalte
weiterhin bezogen. Der Urheber eines "Rosenkreuzertum"(64)
genannten Schulungs- und Initationsweges adaptierte einzelne
Theoreme und Elemente der Blavatskyschen Theosophie, die er
sukzessive seinen eigenen Anschauungen und Einsichten anverwandelte.
Jedoch im Unterschied zu Blavatsky und ihren Anhängern sah Steiner
in dem "Mysterium von Golgatha" und der Entstehung eines
esoterischen Christentums den Dreh- und Angelpunkt menschheitlicher
Bewusstseinsentwicklung. Dem Grundsatz der älteren thesophischen
Bewegung, einen Völker, Rassen und Konfessionen umspannenden
"Bruderbund" zu schaffen, blieb auch die von ihm 1912/13 ins Leben
gerufene Anthroposophische Gesellschaft verpflichtet. Wiederholt
verwies Steiner auf den "spirituellen Wahrheitskern" einer jeden
Religion, den es zu erkennen und zu respektieren gälte.(65)
Damit war ausdrücklich auch die jüdische Religion gemeint. 1912
beklagte Steiner in einem vor norwegischen Mitgliedern der
Theosophischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag, dass Blavatsky dem
Judentum nicht unvoreingenommen begegnet sei, sondern ihrer
Schilderung der "Jahwe-Religion" in ihrem Hauptwerk "Die
Geheimlehre"(1888-1893) etwas Negatives anhafte. Diese pejorative
Sichtweise auf das Judentum müsse jedoch gerade die Anthroposophie
überwinden.(66)
Inwieweit sein Denken freilich selbst antijudaistischen Stereotypen
und Argumentationsfiguren verhaftet blieb, zeigt nicht zuletzt der
Inhalt eines vom 28. April 1905 datierten Briefes an Marie von
Sivers, Steiners Mitstreiterin und spätere Lebensgefährtin.(67)
In dem bereits auf die gängige theosophische Periodisierung
zurückgreifenden Schreiben werden die verschiedenen, zeitlich
aufeinanderfolgenden "Einschläge semitischer Art" innerhalb des
abendländisch-neuzeitlichen Zivilisationsprozesses als
"Zersetzungsferment" gedeutet, dessen Wirksamkeit in der Gegenwart
vor allem in materialistisch orientierten Intellektuellen zum
Ausdruck käme: "Nicht zufällig ist es, dass die Männer, welche durch
ihr scharfes, klares, aber ganz materialistisches Denken den
stärksten Einfluss in der letzten Zeit auf die europäischen Massen
gehabt haben, Marx und Lassalle, Juden waren."(68)
Der "jüdischen" Denkweise setzt der Verfasser des Briefes das
zukunftsträchtige, da "embryonale" Denken von Repräsentanten einer
"christlich-germanisch-slawischen" Kultur wie Bismarck (!), Haeckel
oder Tolstoi entgegen. Zwar anerkennt Steiner die Unverzichtbarkeit
des materialistischen Denkens innerhalb der Menschheitsentwicklung
und spricht somit auch dem jüdischen "Zersetzungsferment" eine
notwendige Funktion innerhalb der okzidentalen Geschichte zu, doch
fällt sein abschließendes Urteil über die Auswirkungen des
semitischen Einschlags keinesfalls wertneutral aus: "Alle unsere
Theologie, Jurisprudenz, Pädagogik sind von Zersetzungsstoffen
angefüllt. Die Zersetzung ist ja schon zum Kindergift pädagogisch in
den Kindergärten geworden. Und die Zersetzung zeigt sich am besten
daran, dass diese Kindergärten auf der anderen Seite wieder eine
Notwendigkeit unseres tötenden Großtstadtlebens geworden sind."
(69)
Dem fraglichen Brief ist darüber
hinaus eine von dem Schreiber angefertigte und von diesem mit
handschriftlichen Kommentaren versehene Zeichnung beigefügt, welche
einen fortdauernden semitischen Einfluss auf die germanische Kultur
insinuiert und am Ende eines spiralförmigen Pfeils den Vermerk
aufweist: "Der semitische Einfluss verschwindet hier allmählich. Das
Christentum der Zukunft wird frei davon sein."(70)
Es kann also kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass der Verfasser
dieses Schreibens dem Einfluss des Judentums eine überwiegend
schädliche Funktion beimaß und dieser es folglich als ein Ziel
ansah, dass sich das "semitische Ferment" im weiteren Verlauf der
Kulturentwicklung allmählich verflüchtigen möge. Von der
Begründungsweise politisch organisierter Antisemiten, welche die
Rücknahme der rechtlichen Gleichstellung und somit die Verdrängung
der Juden aus dem Gesellschaftsleben forderten ("Exklusion"),
unterschied sich allerdings Steiners Überzeugung von der
Unverzichtbarkeit der "semitischen Einschläge" sowie dessen
Forderung nach Assimilation des Diasporajudentums ("Inklusion").
(71)
Eine ambivalente Haltung zur zeitgenössischen jüdischen Religion und
Kultur lässt sich auch in Vorträgen nachweisen, die Steiner vor
Arbeitern des Goetheanum-Baus in Dornach 1923 hielt. Das Judentum
sei demzufolge Katalysator und retardierendes Element in einem. Als
katalysatorisch erweise sich "jüdisches Denken" im Hinblick auf die
Herausbildung eines modernen naturwissenschaftlich-gegenständlichen
Bewusstseins, in dem Steiner eine notwendige Voraussetzung für die
spirituelle Individuation des Menschen erblickte. Der Materialismus
erschien ihm jedoch nur als ein geschichtliches Durchgangsstadium
zur Entwicklung höherer Bewusstseinsformen. Während das
naturwissenschaftliche Denken die Zersetzung überkommener
Traditionen beschleunige und zur Freiwerdung des Menschen von
tradierten kulturellen und religiösen Bindungen führe, lebe im auf
Abstammung und Blutsgemeinschaft rekurrierenden "Jahwe-Impuls" eine
antiquierte Geisteshaltung fort, deren Substrat den Hintergrund für
die Entstehung moderner nationaljüdischer Partikularismen bilde.
(72)
Von der Konnotation des "jüdischen Geistes" mit einer
materialistischen Denkweise nahm Steiner offensichtlich zeit seines
Lebens keinen Abstand. Noch 1924, also ein Jahr vor seinem Tod,
bekräftigte er in Fragenbeantwortungen gegenüber Arbeitern des
Dornacher Goetheanum-Baus seine Ansicht, derzufolge das Judentum zu
einem abstrakten Monotheismus neige. In der zeitgenössischen Medizin
und manchen Bereichen der Kunst spiegle sich der naturalistische und
bilderfeindliche Geist der semitischen Religion wider.
(73)
Der Redner beklagte eine Überrepräsentanz von jüdischen Ärzten in
der europäischen Gesellschaft, die in seinen Augen als Träger und
Multiplikatoren einer "abstrakten Jehova-Medizin" fungierten. Eine
gesetzliche Beschränkung für Juden in bestimmten Berufszweigen, wie
dies damals von den Antisemiten gefordert wurde, wies Steiner jedoch
ausdrücklich zurück.
(74)
Seine Ansicht, vornehmlich jüdische Ärzte neigten aufgrund ihrer
besonderen Seelenkonfiguration zu einem materialistischen Denken,
gab einem in den zwanziger und dreißiger Jahren häufig zu
vernehmenden Topos Ausdruck. Dieser entstand zwischen 1890 und 1920
und wurde in der Folgezeit von dem antisemitischen Diskurs der
Nachkriegsjahre aufgegriffen und zur Speerspitze der antijüdischen
Agitation zubereitet. In seinem berüchtigten "Handbuch der
Judenfrage", das immerhin bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 49
Auflagen erleben sollte, hielt der antisemitische Publizist Theodor
Fritsch den zeitgenössischen jüdischen Medizinern entgegen, "ihre
kalte Nüchternheit und mechanistische Denkweise" führten zu einer
Aufspaltung der Heilbehandlung, "die im kranken Körper eine
maschinenartige Zusammengesetztheit, nicht die lebendig Einheit
sieht und ihn demgemäß behandelt."
(75)
Jüdischen Künstlern sprach Steiner aufgrund ihrer "monotheistischen"
Denk- und Seelenart die Fähigkeit ab, Plastisches darzustellen.
Juden könnten demzufolge auch keine Porträts malen: "Wenn ein Jude
Bildhauer wird, dann kommt eigentlich nichts Besonderes dabei
heraus, weil er dazu noch nicht veranlagt ist. Er hat nicht diese
bildhafte Veranlagung; die geht ihm nicht ein. Wenn ein Jude Musiker
wird, so wird er meistens ein ausgezeichneter Musiker, weil das
nicht bildhaft ist; das stellt man nicht äußerlich dar. So können
Sie unter den Juden große Musiker finden, aber Sie werden kaum in
der Zeit, in der die Künste geblüht haben, unter ihnen große
Bildhauer finden, nicht einmal Maler."
(76)
Die Kolportage, Juden seien für bestimmte künstlerische Arbeiten
unbegabt, da es ihnen an der Fähigkeit zur bildhaften Gestaltung
ermangele, war in den zwanziger und dreißiger Jahren allerdings ein
Gemeinplatz, der keinesfalls nur von Judengegnern verteidigt wurde.
"Israel ist fraglos ein denkendes Volk gewesen, kein gestaltendes,
war literarisch und musisch stärker begabt als in anderen
künstlerischen Gefilden", befand etwa der Kunsthistoriker Ernst
Cohn-Wiener in dem 1929 erschienenen Standardwerk "Die jüdische
Kunst. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart".(77)
Die zeitgenössische Vorstellung von der Abwesenheit figürlicher und
anthropomorpher Darstellungen in der jüdischen Malerei basierte auf
einer Überschätzung des strikten Bilderverbots der Thorah. Das
mosaische Gesetz wurde jedoch im Verlauf der jüdischen Geschichte
immer wieder durchbrochen, wie Bildszenen in hebräischen
Manuskripten des Mittelalters sowie figürliche Darstellungen in den
Bodenmosaiken antiker Synagogen belegen. Letztere wurden erst Ende
der zwanziger Jahre bei Ausgrabungen in Beth Alpha entdeckt und
revolutionierten in der Folgezeit die bis dahin vorherrschende
Auffassung über die jüdische Malerei grundlegend.(78)
"Die Bedeutung
des semitischen Impulses in der Welt"
War Rudolf Steiner ein "völkischer
Antisemit"? Kritische Kurzbibliografie und Resümee
Anmerkungen:
(64)
Rudolf Steiner: Die Theosophie des Rosenkreuzers
(GA 99), vierzehn Vorträge vom 22. Mai 1907 bis 6. Juni 1907,
Dornach 1985. Diese Vortragsreihe enthält auch eine Darstellung der
Welt- und Rassenentwicklung aus theosophisch-anthroposophischer
Perspektive.
(65)
Rudolf Steiner: Die Welträtsel und die
Anthroposophie (GA 54), Vortrag vom 1. Februar 1906, Dornach
1983, S. 254.
(66)
Rudolf Steiner: Der Mensch im Lichte von
Okkultismus, Theosophie und Philosophie (GA 137), Dornach 1956,
S. 130 f. Tatsächlich setzte Blavatsky gemäß antiken gnostischen
Vorbildern Jahwe mit dem Demiurgen gleich und wies ihm bei der
Weltschöpfung den Part einer negativen Kraft zu, welche die Materie
erschaffen habe. Im System des Sephirot-Baumes verkörpere Jahwe
nicht En-Soph, den unbekannten Universalgott der Kabbalisten,
sondern ein niederes Wesen im Rang der Elohim. Vgl. H.P. Blavatsky:
Die Geheimlehre, 4 Bde., Den Haag o.J., Bd 1, S. 34 und
358 sowie Bd. 2, S. 79, 119,133 und 630 f.
(67)
Brief Rudolf Steiners an Marie von Sivers, Rath bei
Düsseldorf, 28. April 1905, in: Rudolf Steiner/ Marie Steiner-von
Sivers: Briefwechsel und Dokumente 1901-1925 (GA 262), Berlin
1967, S. 61-63.
(68)
Ebenda, S. 62 f.
(69)
Ebenda, S. 63.
(70)
Ebenda, S. 62.
(71)
Die anthroposophischen Publizisten Hans-Jürgen Bader,
Manfred Leist und Lorenzo Ravagli erblicken in dem
antijüdischen Affront Steiners eine Fundamentalkritik an der
materialistisch-naturwissenschaftlichen Bewusstseinshaltung
damaliger Zeit. In diesem Kontext verweisen sie auf den
historischen Sachverhalt, dass zu den Pionieren des von Steiner
inkriminierten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen
Fortschritts auch zahlreiche Juden zählten. Dazu vgl. Steven M.
Lowenstein: Der jüdische Anteil an der deutschen Kultur, in:
Michael A. Meyer (Hg.): Deutsch-Jüdische Geschichte in der
Neuzeit, 1871-1918, München 1997, S. 302-332. Steiners Kritik,
so die Autoren, ziele jedoch nicht auf einen vermeintlich
schädlichen "jüdischen" Einfluss, sondern auf die Auswüchse eines
vulgärmaterialistischen Welt- und Menschenverständnisses. Siehe
Hans-Jürgen Bader/ Manfred Leist/ Lorenzo Ravagli: Rassenideale
sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und der
Antisemitismusvorwurf, Stuttgart 2002, S. 84-95. Das zur
Entlastung Steiners vorgebrachte Argument verfinge freilich nur
dann, wenn dieser auf eine Gleichsetzung von Materialismus und
Judentum verzichtet und Formulierungen wie "Einschläge semitischer
Art" und "Zersetzungsferment" in einem ausschließlich wertneutralen
Sinne gebraucht hätte. Davon kann jedoch keinesfalls die Rede sein,
will man den entsprechenden Textstellen nicht Gewalt antun. In der
zeitgenössischen Literatur oszillierte dessenungeachtet der Ausdruck
"jüdisches Zersetzungsferment" häufig zwischen unterschiedlichen
Bedeutungsebenen, die nicht immer von vornherein negativ konnotiert
waren.
(72)
Siehe Rudolf Steiner: Die soziale Grundforderung
unserer Zeit., in: In geänderter Zeitlage (GA 186),
Vortrag vom 7. Dezember 1918, Dornach 1963, S. 119-129.
(73)
Rudolf Steiner: Vom Wesen des Judentums,
Vortrag vom 8. Mai 1924, in: ders.: Die Geschichte der Menschheit
und die Weltanschauung der Kulturvölker (GA 353), S. 179-196,
hier S. 185 ff.
(74)
"Es wäre zum Beispiel sehr natürlich, dass in den
verschiedenen Ländern Europas nicht mehr Juden Ärzte wären, als sie
prozentual zu der Bevölkerung sind. Ich will nicht sagen – bitte,
mich nicht misszuverstehen! –, dass man das durch ein Gesetz
festsetzen sollte; das fällt mir durchaus nicht ein." Aus: Steiner:
Wesen des Judentums, S. 187.
(75)
Theodor Fritsch: Handbuch der Judenfrage,
1919, S. 368.
(76)
Steiner: Wesen des Judentums, S. 186.
(77)
Ernst Cohn-Wiener: Die jüdische Kunst. Ihre
Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1929, S.
11.
(78)
Hannelore Künzl: Jüdische Kunst. Von der
biblischen Zeit bis in die Gegenwart, München 1992, S. 7 ff.
hagalil.com
08-11-2009
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