"... ein Fehler der Weltgeschichte"? -
Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht
Rudolf Steiners
Von Ralf Sonnenberg
War Rudolf Steiner ein "völkischer
Antisemit"? Kritische Kurzbibliografie und Resümee
Vor allem seit Mitte der neunziger
Jahre äußern Autoren den Verdacht, die Anthroposophie transportiere
antisemitische bzw. rassistische Inhalte und sei mitunter sogar
Wegbereiterin des Nationalsozialismus gewesen.(89)
Für kurzweiliges Medieninteresse sorgte ein 2007 bei der
"Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien" (BPjM) eingegangener
Antrag auf die Indizierung zweier Vortragszyklen Steiners wegen
"rassistischer Passagen", dem jedoch nicht stattgegeben wurde.
(90)
Tatsächlich bediente sich der Gründer der Anthroposophie aus dem
Repertoire theosophischer und anderer Rassentheorien
(91),
auch wenn der Behandlung des Themas "Rassen" – sofern dieser Begriff
somatische Varietäten und nicht bewusstseinsgeschichtliche Etappen
im Sinne theosophischer Terminologie meint – in Steiners
umfangreichem Werk eine recht marginale Stellung einnimmt.(92)
Steiner ersetzte zudem – was von Anthroposophie-Kritikern bisweilen
unterschlagen wird – den von Helena P. Blavatsky in erster Linie zu
Periodisierungszwecken verwendeten Begriff "Wurzelrasse" durch
semantisch zutreffendere Ausdrücke wie "Epoche", "Hauptzeitraum"
oder "Zeitalter". Blavatskys "Unterrassen", welche die
"Wurzelrassen" untergliedern sollten, nannte er nach 1907 zunehmend
und dann ausschließlich "Kulturepochen", "Kulturperioden" oder
"Kulturzeitalter", worin ein deutlicher Versuch gesehen werden kann,
rassenbiologische Konnotationen in den Hintergrund treten zu lassen.(93)
Als "rassistisch" muss jedoch aus heutiger Sicht Steiners
sporadisches Bemühen gewertet werden, biologische "Rassen" mit dem
Grad der mentalen "Entwicklungsreife" ihrer Angehörigen zu
korrelieren und somit eine Hierarchisierung von Menschengruppen
spirituell zu begründen, deren unterste Sprossen den – aufgrund
ihrer physischen "Degeneration" zum Aussterben verurteilten –
Indianern
(94)
sowie den von "Trieben"(95)
und "Witterungen"(96)
dominierten "Negern" vorbehalten bleiben. Die Tatsache, dass der
Anthroposophie-Begründer bisweilen auch anerkennende Worte über den
Animismus der Indianer, die "Naturgeistigkeit" der Afrikaner oder
die "Tao-Religion" der Chinesen verlor kann nicht darüber hinweg
täuschen, dass außereuropäische Kulturen in dessen Augen
grundsätzlich "atavistisch" waren und – gemäß der eurozentrischen
Binnenlogik seines geschichtsevolutionären Denkens – sogar noch
unter der materialistisch geprägten Zivilisation des modernen Europa
rangierten, die immerhin eine Vorbereitungs- und Durchgangsstufe zur
Entwicklung der "Bewusstseinsseele"(97)
markierte.
Die "arische" oder europäische hielt Steiner, der hieraus allerdings
keine imperialen, kolonialistischen oder sozialdarwinistischen
Zielsetzungen ableitete, für die "zukünftige, da am Geiste
schaffende Rasse".(98)
Sie repräsentiert innerhalb seines Weltanschauungskosmos die "fünfte
nachatlantische Kulturepoche", deren Anfang er auf den Beginn der
frühen Neuzeit datierte.(99)
Die diskriminierenden Implikationen des evolutionsgeschichtlichen
Stufenmodells hoffte Steiner durch eine Dialektik einzuholen, die er
seinen gelegentlich auch rassenkundlichen Überlegungen vorschaltete:
Die Reinkarnationsfolgen der menschlichen Individuen führten demnach
durch die verschiedenen biologischen "Rassen" hindurch, so dass,
"obgleich man uns entgegenhalten kann, dass der Europäer gegen die
schwarze und die gelbe Rasse einen Vorsprung hat, doch keine
eigentliche Benachteiligung" bestehe.(100)
Nach Auffassung des Politologen und Religionswissenschaftlers Helmut
Zander ist Steiners Oeuvre "von einer nicht systematisierten oder
hermeneutisch integrierten Ambivalenz gekennzeichnet", "in der
Unvereinbares und Widersprechendes stehengeblieben" seien. Es hinge,
worin Zander Recht zu geben ist, somit auch "von den Interessen der
Leser ab, ob die Anthroposophie rassistisch interpretiert wird oder
nicht."(101)
Die völkische Tradition, unter welcher Zander recht allgemein
"sozialdarwinistische" und "rassistische" Auffassungen versteht,
ließe sich auch heute noch "neben und in den humanistischen
Vorstellungen" der Anthroposophie auffinden.(102)
Zander konzediert jedoch, dass Steiner kein "scharfmacherischer
politischer Rassist oder Antisemit" gewesen sei, auch wenn er "zum
intellektuellen Hintergrund und Überbau der deutschen Tragödie"
gehöre.(103)
In früheren Beiträgen verortete Zander die Entstehungsgeschichte der
theosophisch-anthroposophischen Bewegung im Sammelsurium völkischer
Sondergemeinschaften (104), wie sie sich
seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum zu
formieren und in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zu
konsolidieren begannen. In seinem 2007 erschienenen Werk
"Anthroposophie in Deutschland" revidierte er jedoch fast
geräuschlos die vormalige Situierung der Anthroposophie im
völkischen Lager (105), auch wenn der
Autor weiterhin "Konvergenzen" und "Berührungspunkte" etwa zwischen
Steiners "rassentheoretischem Denken" und den Ideologien völkischer
Aktivisten auszumachen glaubt (106) –
was zur Rückfrage Anlass gibt, weshalb Zander nicht mit derselben
Akribie in die entgegengesetzte Richtung blickt, was ihm gestatten
würde, beispielsweise auch "sozialistische" und "kryptomarxistische"
Spurenelemente (107) in den vielfältigen
Anschauungen Steiners aufzuspüren.
Die Subsumierung der Anthroposophie unter die völkischen Lehren der
Kaiserzeit und Weimarer Republik wäre ohnehin nur dann sinnvoll,
wenn sich der Nachweis erbringen ließe, dass sozialdarwinistische,
eugenische, pangermanische und antisemitische Begründungsmuster
einen zentralen Stellenwert innerhalb anthroposophischer Lehren
einnähmen und deren kosmopolitischen und humanistischen Gehalt
überlagerten bzw. marginalisierten. Programmatische Inhalte
völkischer Agitation wie die Forderung nach Segregation der Juden,
nach Bildung einer "artgerechten" Religion, nach Selektion und
Ausmerze oder nach Errichtung eines imperialen Rassenstaates müssten
demnach das ideologische Bindeglied für die unterschiedlichen
anthroposophischen Ideen und Aktivitäten abgeben und das
Selbstverständnis ihrer Protagonisten entscheidend prägen.(108)
Aus der partikularen Konvergenz von rassistischen
Argumentationssträngen und Ideologemen, wie sie im ersten Quartal
des 20. Jahrhunderts den gesellschaftsübergreifenden Diskurs
dominierten und somit kein Spezifikum völkischer Ideologiebildungen
darstellten, eine strukturelle Koinzidenz von völkischer und
anthroposophischer Lehre extrapolieren zu wollen, hieße jedoch die
Begriff "völkisch" auf eine Weise zu inflationieren, die diesen als
Instrument der geschichtswissenschaftlichen Analyse gänzlich
untauglich machte.
Historiker wie George L. Mosse (109),
Jörn Rüsen (110), Uwe Puschner (111),
Wolfgang Benz (112), Michael Rißmann (113)
und jüngst – ungewöhnlich dezidiert – auch Helmut Zander
(114)
meldeten daher zu Recht Vorbehalte
gegenüber dem Versuch an, Steiner unter die völkisch-antisemitischen
"Systembauer" und Aktivisten einzureihen: "Von den völkischen
Theorien über die Geschichte des Judentums unterscheidet sich dieser
Entwurf [der Steinersche, R.S.] erheblich. Bereits die Annahme, die
Existenz des Judentums habe überhaupt einen Sinn gehabt, hätten
Vertreter des völkisch-nationalsozialistischen Spektrums
widersprochen, die im Judentum eher einen ‹Menschheitsverderber› vom
Beginn der Geschichte an sahen. Das von Steiner geforderte
‹Aufgehen› des Judentums in der Menschheit darf … keinesfalls mit
jenem ‹Erlösungsantisemitismus› der Nationalsozialisten verwechselt
werden, der im Genozid seine konsequente Vollendung fand."(115)
Und Wolfgang Benz, Leiter des Berliner Zentrums für
Antisemitismusforschung, resümiert, nachdem er Steiners
"ausdrückliche Distanzierung vom rassistisch-völkischen
Antisemitismus seiner Zeit" kenntlich gemacht hat: "Steiners
Plädoyer für die Assimilation unterscheidet ihn vom Anhänger des
Rasseantisemitismus, wenngleich der Esoteriker in anderen
Zusammenhängen durchaus rassistisch argumentierte."(116)
Wirft schon die Konnotation des Adjektivs "völkisch" mit dem
Substantiv "Religion" Probleme auf, da fragwürdig ist, ob im
Hinblick auf den Eklektizismus völkischer Sinntstifungsversuche
überhaupt von Religion im herkömmlichen Sinne gesprochen werden
kann, so erweisen sich Formulierungen wie "‹arteigenes›
Glaubenssystem" oder "arteigene Religiösität", wie sie in den Titeln
einschlägiger Sammelbände auftauchen
(117),
in Bezug auf eine Charakterisierung des anthroposophischen
Selbstverständnisses gleich in zweifacher Hinsicht als irreführend:
Steiner begriff die Anthroposophie nicht als Religion, sondern als
"Weg meditativer Schulung", welcher dem esoterischen Verständnis der
Weltreligionen, vor allem aber des Christentums und (antiken)
Judentums, diene. Die Schaffung einer "arteigenen Religion" lehnte
er, der sich als Erneuerer einer christlichen Esoterik sah,
ausdrücklich ab: "Der Christus ist kein Volksgott, ist kein
Rassengott, der Christus ist überhaupt nicht der Gott irgendeiner
Menschengruppe, sondern der Christus ist der Gott des einzelnen
Menschen, insofern dieser einzelne Mensch nur ein Angehöriger der
gesamten Menschheit ist".
(118)
Anders als Theodor Fritsch, Alfred Rosenberg oder Max Bewer, die
einen "arischen Christus" propagierten, sah Steiner in Jesus von
Nazareth einen hochstehenden jüdischen "Eingeweihten", der während
der Jordan-Taufe den Christus-Geist in sich aufgenommen habe.(119)
Im Unterschied zur Argumentationsweise der Rassenantisemiten, die
einen "manichäischen" Antagonismus von "arischer" und "jüdischer"
Rasse konstruierten, erblickte Steiner zudem gerade in den
"Ursemiten" die Begründer der "arischen Wurzelrasse", deren
Angehörige vor allem die "Denkkraft" entwickelt hätten.(120)
Steiner deutete die Weltgeschichte auch nicht wie Arthur Comte de
Gobineau als Arena von "Rassenkämpfen" oder wie Alfred Ploetz als
Laboratorium eugenischer Zuchtexperimente, sondern sah in ihr einen
Prozess allmählicher Emanzipation von "Gattungsmerkmalen" wie Rasse,
Vererbung oder Geschlecht. Dem Selbstverständnis ihres Urhebers nach
bildete die Anthroposophie somit einen Gegenentwurf zur
zeitgenössischen naturalistischen Anthropologie, welche die
vermeintliche genetische Determination des Menschen zur Richtschnur
ihres Denkens und Handelns bestimmte und in letzterem oft ein
Zielobjekt rassenhygienischer Manipulation und Selektion erblickte.(121)
Realpolitisch relevant wurde die Ablehnung eugenischer Optimierungs-
und Ausmerzungsgedanken in der NS-Zeit, als es dem Einsatz
anthroposophischer Heilpädagogen zu verdanken war, dass mehrere der
von den Machthabern als "lebensunwert" eingestuften Heiminsassen –
darunter auch jüdischstämmige – vor dem "Euthanasie"-Programm in
Sicherheit gebracht werden konnten.(122)
Die im 1897er Programm der Theosophischen Gesellschaft proklamierte
Vision einer völker- und rassenübergreifenden "Menschenverbrüderung"
präzisierte Steiner 1923 dahingehend, "… dass die Menschen über die
Erde hin eigentlich alle aufeinander angewiesen sind. Sie müssen
einander helfen. Das ergibt sich schon aus der Naturanlage."(123)
Die Ausdifferenzierung der Menschheit in biologische Rassen, so
seine Überzeugung, sei eine vorübergehende Erscheinung der
Geschichte. Sie werde in Zukunft immer mehr an Bedeutung verlieren
und eines Tages völlig überwunden sein. Dieser Prozess beginne
bereits in der Gegenwart. Es werde dahin kommen, so prognostizierte
Steiner bereits 1907, "dass alle Rassen- und Stammeszusammenhänge
wirklich aufhören. Der Mensch wird vom Menschen immer verschiedener
werden. Die Zusammengehörigkeit wird nicht mehr durch das gemeinsame
Blut vorhanden sein, sondern durch das, was Seele an Seele bindet.
Das ist der Gang der Menschheitsentwicklung".(124)
In dem völkischen Konstrukt einer "Volksgemeinschaft" erblickte
Steiner einen Rückfall in reaktionäre Denkweisen, denen er seit 1917
seine politische Utopie einer "Dreigliederung des sozialen
Organismus" entgegensetzte, die er als Beitrag zur Fortbildung des
demokratischen Gemeinwesens verstand. Das so genannte
Dreigliederungskonzept sah eine Entmachtung des ethnisch definierten
Nationalstaates durch die Entflechtung der Bereiche Staat,
Bildungswesen und Wirtschaft vor.(125)
"Ein Mensch", so urteilte Steiner 1917 im Hinblick auf die Ursachen
des Ersten Weltkrieges, "der heute von dem Ideal der Rassen und
Nationen und Stammeszugehörigkeiten spricht, der spricht von
Niedergangsimpulsen der Menschheit. Und wenn er in diesen so
genannten Idealen glaubt, fortschrittliche Ideale vor die Menschheit
hinzustellen, so ist das die Unwahrheit. Denn durch nichts wird sich
die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich
die Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen."(126)
Stattdessen sei es notwendig, dass die anthroposophische Bewegung "…
gerade im Grundcharakter dieses Abstreifen des Rassencharakters
aufnimmt, dass sie nämlich zu vereinigen sucht Menschen aus allen
Rassen, aus allen Nationen, und auf diese Weise überbrückt diese
Differenzierung, diese Unterschiede, diese Abgründe, die zwischen
den einzelnen Menschengruppen vorhanden sind." (127)
Mit diesen Worten ist ein weiteres Unterscheidungskriterium von
anthroposophischen und völkischen Lehren benannt, soweit diese sich
in institutionalisierten Formen Ausdruck verschafften. Denn während
in völkischen Vereinen oder Organisationen der so genannte
Arier-Paragraph über die Homogenität der Gemeinschaft wachte, stand
die Mitgliedschaft der Anthroposophischen Gesellschaft Juden offen.
Zu den Mitarbeitern bzw. Anhängern Steiners jüdischer Abstammung
zählten der Philologe Ernst Müller (1880-1954), der Philosoph und
Zionist Hugo Bergmann (1883-1974) (128),
der Fabrikant Carl Unger (1878-1929) (129),
der in Auschwitz ermordete Komponist Viktor Ullmann (1898-1944) (130),
aber auch Berta Fanta (1865-1918), die vor dem Ersten Weltkrieg in
Prag einen einflussreichen philosophisch-literarischen Salon
unterhielt.(131) Nicht zuletzt der
Umstand, dass in der Anthroposophischen Gesellschaft Juden
"überrepräsentiert" waren und darüber hinaus Schlüsselpositionen
innehatten, brachte ihrem Begründer die Feindschaft völkischer
Kreise bis hin zu einem Attentatsversuch ein.(132)
Als Ausdruck der umfassenden Sinn- und Wertekrise in den Jahren vor
und nach dem Ersten Weltkrieg partizipierten Steiners esoterische
Lehren an dem rassentheoretischen Diskurs jener Zeit, indem er
diesem einzelne Elemente entnahm, welche er den theosophischen Ideen
der Genese von Rassen und Kulturen anverwandelte. Im Gegenzug
adaptierten völkische Theoretiker wie etwa die "Ariosophen" Jörg
Lanz von Liebenfels (1874-1954) und Guido von List (1848-1919)
Versatzstücke theosophischer Rassentheorien, ohne jedoch deren
Einbindung in den universalistischen und kosmopolitischen Horizont
der Blavatskyschen Theosophie zu berücksichtigen.(133)
Steiners peripheren Beschäftigungen mit dem zeitgenössischen
Judentum bewegten sich im Spannungsfeld zwischen einem aufgeklärten,
die Assimilation bedingungslos einfordernden Antijuduaismus und der
christlichen Tradition soteriologisch untermauerter
Judenfeindschaft, ohne dass dessen Anschauungen über jüdische Kultur
und Religion bereits restlos in dieser ideengeschichtlichen
Schnittmenge aufgingen.
Es ist jedoch gewiss kein Zufall, dass Steiner wesentliche Anstöße
bezüglich der Genese seines philosophisch-anthroposophischen Werkes
den Schriften Kants, Fichtes, Hegels und Herders verdankte, die
stellvertretend für die Mehrheit der christlichen Aufklärer an der
Überzeugung von der Obsoletheit des Judentums festhielten und ein
evolutionshistorisches Stufenmodell favorisierten.(134)
Noch in seinem autobiografischen Fragment "Mein Lebensgang",
erschienen 1925, rechtfertigte er sein frühes Verdikt über das
zeitgenössische Judentum als "Fehler der Weltgeschichte" mit dem
Hinweis, dass Ladislaus Specht geirrt habe, als er dem
"Homunkulus"-Rezensenten Antisemitismus vorwarf, "denn ich hatte
ganz aus der geistig-historischen Überschau heraus geurteilt; nichts
Persönliches war in mein Urteil eingeflossen." (135)
Ein Jahr zuvor hatte Steiner, wohl bezugnehmend auf ein Gespräch mit
dem Zionisten Hugo Bergmann, seine assimilationistische Einstellung
noch einmal bekräftigt: "Die Juden", so der Referent, könnten
"nichts Besseres vollbringen als auf[zu]gehen in der übrigen
Menschheit, sich [zu] vermischen mit der übrigen Menschheit, so dass
das Judentum als Volk einfach aufhören würde. Das ist dasjenige, was
ein Ideal wäre. Dem widerstreben heute noch viele jüdische
Gewohnheiten – und vor allen Dingen der Hass der anderen Menschen.
Und das ist gerade dasjenige, was überwunden werden müsste." (136)
Auffällig ist auch hier Steiners fehlende Unterscheidung von Juden
als Angehörigen eines "Religionsvolks" (vergleichbar dem
christlichen "Kirchenvolk"), den Kulturzionisten etwa um Achad Haam
(1856-1927) und solchen Juden, die sich einem
nationalistisch-separatistischen Selbstverständnis verschrieben
hatten, wie es sich in Gestalt des politischen Zionismus
artikulierte. Dass sich jüdisch-religiöse Identitätsbildung und der
Verzicht auf nationaljüdische Ambitionen überdies nicht ausschließen
mussten, ja dass sich hierin sogar seit dem ausgehenden 19.
Jahrhundert das Zukunftsmodell deutsch-jüdischen Lebens in der
modernen Gesellschaft abzuzeichnen begann, zeigte nicht zuletzt die
Erfolgsgeschichte des 1893 in Berlin gegründeten "Centralvereins
deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (CV), dem Mitte der
zwanziger Jahre bereits die Mehrheit der assimilierten
bürgerlich-liberalen Juden in Deutschland zugehörte. (137)
Im Subkontext transportierten Rudolf Steiners Forderungen nach
völliger Assimilation der jüdischen Minderheit sowie seine
bisweilen stereotypen Miniaturen jüdischen Daseins Elemente eines
"antisemitischen Codes" rechtsbürgerlicher sowie linksliberaler
Kreise in den Jahrzehnten vor und nach dem Ersten Weltkrieg, den
sich zum Teil auch jüdische Assimilanten zu Eigen machten. Als
manifesten (Rassen-) Antisemiten könnte man ihn freilich nur dann
apostrophieren, wenn sich herausstellte, dass seine wiederholten
Distanzierungen vom judenfeindlichen, nationalistischen und
rassistischen Diskurs damaliger Zeit nicht ernst gemeint waren und
somit lediglich als Vorwand dienten, um unter der Hand eine
politische Agitation zu betreiben, die auf eine gesellschaftliche
Ausgrenzung bzw. Benachteiligung von Juden abzielte. Eine solche
Deutung erscheint jedoch angesichts der Fülle an gegenteiligen
Belegen und Zeugnissen als wenig überzeugend.
Die zuerst von Julia Iwersen (138)
verbreitete, dann von Helmut Zander (139)
und Micha Brumlik (140) reproduzierte
Kolportage, Steiner habe "die Juden" für den Ausbruch des Ersten
Weltkrieges verantwortlich gemacht und sei somit als Multiplikator
antisemitischer Verschwörungsmythen in Erscheinung getreten, zeigt
jedoch, wie ausgeprägt selbst unter renommierten Wissenschaftlern
die Bereitschaft ist, sich im Umgang mit devianten Strängen der
jüngeren Religions- und Ideengeschichte eher auf Vorurteile zu
verlassen denn auf ein sorgfältiges Studium einschlägiger Quellen:
Den Kontext der betreffenden Aussage bildete eben nicht die von
Iwersen postulierte Schuldzuweisung an Juden, sondern eine Kritik an
dem europäischen Nationalismus, der zum Ersten Weltkrieg geführt
habe. Den Zionismus nahm Steiner von dieser Kritik nicht aus, sofern
dessen politische Programme mit dem europäischen Nationalismus
konvergierten.(141)
Die "Protokolle der Weisen von Zion", in denen sich der judeophobe
Verschwörungsmythos idealtypisch verdichtete, wies Steiner
ausdrücklich als "Fälschung" politisch reaktionärer Kreise zurück.(142)
In der Verbreitung der so genannten Dolchstoß-Legende erblickte er
den Versuch deutscher Militärs, die Verantwortung für die Niederlage
im Ersten Weltkrieg auf politisch missliebige Gruppen abzuwälzen, zu
denen vor allem Juden und Kommunisten gehörten.(143)
Eine unfreiwillige Pointe liegt freilich darin, dass Steiner den
antisemitischen Verschwörungsmythos seiner Zeit zu entkräften
suchte, indem er bei einem anderen – damals nicht minder populären –
Konspirationsglauben Zuflucht nahm: Die "Protokolle" werden nicht
den Juden, sondern den Machinationen fortschritts- und
demokratiefeindlicher Jesuiten angelastet.(144)
Zurück
Anmerkungen:
(89) Die Arbeiten solcher Autoren bieten in der
Regel interessantes Quellenmaterial, das jedoch häufig mit stark
polemischer Einfärbung präsentiert wird. Die einseitige Auswahl der
historischen Quellen, deren teils geflissentliche Verstümmelung und
Missdeutung spiegelt zudem die oft beträchtlichen Aversionen und
Vorurteile der Interpreten wider. Bezeichnend hierfür sind die
Erträge folgender Publikationen: Oliver Geden: Rechte Ökologie.
Umweltschutz zwischen Emanzipation und Faschismus, 2. Aufl.,
Berlin 1999; Guido und Michael Grandt: Schwarzbuch
Anthroposophie. Rudolf Steiners okkult-rassistische Weltanschauung,
Wien 1997; Christian Schüller/ Petrus van der Lett: Rasse Mensch.
Jeder Mensch ein Mischling, Aschaffenburg 1999, S. 112-160;
Volkmar Wölk: Natur und Mythos, Duisburg 1992 sowie vor allem
Peter Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister. Die
Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik, Hamburg
2005 (2. Aufl.).
Um eine sachliche Darstellung und Interpretation bemühen sich
Georg Otto Schmid: Die Anthroposophie und die Rassenlehre Rudolf
Steiners zwischen Universalismus, Eurozentrik und Germanophilie,
in: Joachim Müller (Hg.): Anthroposophie und Christentum. Eine
kritisch-konstruktive Auseinandersetzung, Freiburg 1995,
S. 138-194; Helmut Zander: Sozialdarwinistische Rassentheorien
aus dem okkulten Untergrund des Kaiserreiches, in: Uwe Puschner/
Walter Schmitz/ Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur
"Völkischen Bewegung" 1871-1918, München 1999, S. 224-251;
ders.:
Anthroposophische Rassentheorie; ders.: Anthroposophie in
Deutschland, Band 1, S. 624-637, Michael Rißmann:
Nationalsozialismus, völkische Bewegung und Esoterik, in:
"Zeitschrift für Genozidforschung" 2 (2003), S. 58-91, S. 61 ff
sowie Jana Husmann-Kastein: Schwarz-Weiß-Konstruktionen im
Rassebild Rudolf Steiners, in: "Berliner Dialog. Zeitschrift für
Informationen und Standpunkte zur religiösen Begegnung", hg. v.
Dialog Zentrum Berlin e.V., Bd. 29, Juli 2006, S.22-29.
Eine kritische Auseinandersetzung mit anthroposophischen
Rassenlehren verspricht der Bericht einer von niederländischen
Anthroposophen eingesetzten Untersuchungskommission:
Anthroposophie und die Frage der Rassen. Zwischenbericht der
niederländischen Untersuchungskommission "Anthroposophie und die
Frage der Rassen", Frankfurt a.M. 2000 (3. Aufl.). Eine Studie
der Autoren Jürgen Bader und Lorenzo Ravagli arbeitet
entsprechendes Quellenmaterial fundiert, aber in deutlich
apologetischer Absicht auf: Jürgen Bader/ Lorenzo Ravagli:
Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und
der Rassismus-Vorwurf, Stuttgart 2002. Mit der wechselvollen
Geschichte anthroposophischer Einrichtungen während des "Dritten
Reichs" und der NS-Verfolgung einzelner Mitglieder der 1935
verbotenen Anthroposophischen Gesellschaft beschäftigt sich eine
materialreiche Studie, deren Autor jedoch die Frage, inwieweit
antisemitische Überzeugungen unter damaligen Anthroposophen
verbreitet waren, vollkommen ausspart. Siehe Uwe Werner:
Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945),
München 1999.
Die Verstrickungen von Anthroposophen ins völkisch-antisemitische
bzw. nationalsozialistische Milieu und die Affinität einzelner
italienischer Anthroposophen zum Faschismus thematisiert Peter
Staudenmaier in einer materialgesättigten Studie, in der jedoch
bedauerlicherweise die Konturen zwischen Anthroposophie, allgemeinem
Okkultismus, Theosophie und völkisch-nationalsozialistischen
Ideologemen bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen: Siehe Peter
Staudenmaier: Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and
the politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945,
Diss., Cornell University 2010. Die Notwendigkeit des
sorgfältigen begrifflichen Unterscheidens stellt sich aber bei einem
so weitläufig angelegten Forschungsgegenstand mit ebensolcher
Vehemenz wie die des Vergleichens bzw. des Hinterfragens von
Konvergenzen. Das Fokussieren von gelegentlichen ideellen
Schnittmengen oder auch personellen Verflechtungen zwischen
völkisch-antisemitischem und anthroposophischen Lager verstellt
indes den Blick auf die politische und weltanschauliche
Heterogenität des anthroposophischen Binnenspektrums dieser
Jahrzehnte, in dem neben Sympathisanten bzw. Akteuren des
völkisch-rassistischen Milieus wie Karl Heise, Richard Karutz oder
Friedrich Lienhard auch sehr viele politisch Unverdächtige unterwegs
waren – so zum Beispiel frühe Repräsentanten des "Kulturzionismus"
Martin Bubers wie Hugo Bergmann, Ernst Müller oder Berta Fanta, die
den kosmopolitisch-emanzipatorischen Geist der Anthroposophie,
Steiners Kritik des ethnischen Nationalstaates und seine Ablehnung
eines genetischen Determinismus im unterschiedlichen Maße
wertschätzten. In hermeneutisch-methodischer Hinsicht stellt die
Dissertation Staudenmaiers gegenüber bereits erreichten Standards
der geschichtswissenschaftlichen Erforschung der Anthroposophie
einen Rückschritt dar, was nicht ausschließt, dass der Autor neues,
zum Teil brisantes Quellenmaterial etwa zu antisemitischen Umtrieben
italienischer Anthroposophen wie dem Journalisten, Philosophen und
Mussolini-Bewunderer Massimo Scaligero präsentiert.
Zum Antisemitismus-Verdacht selbst erschienen
desweiteren folgende Arbeiten: Julia Iwersen: Rudolf Steiner:
Anthroposophie und Antisemitismus. Zu einer wenig bekannten Spielart
des christlichen Antisemitismus, in: "Babylon – Beiträge zur
jüdischen Gegenwart", Nr. 16-17, Oktober 1996, S. 153-163; Ekkehard
W. Stegemann: Antijüdische Stereotypen in der
anthroposophischen Tradition? Siehe
http://www.akdh.ch/ps/ps_60Ref-Stegemann.html ;
Bader / Leist/ Ravagli: Rassenideale sind der Niedergang der
Menschheit. Anthroposophie und der Antisemitismusvorwurf; Ralf
Sonnenberg: "Keine Berechtigung innerhalb des modernen
Völkerlebens". Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht
Rudolf Steiners, in: Wolfgang Benz (Hg.): "Jahrbuch für
Antisemitismusforschung" 12 (2003), S. 185-210; Peter Staudenmaier:
Rudolf Steiner and the Jewish Question, in: "Year Book 2005",
Leo Baeck Institute, Oxford 2005, S. 127-147 sowie Ralf Sonnenberg
(Hg.): Anthroposophie und Judentum. Perspektiven einer Beziehung,
Frankfurt a.M. 2009.
(90) Die Kulturwissenschaftlerin und
Gender-Forscherin Jana Husmann-Kastein, 2003 bis 2006
Promotionsstipendiatin der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung,
überspannte den Bogen ihrer berechtigten Kritik an den
Rassentheorien Steiners auf medienwirksame Weise, indem sie für das
Verfahren ein "Gutachten" beisteuerte, das die Rechtmäßigkeit einer
Indizierung nachweisen sollte. Die "Bundesprüfstelle für
jugendgefährdende Medien" ließ sich allerdings nicht als Zugpferd
einer politisch intendierten Kampagne zweier Steiner-Gegner
missbrauchen und reagierte mit Besonnenheit: Dem vom
Familienministerium auf Anregung der Initiatoren hin gestellten
Antrag wurde nicht entsprochen, den Verantwortlichen des Rudolf
Steiner Verlags allerdings geraten, künftige Ausgaben der
beanstandeten Bände kritisch zu kommentieren. – Hätten sich die
Initiatoren dieses Indizierungsantrags weniger von der Suche nach
Schlagzeilen, die einem im Fall der "Anthroposophie-Kritik" immer
sicher sind, als vielmehr von aufrichtiger pädagogischer Sorge
leiten lassen, dann müssten sie nolens volens auch Schriften
Luthers, Herders, Kants, Fichtes, Hegels, Marxens, Max Webers oder
Heinrich Manns, die antisemitische bzw. rassistische Passagen
enthalten und keinesfalls durchweg den Ansprüchen
historisch-kritischer Werkeditionen genügen, von heutigen Teenagern
fernzuhalten suchen. Eine partielle Zensur, selbst wenn sie nur
Jugendliche beträfe, verhinderte jedoch gerade die kritische
Auseinandersetzung mit den in Rede stehenden Altlasten und nähme
somit eine "Wiederkehr des Verdrängten" billigend in Kauf. Nicht
zuletzt der Umstand des "zweierlei Maßes" zeigt die Unaufrichtigkeit
des Ansinnens, sich des unbequemen historischen Erbes rassistischer
Vorurteile mit den Mitteln der "Political Correctness" zu erwehren.
Ein Indizierungsgesuch, dessen Objektwahl Parteilichkeit verrät bzw.
dessen Auswahlkriterien unklar bleiben, weil er aussschließlich
Vorträgen des Esoterikers Steiner gilt, statt sich in gleicher
Manier auch gegen renommierte Autoren der deutschsprachigen
Literatur zu wenden, zeigt, dass die ihm zugrunde liegenden Motive
keine wissenschaftlich-objektiven, sondern ideologische sind. Die
Annahme überdies, theosophische Insider-Literatur aus der Zeit vor
dem Ersten Weltkrieg gehöre zu den bevorzugten Freizeitlektüren
heutiger Teenager, zielt, sofern sie überhaupt ernst gemeint ist, an
der Lebensrealität von Jugendlichen vorbei.
(91)
Ideengeber Steiners in puncto Rassenlehren waren
neben H.P. Blavatsky und Ernst Haeckel (1834-1919) vermutlich auch
Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840), Carl Gustav Carus
(1789-1869) und Hegel. Vgl. Zander: Anthroposophische
Rassentheorie, S. 302 f.
(92)
Die Begriffe "Arier" und "arische Wurzelrasse"
gebrauchte Steiner ohnedies selten. Auf den über 89000 Seiten in
ungefähr 340 Bänden der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe kommt der
Terminus "arische Wurzelrasse" auf genau zehn Seiten vor. Zur
semantischen Aufschlüsselung der in der Anthroposophie
gebräuchlichen Periodisierungen "Wurzelrasse",
"Unterrasse" oder "Kulturepoche" siehe Bader / Ravagli:
Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und
der Rassismus-Vorwurf. Zur Einordnung des Komplexes "biologische
Rassen" im Steinerschen Oeuvre vgl. Anthroposophie und die Frage
der Rassen, S. 15-32.
(93)
Vgl. auch eine Äußerung Steiners vom 4. Dezember
1909, derzufolge "der Rassebegriff aufhört, eine jegliche Bedeutung
zu haben gerade in unserer Zeit" und das Denken in
Rassenklassifikationen eine "Kinderkrankheit der theosophischen
Bewegung" gewesen sei. Siehe Rudolf Steiner: Die tieferen
Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien (GA
117), Dornach 1986, S. 151 f.
(94)
Etwa Steiner: Die Mission, S. 79 und S.
118.
(95)
Rudolf Steiner.: Vom Leben des Menschen und der
Erde. Über das Wesen des Christentums (GA 349), Vortrag vom 3.
März 1923, Dornach 1980, S. 53.
(96)
Rudolf Steiner: Über Gesundheit und Krankheit.
Grundlagen einer geisteswissenschaftlichen Sinneslehre (GA 348),
Vortrag vom 16. Dezember 1922, Dornach 1959, S. 105 f.
(97)
Zu Steiners Deutung der "Bewusstseinsseele" vgl. Jörg
Ewertowski: Die Entdeckung der Bewusstseinsseele. Wegmarken des
Geistes, Stuttgart 2007.
(98)
Steiner: Die Mission, S. 67.
(99)
Vgl. Jens Heisterkamp: Weltgeschichte als
Menschenkunde. Untersuchungen zur Geschichtsauffassung Rudolf
Steiners, Diss., Dornach 1989. S. 129 ff. Der Begriff der
"Wurzelrasse" markiert aus Steiners Sicht vor allem einen
Epochenabschnitt, dessen Repräsentanten in diesem Fall vor allem die
Europäer seien.
(100)
Steiner: Die Mission, S. 78.
(101)
Zander: Sozialdarwinistische Rassentheorien,
S. 246.
(102)
Ebenda, S. 248.
(103)
Zander: Anthroposophische Rassentheorie, S.
325.
(104)
Zander: Sozialdarwinistische Rassentheorien
und ders.:
Anthroposophische Rassentheorie.
(105)
"Der Warnung von Sonnenberg: »Keine Berechtigung
innerhalb des modernen Völkerlebens«, 204 f., Steiner allzuschnell
unter das völkische Milieu zu subsumieren, die er auch an meinen
älteren Publikationen kritisiert, stimme ich zu. Elemente rassischen
Denken implizieren nicht automatisch eine Zugehörigkeit zur
völkischen Bewegung." Aus: Zander: Anthroposophie in Deutschland,
Band 1, S. 632 f.
(106)
Ebenda.
(107)
"Sozialistische" oder sogar "marxistische" Anklänge
treten etwa in den Schriften und Vorträgen Steiners zur sozialen
Dreigliederung in großer Fülle in Erscheinung, wenn der Interpret
versuchsweise mal die "linke Brille" aufsetzt. Siehe etwa Joseph
Huber: Über Anthroposophie, einen gewissen Marxismus und andere
Alternatiefen, in: Hans Magnus Enzensberger (Hg.): "Kursbuch"
55, 1979, S. 139-162 oder Christoph Strawe: Anthroposophie und
Marxismus, Stuttgart 1986. Freilich ist mit dem Auffinden
solcher "Konvergenzen", das sich beliebig nach allen Richtungen hin
ausdehnen ließe, für ein Verständnis der sozialreformerischen,
politischen und ökonomischen Gedankengänge Steiners wenig gewonnen.
(108)
Zur Definition völkischer Ideologien und
Organisationen vgl. Uwe Puschner/ Walter Schmitz/ Justus H.
Ulbricht: Vorwort, in:
Handbuch zur "Völkischen Bewegung", S. IX-XXVII. Siehe auch Uwe
Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich,
Darmstadt 2001, S. 10-25.
(109)
George L. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in
Europa, Frankfurt a.M. 1990, S. 119 f.
(110)
Jörn Rüsen: Rassismus, Modernität und
Anthroposophie, in: "Info3", Nr. 12, Dezember 1998, S.
11-15.
(111)
Brief Uwe Puschners vom 11.11. 2002 an den Autor.
(112)
Wolfgang Benz: Vorwort, in: Ders. (Hg.):
"Jahrbuch für Antisemitismusforschung" 12 (2003), S. 10.
(113)
Rißmann: Nationalsozialismus, völkische Bewegung
und Esoterik, S. 61 ff.
(114)
Zander: Anthroposophie in Deutschland, Band 1,
S. 632 f. und ders.: Rudolf Steiners Rassenlehre. Plädoyer, über
die Regeln der Deutung von Steiners Werk zu reden, in: Uwe
Puschner/ G. Ulrich Großmann (Hg.): Völkisch und national. Zur
Aktualität alter Denkmuster im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2009,
S. 145-155, hier S. 150: "Steiner wollte kein Rassist sein – dies
unterschied ihn von den Völkischen des Kaiserreichs, die nicht genug
von »blutsmäßiger» Abstammung haben konnten. Kritiker, die Steiners
Rassismen isolieren oder zum Zentrum seiner Weltanschauung
stilisieren, werden seiner Konzeption nicht gerecht." Der letzte
Satz überrascht, da Zander in früheren Publikationen selbst noch zu
jenen Kritikern zählte, welche die Rassentheorien Steiners als
»konstitutiv« für dessen Weltanschauung ansahen. Zu begrüßen ist die
an ihre Anhänger gerichtete Einladung des Autors, die heutige
Anthroposophie für historisch-kritische Kontextualisierungen zu
öffnen, die weithin verbreitete selbstreferentielle
Wagenburg-Mentalität zu Gunsten eines auf Augenhöhe stattfindenden
intellektuellen Diskurses zu verlassen: "Zu dieser Akzeptanz von
Kontextualität gibt es meines Erachtens keine Alternative, wenn man
in der europäischen Reflexionskultur Gesprächspartner finden will.
Die Anthroposophie muss zwar diese Kontextualisierung nicht wollen,
darf aber bei einer Verweigerung nicht klagen, wenn man sich im
intellektuellen Getto wiederfindet." (ebenda, S. 152).
(115)
Ebenda, S. 63 f.
(116)
Wolfgang Benz: Vorwort. Nach Jahren einer oft
pseudowissenschaftlichen Rezeptionsgeschichte voll "pauschaler
Verurteilungen" (Benz, ebenda), wie sie mit Jutta Ditfurths Buch
"Feuer in die Herzen. Plädoyer für eine ökologische linke
Opposition" 1992 einsetzte und in der Veröffentlichung dubioser
Anthroposophie- und Waldorf-"Schwarzbücher" ihre Fortsetzung fand,
versachlicht sich die Kontroverse um rassistische und
antijudaistische Äußerungen Rudolf Steiners zusehends. Ein Grund mag
darin liegen, dass die Anthroposophie von immer mehr
Religionswissenschaftlern und Kulturhistorikern als genuiner
Forschungsgegenstand entdeckt wird und ihre Rezeption somit nicht
mehr nur Hasardeuren überlassen bleibt. Steiners Gegnerschaft zum
rassenantisemitisch-völkischen Milieu und Diskurs seiner Zeit wird
von den meisten Historikern inzwischen nicht mehr bestritten. Vgl.
auch Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus.
Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 2: Personen,
Berlin 2009, S. 795.
(117)
Schnurbein/ Ulbricht: Völkische Religion sowie
Sandra Franz:
Die Religion des Grals. Entwürfe arteigener Religiosität im
Spektrum von völkischer Bewegung, Lebensreform, Okkultismus,
Neuheidentum und Jugendbewegung (1871-1945), Schwalbach/Ts.
2009.
(118)
Rudolf Steiner: Alte und neue Einweihungsmethoden
(GA 210), Vortrag vom 7.1.1922, Dornach 2001, S. 25.
(119)
Rudolf Steiner: Aus der Akasha-Forschung. Das
Fünfte Evangelium (GA 148), Vortrag vom 6.1.1914, Dornach 1996,
S. 155-160.
(120)
Rudolf Steiner: Aus der Akasha-Chronik (GA
11), Dornach 1979, S. 30-33.
(121)
Rudolf Steiner: Die spirituellen Hintergründe der
äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis (GA 177),
Vortrag vom 7. Oktober 1917, Dornach 1999, S. 84-86.
(122)
Einige Kinder, die aufgrund ihrer Behinderung und
ihrer jüdischen Herkunft gleich doppelt gefährdet waren, wurden
erfolgreich in die Schweiz evakuiert, wo sie in dem von
Anthroposophen geführten Kinderheim Sonnenhof (Arlesheim) eine neue
Bleibe fanden. Werner: Anthroposophen, S. 354.
(123)
Steiner: Vom Leben des Menschen und der Erde. Über
das Wesen des Christentums (GA 349), S. 59.
(124)
Steiner: Theosophie des Rosenkreuzers, Vortrag
vom 4. Juni1907, S. 129.
(125)
Vgl. Ted van Baarda: Das Selbstbestimmungsrecht
der Völker. Steiners Kritik einer folgenreichen Lehre, in: Jens
Heisterkamp (Hg.): Die Jahrhundertillusion. Wilsons
Selbstbestimmungsrecht der Völker, Steiners Kritik und die Frage der
nationalen Minderheiten heute, Frankfurt a.M. 2002, S. 11-52
sowie Albert Schmelzer: Die Dreigliederungsbewegung 1919. Rudolf
Steiners Einsatz für den Selbstverwaltungsimpuls, Diss.,
Stuttgart 1991.
(126)
Steiner: Die spirituellen Hintergründe,
S. 205.
(127)
Steiner: Die tieferen Geheimnisse des
Menschheitswerdens, S. 152.
(128)
Siehe Sonnenberg: Zionismus und Waage:
Eine herausfordernde Begegnung.
(129)
Ronald Templeton: Carl Unger. Der Weg eines
Geistesschülers, Dornach 1990.
(130)
Ingo Schultz: Viktor Ullmann: Leben und Werk,
Stuttgart 2008.
(131)
Georg Gimpl: Weil der Boden selbst hier brennt.
Aus dem Prager Salon der Berta Fanta (1865-1918), Furth im
Wald 2002.
(132)
Werner: Anthroposophen, S. 8. Ravagli:
Anthroposophie und völkisches Denken. Zur rechtsradikalen
Gegnerschaft der Anthroposophen in der Weimarer Zeit vgl. Lorenzo
Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz. Der
völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie,
Stuttgart 2004.
(133)
Siehe Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten
Wurzeln des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, S.
36-109; ferner Ulrich Nanko: Das Spektrum völkisch-religiöser
Organisationen von der Jahrhundertwende bis ins "Dritte Reich",
in: Schnurbein/ Ulbricht: Völkische Religion, S. 208-226,
hier 213-217 und Zander: Sozialdarwinistische Rassentheorien,
S. 233 ff.
(134)
Vgl. Fußnote 29.
(135)
Rudolf Steiner: Mein Lebensgang (GA 28),
Dornach 1986, S. 145.
(136)
Steiner: Wesen des Judentums, S. 2002.
(137)
Siehe hierzu Avraham Barkai: "Wehr dich!" Der
Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.)
1893–1938, München 2002.
(138)
Iwersen: Rudolf Steiner, S. 155.
(139)
Zander: Sozialdarwinistische Rassentheorien,
S. 244.
(140)
Micha Brumlik: Die Gnostiker. Der Traum von der
Selbsterlösung des Menschen, Berlin 2000, Vorwort.
(141)
Steiner: Wesen des Judentums, S. 189. Als eine
kryptische Schuldzuweisung an Juden könnte hingegen – sofern
man Steiners Sicht der "Jahwe-Wesenheit" als Glied und zugleich
Spiegel der Trinität außer Acht lässt und zudem die Passage
interpretatorisch überstrapaziert – die an gleicher Stelle
auffindbare Aussage gelesen werden, derzufolge die Wirksamkeit
Jahwes den Inspirationshintergrund für den Nationalismus als
gesamteuropäisches Phänomen abgebe. Hierzu siehe Staudenmaier:
Rudolf Steiner and the Jewish Question, S. 143.
(142)
Rudolf Steiner: Vergangenheits- und
Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen (GA 190), Vortrag vom 5.
April 1919, Dornach 1971, S. 114 f. Einen Überblick über die
Entstehungs- und frühe Rezeptionsgeschichte des
antisemitisch-antifreimaurerischen Verschwörungsmythos‘ verschaffen
folgende Studien: Norman Cohn: "Die Protokolle der Weisen
von Zion". Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Zürich
1997; Jeffrey L. Sammons: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die
Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und
Kommentar, Göttingen 1998 sowie Armin Pfahl-Traughber: Der
antisemitisch-antifreimaurerische Verschwörungsmythos in der
Weimarer Republik und im NS-Staat, Wien 1993.
(143)
Siehe zum Beispiel Rudolf Steiner:
Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer
Fragen (GA 192), Dornach 1991, Vortrag vom 18. Mai 1919, S. 118.
Eine Orientierung über die umfangreiche Fachliteratur zur
"Dolchstoßlegende" gibt Gerd Krumeich: Die Dolchstoß-Legende,
in: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, hg. von Etienne
Francois und Hagen Schulze, München 2001, S. 585-599.
(144) Obwohl die neuere Forschung auch auf das
ultra-katholizistische Frankreich als Entstehungshintergrund der
"Protokolle" verweist und damit Steiners Behauptung einer
"jesuitischen Fälschung" nicht mehr ganz so abwegig erscheinen
lässt, verlaufen die Wege der Genesis und Tradierung dieses
politisch folgenschweren Elaborats vielfach im Dunkeln. Vgl. auch
Norman Cohn: Die Protokolle der Weisen von Zion. Eine
umfangreiche, Archive in Frankreich, Russland, der Schweiz und
Israel auswertende Arbeit über die "Protokolle" und ihren
Herausgeber, den russischen religiösen Schriftsteller und
Apokalyptiker Sergej Nilus, sowie eine kommentierte Edition der
Materialien des Berner Prozesses bereitet seit Jahren der Historiker
Michael Hagemeister vor.
hagalil.com
08-11-2009
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