Denn nach dem Verlust des mütterlichen Bodens der heiligen Heimat war
Deutschland der einen Hälfte des jüdischen Volks zu stiefmütterlichem Boden
geworden. Stiefmutter in Gutem wie im Unguten. Nie wirklich liebevoll, oft hart
und böse und streng bis zur Grausamkeit, aber dann auch wieder bemüht,
einigermaßen gerecht zu sein und Lebensmöglichkeit zu belassen, und niemals, in
zwei Jahrtausenden niemals, das letzte Band radikal zerschneidend. Auch des
römischen Kaisers deutscher Nation demütige Kammerknechte waren doch noch von
stiefmütterlichem Recht umhegt. Und es ging ja auch der Stiefmutter selber
vielfach nicht sonderlich gut. Sie hatte ein schweres Leben auch mit ihren
eigenen Kindern, schwerer als die meisten anderen Mütter, und wohl ließ sie oft
wirkliche Sorge und echten Gram unbeherrscht an den Stiefkindern aus.
Sie führten ein Galluthdasein, die Stiefkinder. Und dennoch gewannen sie, im
Lauf der vielen Jahre, eine stiefkindlich innere Beziehung zu deutscher Sonne,
zu deutscher Landschaft, zu deutscher Sprache vor allem. Sie übernahmen die
deutsche Sprache, als sie selber noch unfertig, noch entwicklungsbedürftig war,
und sie entwickelten sie selbständig, nach den Gesetzen des jüdischen Denkens,
das der Talmud regulierte, und nach den Gesetzen des jüdischen Fühlens,
das die Gottesfurcht beherrschte. So entstand die jiddische Sprache,
echte Stiefkindersprache des
"Lernens", dessen Erstes die Gottesfurcht ist. Und wie die Basis der
jüdischen Galluthweltsprache die deutsche Sprache ist, so reifte diese
wiederum an der Übersetzung der hebräischen Bibel ihrer späteren
Vollendung entgegen.
Wo immer die deutsche Sprache in ihrer jiddischen Entwicklungsform gesprochen
wird, ist der Zusammenhang mit dem deutschen Stiefmutterboden dargetan. Der
ganze Kern des europäischen Judentums und auch das Judentum der neuen Welt, der
weitaus größere Teil also des jüdischen Volks überhaupt, ist deutschen
Galluth-Ursprungs. Durch das jüdische Volk ist die deutsche Sprache zu einer
Weltsprache geworden.
Von Deutschland kamen die Juden, die Sprache zeigt's, nach Polen, nach
Litauen, nach Rußland, und wohl auch nach Ungarn. Auch die Ostjuden sind
größtenteils deutsche Juden, und ihre Differenzierung ist nicht das Werk der
jüdischen, sondern der europäischen Geschichte. Noch im 18. Jahrhundert konnte
ein Pne Jehoschua geistiger Führer in Krakau wie in Berlin, in Lemberg
wie in Frankfurt sein. Dann trennte die Aufklärung, der Frühkapitalismus und die
an die Große Revolution anknüpfende soziale Emanzipation Ost und West.
Wer möchte die Behauptung wagen, daß die seltsame Sprachgemeinschaft zwischen
dem deutschen Volk und dem aschkenasischen Teil des Galluthvolks nur Zufall war?
Setzt nicht Sprachgemeinschaft, Jahrhunderte lang in ausdauernder Treue bewahrt,
irgendwie auch seelische Beziehung, ja seelische Bindung voraus? Läßt es sich
leugnen, daß vermöge dieser Sprachgemeinschaft zwischen dem Volk der
Metageschichte und dem deutschen Volk ein Verhältnis ganz besonderer Art
bestand, das überhaupt erst die Voraussetzung schuf für die Intimität wie des
Hasses so auch der Neigung? Ist nicht sie schließlich die Brücke geworden,
mittels derer Söhne des Galluthvolks ohne erhebliche Mühe deutschen Kulturboden
betreten und an ihn sich verlieren konnten? Jener unglückselige
Salomon Maimon,
gestern noch in der polnischen Judengasse hausend, setzt morgen schon
Deutschlands Kant durch die Folgerichtigkeit seines kritischen Denkens in
Erstaunen! An
Schillers
poetischen Versen, die ihr Jiddisch ihnen zu entziffern gestattet, berauschen
sich Jünger der Jeschiwah, und wachen oft genug aus ihrem Taumel überhaupt nicht
mehr auf. Und klingt nicht
Heine, wenn er ganz er selber ist,
wie eine Übertragung aus dem
Jiddischen ins Hochdeutsche?
Beruht nicht letzten Endes die ganze Haskalah, Einbruch deutscher
Aufklärung in das jiddische Ghetto, auf dieser Sprachgemeinschaft?
Mit keinem anderen Volk der Geschichte hat sich der aschkenasische Teil des
Galluthvolks so ernsthaft und so nachhaltig auseinandergesetzt, wie mit dem
deutschen Volk. Nur aus der deutschjüdischen Sphäre konnte Moses Mendelssohn
hervorgehen, und Karl Marx, und Theodor Herzl, und ---
Rabbiner Samson Raphael Hirsch. Diese
Namen nennen heißt aber die ganze jüdische Entwicklungsgeschichte der letzten
zweihundert Jahre kennzeichnen.
In diesen zweihundert Jahren vollzog sich, rückblickend mag man es leichter
gewahr werden, die allmähliche Aktualisierung der Metageschichte, ihre
allmähliche Konfrontierung mit der Geschichte der Völker, in einer Konsequenz
von beispielloser Unerbittlichkeit. Ihre einzelnen Stadien lassen sich nirgends
genauer ablesen, als an dem jüdisch-deutschen Gespräch, das Mendelssohn
mit Lessing begann, und das schließlich der deutsche Dämon mit Mord und Brand
beendete.
Als Geschichte und Metageschichte Aug' in Auge einander gegenüberstanden,
rieß das deutsch-jüdische Band entzwei.
Für immer.
Anm.: *) Galluth = Exil, Israels Zerstreuung unter die
Völker der Welt
aus Isaac Breuer - Weltwende / Zur Erinnerung an das deutsche Judentum,
pp.136