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Das jüdische Volk und sein Gesetz:
Die Bedeutung des Religiösen für den Zusammenhalt des jüdischen Volkes

Von Erich Fromm


 

Der jüdische Geschichtskörper stellt eine Korrelation dar zwischen der verwandtschaftlichen und schicksalsmäßigen Einheit einerseits und der religiösen andererseits, oder anders ausgedrückt, zwischen der physischen und der metaphysischen Einheit des Volkes.

Beide Bindungen sind ihrer Entstehung nach voneinander unabhängig, entstammen verschiedenen Sphären, und die Geschichte des Volkes ist die Geschichte ihrer Wechselwirkung. Aufgrund des selbständig bestehenden Volkskörpers wurde der »Religion" jene Aufgabe abgenommen, die etwa die katholische Kirche übernehmen mußte, nämlich für die Erhaltung und Ausbreitung der gesellschaftlichen Gruppe, von der die Religion getragen wird, zu sorgen. Im Judentum muß der religiöse Inhalt nicht aus sich heraus die gesellschaftlichen Bedingungen schaffen, die die Erhaltung der Gruppen garantieren. Vielmehr war der Bestand der Gruppe durch die Tatsache ihrer autonomen, blutsverwandtschaftlichen und völkischen Bindungen gewährleistet. Es brauchte keine Dogmatik und keine Kirche, um das Gruppenverhalten zu sichern. Der religiöse Inhalt konnte seinem Wesen entsprechend eine individuelle Kategorie bleiben. Die der Kirche immanente Problematik der Vergesellschaftung des Religiösen und des dauernden Kampfes dagegen (vgl. Reformation!) blieb dem jüdischen Volk erspart.

Auf der anderen Seite gab der religiöse Inhalt dem Volk als physischer Einheit eine ganz bestimmte Richtung des Schaffens. Er nahm ihm die Tendenz einer Ausbreitung in der Sphäre „dieser Welt", in der Sphäre wirtschaftlicher und militärischer Macht, und lenkte all seine Kraft auf das Gebiet religiösen Schaffens. Die Frage, ob der Zwang der weltpolitischen Situation oder der freie Wille des Volkes die prima causa ist, bleibt hier unerörtert. Offensichtlich wich das Ideal des mächtigen weltlichen Königs dem Ideal des Messias. Durch diese Hinlenkung aller Kräfte des Volkes auf die Sphäre des religiösen Schaffens, die mit den Propheten beginnt, deren praktische Durchführung Esra einleitet und die Männer der Mischna abschließen, wird der Volkskörper befähigt, selbst die schwersten politischen Schläge zu ertragen, die zweifellos den Untergang anderer, vorwiegend diesseitig orientierter Völker zur Folge gehabt hätten. Der entscheidende Kampf zwischen Rom und dem zweiten jüdischen Staat war nur scheinbar der Kampf zwischen zwei Staaten. In Wirklichkeit zerstörten die Römer nur eine Attrappe, ein Gehäuse, das für den jüdischen Geschichtskörper im Gegensatz zum römischen ganz unwichtig war, so daß der jüdische Geschichtskörper auch nicht ernsthaft in Gefahr kam.

Eine wirkliche Gefahr drohte immer erst dann, wenn dem jüdischen Volk die natürlichen Grundlagen seiner Existenz genommen wurden, nicht aber, wenn ihm die politisch wertvollen Grundlagen reduziert wurden, etwa durch die Zusammensiedlung auf einem verhältnismäßig geschlossenen Gebiet bei wirtschaftlich und rechtlich gerade noch erträglichen Lebensbedingungen. Diesen Zustand gab es schon immer in der jüdischen Geschichte. Auf das Zentrum in Palästina (bis etwa 200 n. Chr.) folgte das in Babylonien (bis 1000 n. Chr.), dann das in Spanien (bis 1500 n. Chr.), dann das in Rußland und Polen (bis 1800 n. Chr.). In all diesen Zentren war bei verschiedener Gestaltung der wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Situation der Juden doch der Bestand des Volkskörpers als physischer Einheit gewährleistet. Erst seit über einem Jahrhundert fehlt ein solches Zentrum, und damit wird in immer steigendem Maße dem religiösen Inhalt des jüdischen Volkes eine Funktion zugemutet, die ihm fremd ist: die äußere Erhaltung der Gruppe zu garantieren, das heißt, zur Kirche zu werden.

Aufgrund der Wechselwirkung zwischen religiösem Inhalt und blutsverwandtschaftlicher und völkischer Bindung brauchte es weder die Bildung einer Kirche noch eines Staates als Ausdrucks wirtschaftlicher und militärischer Machtentfaltung. Vielmehr kam es aufgrund dieser Wechselwirkung zu einer Durchdringung des Gesellschaftskörpers durch die „Seele" des Geschichtskörpers, und zwar mit einer so ungeheuren Pene-tranz, daß der Gesellschaftskörper in seiner ganzen Breite und Tiefe von der Kultur des ethischen Monotheismus erfaßt und geformt wurde.

Das Bindeglied der Korrelation zwischen dieser physischen und metaphysischen Einheit, der Ausdruck also der Durchdringung des Gesellschaftskörpers durch die „Seele" des Kulturkörpers, ist das Gesetz. Es hat nicht die Aufgabe, der Kirche den Bestand der Gruppe zu garantieren, sondern es rechnet mit dem autonomen Bestand des Volkes als Voraussetzung und hat dann vielmehr die Funktion, das Volk als blutsverwandtschaftlich gebundene Gruppe mit der ihm immanent sein sollenden religiösen Idee zu verbinden und diese Idee zu einer dauernden und unzerreißbaren Idee zu gestalten.

Es ergibt sich von vornherein folgender Charakter des Gesetzes: Es soll seinem Inhalt nach ein für alle Glieder des Volkes verbindliches und in Anbetracht der Wahrung der religiösen Individualität des Einzelnen mögliches Normensystem sein, das seinerseits seine Wurzeln in der religiösen Idee hat, die dem Volk innewohnen soll. Die religiös-sittliche Grundeinstellung wird nicht zu einem theologischen System geformt, sondern geht unmittelbar in die Halacha, das Gesetz ein. Dieses wird so stärkster Ausdruck des religiösen Gefühls, welches seine Formung nicht im Reich der Gedanken findet, sondern in einem nationalen, gesellschaftlichen, „wertrationalen" (Max Weber) Handeln.

Der Zeit nach liegt die physische vor der religiösen Bindung. Als blutsverwandtschaftlich gebundene Sippe wandert das Volk Israel nach Kanaan, von dort nach Ägypten. „Die Söhne Israels wurden fruchtbar, so daß das Land von ihnen wimmelte. Sie vermehrten sich, wurden sehr zahlreich und füllten das Land." (Ex 1,7) Doch „erst in der bewegten Zeit, die dem Auszuge aus Ägypten voraufging, und während des Aufenthaltes in der Wüste, der darauf folgte, entstand der Bund der Stämme, die später das Volk Israel ausmachten" (J. Wellhausen, 1895, S. 16).

Zu der physischen Bindung des Blutes tritt die Gemeinsamkeit ihrer ökonomischen Lage und ihres äußeren Schicksals. Als ihre unerträgliche wirtschaftliche Lage sie zur Revolution treibt, zum gemeinsamen Befreiungskampf gegen Ägypten, haben wir durchaus noch den Typus der rein physischen Truppe vor uns. Aber in dieser aus rein ökonomischen Ursachen entstandenen Revolution liegt die Entstehung der metaphysischen Bindung des Volkes. Diese geschah durch das Ereignis am Sinai, die Verkündigung des Gesetzes und den Willen des Volkes, sich als Volk Gottes zu fühlen. »Moses hat den idealen Charakter des Volkes begründet und normiert dadurch, daß er ihm das Gesetz gab" (J. Wellhausen, 1895, S. 16). Diese physisch-religiöse Einheit, diese religiöse und völkisch gebundene Doppelheit wird wohl nirgends stärker ausgedrückt als in Ex 19,6: »Ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören."

Die endgültige Loslösung des jüdischen Gesellschaftskörpers vom Staat und damit der Verzicht auf alle »Diesseits"-Ausdehnung ist die Tat Rabbi Jochanan ben Zakkais. Als Jerusalem im Jahre 70 n. Chr. von den römischen Heeren belagert wurde, gehörte er zur Friedenspartei und mahnte zur einstweiligen Unterwerfung, um Jerusalem und den Tempel vor der Zerstörung zu bewahren. Aber alle Versuche, die Kriegspartei zum Nachgeben zu bewegen, schlugen fehl. Da griff er zu einem Gewaltmittel und ließ sich von seinen Jüngern in einem Sarg durch Jerusalems Tore in das feindliche Lager der Römer tragen, um auf eigene Faust mit dem Feind zu verhandeln. Er bat um die Stadt Jamnia mit ihren Weisen zur Rekonstituierung des Synhedrions und zur Begründung eines Lehrhauses. Die Bitte wurde ihm gewährt. Er übersiedelte mit seinen Schülern nach Jamnia, wohin ihm dann die Nachricht vom Fall Jerusalems überbracht wurde. Damit ist die grundlegende Eigenart des rabbinischen Judentums geschaffen. Das Volk lebt ohne Staat und späterhin ohne gemeinsames Territorium und ohne gemeinsame lebendige Sprache. Es vermag zu leben, physisch allein durch das Blut und das Schicksal gebunden, weil seine Schwerkraft in der Sphäre des Metaphysisch-Religiösen liegt. Rabbi Jochanan ben Zakkai drückte das klar aus, wenn er sagt:

»Wohin Israel vertrieben wird, zieht Gott mit." Rabbi Jochanan ben Zakkai und seine Nachfolger zogen auch die praktischen Konsequenzen aus der veränderten Situation. Das Synhedrion zu Jawneh [Jamnia] erhielt die volle Autorität einer Oberbehörde der Juden Palästinas. Das Tempelopfer wurde endgültig durch das Gemeindegebet ersetzt und so die völlige Loslösung vom Staat vollzogen.

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Seit frühester Zeit hat sich das Judentum in unterschiedlichen Gesellschaften behauptet. Erich Fromm untersucht  die Faktoren, aus denen das "Jüdische Gesetz" des Zusammenlebens entstand.
Erich Fromm
, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Nach seiner Promotion in Soziologie 1922 in Heidelberg kam er mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds in Berührung und wurde Psychoanalytiker. 1933 emigrierte er in die USA, wo er an verschiedenen Instituten lehrte, und anschließend, von 1950 bis 1974, an der Universität von Mexiko City unterrichtete. Er starb 1980 in Locarno in der Schweiz.

haGalil onLine 14-01-2003


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