"... ein Fehler der Weltgeschichte"? -
Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht
Rudolf Steiners
Von Ralf Sonnenberg
"Die Bedeutung des semitischen
Impulses in der Welt"
Die Tatsache, dass Steiner aus dem
Arsenal antijüdischer Begründungsmuster und Motive schöpfte,
bedeutete nicht, dass er sich die Argumentationsweise der
Antisemiten vollständig zu Eigen gemacht hätte. In diesen Kontext
gehören seine überaus zahlreichen Würdigungen der israelitischen
Religion, welche den "esoterischen Keim" für die Entstehung des
Christentums gebildet habe sowie seine Vorträge über die Patriarchen
Abraham und Moses, auf deren Erbe die gesamte jüdisch-christliche
Kulturentwicklung aufruhe.(79)
Affirmative Bewertungen des "monotheistischen Fermentes"(80)
finden sich jedoch keinesfalls nur in Ausführungen, welche die
vorchristlichen Erscheinungsweisen des Judentums behandelten.
Steiner sah (1910) in dem Festhalten der Aschkenasen und Sepharden
an einer monotheistischen Gotteslehre ein spirituell notwendiges
Gegengewicht zum Trinitätsgedanken des Christentums. Es müsse nicht
eigens betont werden, dass "sogar einzelne Volkssplitter, die da und
dort in die großen Volksmassen zerstreut sind, ihre Bedeutung haben
in der Gesamtharmonie der Menschheitsevolution."(81)
Dem jüdischen Volk falle die Aufgabe zu, "abzusehen von aller
Vielheit und synthetisch sich der Einheit hinzugeben, daher die
Kraft der Spekulation, die Kraft des synthetischen Denkens, zum
Beispiel in der Kabbalistik, gerade aus diesem Impuls heraus die
denkbar größte ist. Was aus der Einheit durch das synthetische, das
zusammenfassende Wirken des Ich jemals herausgesponnen werden
konnte, ist im Laufe der Jahrtausende durch den semitischen Geist
herausgesponnen worden. Das ist die große Polarität zwischen
Pluralismus und Monismus, und das ist die Bedeutung des semitischen
Impulses in der Welt. Monismus ist nicht ohne Pluralismus, und
dieser nicht ohne jenen möglich."(82)
Steiners explizite Bezugnahme auf das orthodoxe rabbinische Judentum
und die im Hochmittelalter entstandene Lehre der Kabbala belegen,
dass der Vortragende mit der Unverzichtbarkeit des "jüdischen
Fermentes" in der kulturellen Entwicklung des Okzidents rechnete.
Diese Deutung deckt sich mit späteren Einschätzungen, welche dem
Stellenwert des jüdischen Monotheismus Rechnung tragen. Eine
wichtige Aufgabe der jüdischen Religion des Mittelalters habe
demzufolge darin bestanden, ein Gegengewicht zu den
Profanisierungstendenzen des Christentums und dessen Neigung zur
Adaption heidnisch-polytheistischer Vorstellungselemente zu
schaffen. Die aus dem Orient stammenden Juden hätten überdies zur
Vervollkommnung der arabischen Wissenschaften beigetragen und somit
die Entwicklung der modernen naturalistischen Medizin entscheidend
vorangetrieben, was in diesem Zusammenhang durchaus positiv gemeint
war.(83)
Die "Bedeutung des semitischen Impulses in der Welt" erstreckte sich
Steiner zufolge aber auch auf das Gebiet der Ethik. Schon in seiner
1894 erschienenen "Philosophie der Freiheit", die sich
epistemologisch von Kants Postulat der unüberwindbaren
Erkenntnisgrenzen distanzierte, forderte der Autor nicht die
Außerkraftsetzung der normativen Ethiken, sondern deren schrittweise
"Verwandlung" bzw. "Individualisierung" durch die Hervorbringung
gedanklicher Intuitionen.(84)
Mit der Inspiration des Dekalogs, so führte Steiner 1911 aus, sei
dem "Menschheitsgewissen" ein Werte- und Verhaltenskodex einverleibt
worden, dessen Inhalte auch in der Gegenwart nicht an Gültigkeit
verlören. Die spirituelle "Mission" des Judentums, die in der
allmählichen Emanzipation des Individual- vom Universalgeistigen
bestanden habe, hielt er im Wesentlichen jedoch für abgeschlossen,
auch wenn der von Moses eingeleitete mentale Paradigmenwechsel der
gesamten Menschheit zugute gekommen sei: "Was die spätere Menschheit
dem Moses verdankt, ist die Kraft, Vernunft und Intellekt zu
entfalten, aus dem Ich-Bewusstsein heraus im vollen Wachzustande
über die Welt zu denken, über die Welt sich intellektuell
aufzuklären."(85)
Für die nahe Zukunft prognostizierte Steiner die Wiederkehr eines
"abrahamitischen Zeitalters", das eine "Spiritualisierung" des
menschlichen Intellekts einleite und eine wachsende Anzahl von
Menschen zur Erfahrung der "ätherischen Wiederkunft" Christi
verhelfe.(86)
Die ursprünglich nur auf das "Hebräertum" beschränkte spirituelle
"Mission" werde damit zu einer Aufgabe, welche die gesamte
Menschheit beträfe. Infolgedessen habe das Judentum seine
eigentliche "Sendung" vollendet, denn, so behauptete Steiner 1924,
"es musste früher ein einzelnes Volk da sein, das einen gewissen
Monotheismus bewirkte. Heute muss es aber die geistige Erkenntnis
selber sein. Daher ist diese Mission erfüllt. Und daher ist diese
jüdische Mission als solche, als jüdische, nicht mehr notwendig in
der Entwicklung, sondern das einzig Richtige ist, wenn die Juden
durch Vermischung mit den anderen Völkern in den anderen Völkern
aufgehen."
(87)
Dem die Unterscheidung von Altem und Neuem Bund perpetuierenden
Gedanken einer Obsoletwerdung der Vaterreligion als Folge des
Auftretens der Sohnesreligion korrespondierte das
theosophisch-anthroposophische Modell der sich einander ablösenden
"Kulturepochen" und "Völkermissionen". Bei allzu schematischer oder
gar operationaler Handhabung implizierte letzteres immerhin die
Frage, welche innere Haltung wohl denjenigen Völkern, Kulturen oder
Religionen gegenüber angebracht erschien, deren Fortbestand in der
Konsequenz eines tendenziell teleologisch gedeuteten
Geschichtsablaufs eigentlich nicht vorgesehen war. Unter den
Anhängern der Anthroposophie konnten die Antworten auf diese Frage
unterschiedlich ausfallen.(88)
Steiner selber suchte die Gefahr einer deterministischen Engführung
seines geschichtsevolutionistischen Modells zu umgehen indem er sich
für eine Lesart der "Judenfrage" entschied, welche die Forderung
nach Assimilation mit einer esoterisch untermauerten
(Teil-)Wertschätzung des "semitischen Impulses in der Welt" verband.
War Rudolf
Steiner ein "völkischer Antisemit"? Kritische Kurzbibliografie und
Resümee
Anmerkungen:
(79)
Eine sorgfältige Werkorientierung gibt Lorenzo
Ravagli: Abrahamitische Kultur – Die Kultur von der alles Heutige
ausgegangen ist, in: ders.: "Jahrbuch für anthroposophische
Kritik 2002", S. 146-178.
(80)
Rudolf Steiner: Die Mission einzelner Volksseelen
im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie (GA
121), Dornach 1983, S. 127.
(81)
Ebenda, S. 87.
(82) Ebenda, S. 127 f. Vgl. auch die S.
115, 125 ff. und 172.
(83) Steiner: Wesen des Judentums, S. 186
f.
(84)
"Der Standpunkt der freien Sittlichkeit behauptet also nicht, dass
der freie Geist die einzige Gestalt ist, in der ein Mensch
existieren kann. Sie sieht in der freien Geistigkeit nur das letzte
Entwicklungsstadium des Menschen. Damit ist nicht geleugnet, dass
das Handeln nach Normen als Entwicklungsstufe seine Berechtigung
habe." Aus: Steiner: Philosophie der Freiheit, S.
170.
(85) Rudolf Steiner: Antworten der
Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (GA 60),
Vortrag vom 9. März 1911, Dornach 1983, S. 426.
(86) Rudolf Steiner: Das Ereignis der
Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt (GA 118),
Vortrag vom 6. März 1910, Dornach 1984, S. 112-131.
(87) Steiner: Wesen des Judentums, S. 190.
(88) Auf Beispiele einer antisemitischen
Instrumentalisierung von Aussagen Steiners zum Judentum vornehmlich
während der zwanziger und dreißiger Jahre verweist Helmut Zander.
Vgl. ders: Anthroposophische Rassentheorie. Der Geist auf dem Weg
durch die Rassengeschichte, in: von Schnurbein/ Ulbricht:
Völkische Religion, S. 292-341, hier S. 325-331. Unter jüdischen
Mitarbeitern Steiners konnte das Verhältnis zur Anthroposophie
bisweilen ambivalent sein. Dies galt besonders für Mitstreiter, die
an einer genuin jüdischen Identität festhielten. Bezeichnend ist
etwa die Reaktion Schmuel Hugo Bergmans, der zeitweilig Steiners
Schüler gewesen war und bis zu seinem Tod 1975 in Jerusalem die
Anthroposophie mit Sympathie betrachtete. Auf die Lektüre des
"Homunkulus"-Artikels Steiners aus dem Jahr 1888, der ihm bis dahin
nicht vorgelegen hatte, reagierte er laut einer Tagebuchnotiz vom
24. 5. 1965 regelrecht verstört: "Nur freilich bleibt immer die
Frage, wieso sich Steiner später als Seher gar nicht mit der
Judenfrage befasste und bei der assimilatorischen Schablone der
Wiener Durchschnittsjuden stehen geblieben ist. Muss uns das nicht
skeptisch machen, gegen alles, was er sagt? Wo endet der
Seher und wo beginnt der wirkliche Mensch Steiner mit seinen
Vorurteilen?" Aus: Peter Normann Waage: Eine herausfordernde
Begegnung. Schmuel Hugo Bergman und Rudolf Steiner, Dornach
2006, S. 170. Zu dem Komplex ausführlicher vgl. Ralf Sonnenberg:
Zionismus, Dreigliederungsimpuls und die Zukunft des Judentums.
Jüdische Rezipienten der Anthroposophie vor dem Holocaust, in:
"Die Drei – Zeitschrift für Anthroposophie", Nr. 1, Januar 2001, S.
33-45.
hagalil.com
08-11-2009
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