Die religiösen Inhalte der Bibel und der Propheten sind auch die des
ganzen späteren Judentums. Man hat immer wieder auf die biblisch-prophetischen
Formulierungen zurückgegriffen und in ihnen die eigenen religiösen Inhalte
ausgedrückt. Dabei war es für den jüdischen Geschichtskörper aufgrund seiner
charakteristischen Korrelation von "Gesellschaftskörper" und "Kultur" weder
notwendig noch möglich, eine Dogmatik zu entwickeln.
Allerdings sollte man sich hüten, Dogmen mit gewissen bereits in der Bibel
vorkommenden Formulierungen - etwa das "Höre, Israel, der Ewige unser Gott, der
Ewige ist einzig" (Dtn 6,4) - zu verwechseln. Solche Formeln enthalten im
Unterschied zu Dogmen keine Aussagen über Gott, die geglaubt werden sollen,
sondern sind nur Ausdruck der religiösen Grundhaltung des Volkes und zugleich
die Voraussetzung für alles andere Gebotene, bei dem es auch nicht um Glauben,
sondern um das Handeln geht. H. von Schubert (1919, S. 76f.) sieht demgegenüber
das Wesen des Dogmas in nachbiblischer Zeit nicht mehr im Glauben an eine Person
begründet; Glaube wird vielmehr "die Zustimmung zu den Aussagen über diese
Person".
Noch ein Zweites ist zu bedenken: Natürlich hat jeder Jude und zumal jeder
geistige Führer des Volkes seine ihm eigene individuelle Weltanschauung gehabt.
Es ist dann nicht verwunderlich, wenn mancher den Anspruch erhebt, seine
Weltanschauung im Volke durchsetzen zu wollen. Unter soziologischen
Gesichtspunkten ist aber nicht dieser Anspruch wichtig, sondern die Frage, ob er
sich tatsächlich durchgesetzt hat, ob also der Glaube des Einzelnen zum Glauben
der Gesamtheit geworden ist. Schließlich gilt es zu bedenken, dass der Anspruch
auf dogmatische Glaubensbekenntnisse - mit einer Ausnahme vielleicht - erst im
Mittelalter erhoben wurde, und zwar aus apologetischen und politischen Gründen
im Zusammenhang mit der Abwehr fremder Religionen und Kulturen. Die
Glaubensformulierungen wurden - wie in der Philosophie üblich - wie eine Waffe
ergriffen, um den Kampf gegen die fremden Gegner möglich zu machen. Das Ganze
war eine Art Mimikry, die beim Zusammenstoß mit fremden Kulturen nötig wurde.
(Zur Frage der Dogmenbildung vgl. S. Schechter, 1889, S. 48-61 und US-127.)
Etwas Ähnliches wie eine Glaubensformulierung finden wir in der jüdischen
Literatur erstmals im Traktat Sanhedrin des Talmud, wo es heißt: "Dies sind die,
die keinen Anteil an der kommenden Welt haben, die die Wiederauferstehung der
Toten leugnen, die sagen, dass die Tora nicht von Gott gegeben ist, und die
Epikuräer." - Abgesehen davon, dass dieser Satz schon seiner Unvollständigkeit
wegen nicht als vollständige Dogmatik des Judentums angesehen werden kann, geht
aus ihm auch hervor, dass die drei Glaubenserfordernisse aus polemischen Gründen
angeführt werden. Auch S. Schechter (1889, S. 58), der den Glaubenscharakter des
Judentums verteidigt, muss zugeben: "Wenn die Rabbinen die drei Punkte
aufstellten, so muß das irgendeinen historischen Grund gehabt haben." Denn es
gibt auch diese Aussagen im Talmud (zit. nach S. Schechter, 1889, S. 57); "Wer
den Götzendienst leugnet, wird Jude genannt. Der Jude, auch wenn er gesündigt
hat, bleibt Jude."
Von Dogmen im eigentlichen Sinne kann erstmals bei der Sekte der Karäer, die
sich vom Judentum abspaltete, gesprochen werden. Wir finden sie im Eschkol
Ha-Kofer des Jehuda Hadassi (um 1150 n. Chr.), der sie seinerseits
möglicherweise von dem Karäer Josef Alfasir (um 950 n. Chr.) ganz oder teilweise
übernommen hat. Auch der Gründer des Karäismus, Anan ben David, hat offenbar
eine dogmatische, in Arabisch geschriebene "Summe" verfaßt.
Lassen sich zum ersten Mal Dogmen bei einer vom Judentum abgefallenen Sekte
finden, so stellen kurze Zeit später repräsentative Gelehrte des Judentums
selbst Dogmen auf. Der Grund hierfür wird, wie auch S. Schechter (1889) annimmt,
in den engeren Kontakten der Juden zu neueren philosophischen Schulen und
Glaubens-bekenntnissen zu suchen sein, sowie in dem Bemühen einzelner Gelehrter,
sich mit diesen Glaubensbekenntnissen und Philosophien persönlich in der Weise
auseinanderzusetzen, dass sie die Autorität des Judentums in Form eines
theologischen Systems einbringen zu müssen glaubten.
Der erste Vertreter des Judentums, der ein Dogmensystem aufstellte, war der
jüdische Religionsphilosoph Maimonides. Er formulierte dreizehn Glaubensartikel,
von deren Anerkennung er die Zugehörigkeit zum Judentum abhängig machen wollte.
Die Glaubensartikel von Maimonides fanden teilweise Anerkennung, teilweise
wurden sie ergänzt oder gekürzt, teilweise wurde ihnen heftig widersprochen. So
stellte Nachmanides nur drei Grundprinzipien des Judentums auf (die creatio
ex nihilo, die Allwissenheit und die Vorsehung); Rabbi David ben Samuel
d'Estella (1320) sprach von sieben Glaubenssätzen, Rabbi David ben Jomtof Bilia
fügte den dreizehn von Maimonides weitere dreizehn hinzu. Rabbi Josef kennt nur
eine Grundglaubensforderung des Judentums. Endlich vertritt Rabbi Saul aus
Berlin (gestorben 1794), ein Kritiker von Maimonides, dass Dogmen überhaupt nur
mit Rücksicht auf die Notwendigkeit der Zeit gemacht werden können.
Die Dogmen haben tatsächlich keine weiterreichende Bedeutung bekommen, als
individuelle Meinungsäußerungen einzelner Führer des jüdischen Volkes zu sein.
Dies beweist vor allem die Tatsache der völligen Verschiedenheit der
aufgestellten Dogmen. Während das Gesetz nur wenige eindeutige Kodifikationen
gefunden hat, die für das ganze Volk inpraxi verbindlich waren, entstand
unter den jüdischen Gelehrten eine große Auseinandersetzung um die
Glaubensartikel. Doch darüber ist es nie auch nur zur geringsten nationalen
Spaltung und Absonderung gekommen. Es war ein rein theoretischer Streit, der
heute nur noch historische und literarische Bedeutung hat. Das jüdische Volk
selbst hat die Dogmen längst vergessen mit Ausnahme der dreizehn Glaubensartikel
des Maimonides, die - zu einem Gedicht umgearbeitet - nach Beendigung des
Gottesdienstes am Abend der Feiertage gesungen werden. Vergleicht man hiermit
etwa die Rolle des Glaubensbekenntnisses im Islam oder in der katholischen bzw.
protestantischen Kirche, so springt einem der Unterschied sofort in die Augen.
Um den rein theoretischen Charakter der Dogmen und ihre gesellschaftliche
Bedeutungslosigkeit im jüdischen Volk zu illustrieren, mag die Kontroverse
zwischen Maimonides und Rabbi Abraham ben David typisch sein. Auf die Bemerkung
des Maimonides, dass derjenige, der nicht an die völlige Unkörperlichkeit Gottes
glaube, keinen Anteil an der zukünftigen Welt habe, bemerkt Rabbi Abraham in
seinem Kommentar zum Werk von Maimonides kurz: "Bessere und Größere als Du haben
daran geglaubt!"
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