Der jüdische Geschichtskörper stellt eine Korrelation dar
zwischen der verwandtschaftlichen und schicksalsmäßigen Einheit einerseits und
der religiösen andererseits, oder anders ausgedrückt, zwischen der physischen
und der metaphysischen Einheit des Volkes.Beide Bindungen sind ihrer
Entstehung nach voneinander unabhängig, entstammen verschiedenen Sphären, und
die Geschichte des Volkes ist die Geschichte ihrer Wechselwirkung. Aufgrund des
selbständig bestehenden Volkskörpers wurde der »Religion" jene Aufgabe
abgenommen, die etwa die katholische Kirche übernehmen mußte, nämlich für die
Erhaltung und Ausbreitung der gesellschaftlichen Gruppe, von der die Religion
getragen wird, zu sorgen. Im Judentum muß der religiöse Inhalt nicht aus sich
heraus die gesellschaftlichen Bedingungen schaffen, die die Erhaltung der
Gruppen garantieren. Vielmehr war der Bestand der Gruppe durch die Tatsache
ihrer autonomen, blutsverwandtschaftlichen und völkischen Bindungen
gewährleistet. Es brauchte keine Dogmatik und keine Kirche, um das
Gruppenverhalten zu sichern. Der religiöse Inhalt konnte seinem Wesen
entsprechend eine individuelle Kategorie bleiben. Die der Kirche immanente
Problematik der Vergesellschaftung des Religiösen und des dauernden Kampfes
dagegen (vgl. Reformation!) blieb dem jüdischen Volk erspart.
Auf der anderen Seite gab der religiöse Inhalt dem Volk als physischer
Einheit eine ganz bestimmte Richtung des Schaffens. Er nahm ihm die Tendenz
einer Ausbreitung in der Sphäre „dieser Welt", in der Sphäre wirtschaftlicher
und militärischer Macht, und lenkte all seine Kraft auf das Gebiet religiösen
Schaffens. Die Frage, ob der Zwang der weltpolitischen Situation oder der freie
Wille des Volkes die prima causa ist, bleibt hier unerörtert.
Offensichtlich wich das Ideal des mächtigen weltlichen Königs dem Ideal des
Messias. Durch diese Hinlenkung aller Kräfte des Volkes auf die Sphäre des
religiösen Schaffens, die mit den Propheten beginnt, deren praktische
Durchführung Esra einleitet und die Männer der Mischna abschließen, wird der
Volkskörper befähigt, selbst die schwersten politischen Schläge zu ertragen, die
zweifellos den Untergang anderer, vorwiegend diesseitig orientierter Völker zur
Folge gehabt hätten. Der entscheidende Kampf zwischen Rom und dem zweiten
jüdischen Staat war nur scheinbar der Kampf zwischen zwei Staaten. In
Wirklichkeit zerstörten die Römer nur eine Attrappe, ein Gehäuse, das für den
jüdischen Geschichtskörper im Gegensatz zum römischen ganz unwichtig war, so daß
der jüdische Geschichtskörper auch nicht ernsthaft in Gefahr kam.
Eine wirkliche Gefahr drohte immer erst dann, wenn dem jüdischen Volk die
natürlichen Grundlagen seiner Existenz genommen wurden, nicht aber, wenn ihm die
politisch wertvollen Grundlagen reduziert wurden, etwa durch die
Zusammensiedlung auf einem verhältnismäßig geschlossenen Gebiet bei
wirtschaftlich und rechtlich gerade noch erträglichen Lebensbedingungen. Diesen
Zustand gab es schon immer in der jüdischen Geschichte. Auf das Zentrum in
Palästina (bis etwa 200 n. Chr.) folgte das in Babylonien (bis 1000 n. Chr.),
dann das in Spanien (bis 1500 n. Chr.), dann das in Rußland und Polen (bis 1800
n. Chr.). In all diesen Zentren war bei verschiedener Gestaltung der
wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Situation der Juden doch der
Bestand des Volkskörpers als physischer Einheit gewährleistet. Erst seit über
einem Jahrhundert fehlt ein solches Zentrum, und damit wird in immer steigendem
Maße dem religiösen Inhalt des jüdischen Volkes eine Funktion zugemutet, die ihm
fremd ist: die äußere Erhaltung der Gruppe zu garantieren, das heißt, zur Kirche
zu werden.
Aufgrund der Wechselwirkung zwischen religiösem Inhalt und
blutsverwandtschaftlicher und völkischer Bindung brauchte es weder die Bildung
einer Kirche noch eines Staates als Ausdrucks wirtschaftlicher und militärischer
Machtentfaltung. Vielmehr kam es aufgrund dieser Wechselwirkung zu einer
Durchdringung des Gesellschaftskörpers durch die „Seele" des Geschichtskörpers,
und zwar mit einer so ungeheuren Pene-tranz, daß der Gesellschaftskörper in
seiner ganzen Breite und Tiefe von der Kultur des ethischen Monotheismus erfaßt
und geformt wurde.
Das Bindeglied der Korrelation zwischen dieser physischen und metaphysischen
Einheit, der Ausdruck also der Durchdringung des Gesellschaftskörpers durch die
„Seele" des Kulturkörpers, ist das Gesetz. Es hat nicht die Aufgabe, der Kirche
den Bestand der Gruppe zu garantieren, sondern es rechnet mit dem autonomen
Bestand des Volkes als Voraussetzung und hat dann vielmehr die Funktion, das
Volk als blutsverwandtschaftlich gebundene Gruppe mit der ihm immanent sein
sollenden religiösen Idee zu verbinden und diese Idee zu einer dauernden und
unzerreißbaren Idee zu gestalten.
Es ergibt sich von vornherein folgender Charakter des Gesetzes: Es soll
seinem Inhalt nach ein für alle Glieder des Volkes verbindliches und in
Anbetracht der Wahrung der religiösen Individualität des Einzelnen mögliches
Normensystem sein, das seinerseits seine Wurzeln in der religiösen Idee hat, die
dem Volk innewohnen soll. Die religiös-sittliche Grundeinstellung wird nicht zu
einem theologischen System geformt, sondern geht unmittelbar in die Halacha, das
Gesetz ein. Dieses wird so stärkster Ausdruck des religiösen Gefühls, welches
seine Formung nicht im Reich der Gedanken findet, sondern in einem nationalen,
gesellschaftlichen, „wertrationalen" (Max Weber) Handeln.
Der Zeit nach liegt die physische vor der religiösen Bindung. Als
blutsverwandtschaftlich gebundene Sippe wandert das Volk Israel nach Kanaan, von
dort nach Ägypten. „Die Söhne Israels wurden fruchtbar, so daß das Land von
ihnen wimmelte. Sie vermehrten sich, wurden sehr zahlreich und füllten das
Land." (Ex 1,7) Doch „erst in der bewegten Zeit, die dem Auszuge aus Ägypten
voraufging, und während des Aufenthaltes in der Wüste, der darauf folgte,
entstand der Bund der Stämme, die später das Volk Israel ausmachten" (J.
Wellhausen, 1895, S. 16).
Zu der physischen Bindung des Blutes tritt die Gemeinsamkeit ihrer
ökonomischen Lage und ihres äußeren Schicksals. Als ihre unerträgliche
wirtschaftliche Lage sie zur Revolution treibt, zum gemeinsamen Befreiungskampf
gegen Ägypten, haben wir durchaus noch den Typus der rein physischen Truppe vor
uns. Aber in dieser aus rein ökonomischen Ursachen entstandenen Revolution liegt
die Entstehung der metaphysischen Bindung des Volkes. Diese geschah durch das
Ereignis am Sinai, die Verkündigung des Gesetzes und den Willen des Volkes, sich
als Volk Gottes zu fühlen. »Moses hat den idealen Charakter des Volkes begründet
und normiert dadurch, daß er ihm das Gesetz gab" (J. Wellhausen, 1895, S. 16).
Diese physisch-religiöse Einheit, diese religiöse und völkisch gebundene
Doppelheit wird wohl nirgends stärker ausgedrückt als in Ex 19,6: »Ihr aber
sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören."
Die endgültige Loslösung des jüdischen Gesellschaftskörpers vom Staat und
damit der Verzicht auf alle »Diesseits"-Ausdehnung ist die Tat
Rabbi Jochanan ben Zakkais.
Als Jerusalem im Jahre 70 n. Chr. von den römischen Heeren belagert wurde,
gehörte er zur Friedenspartei und mahnte zur einstweiligen Unterwerfung, um
Jerusalem und den Tempel vor der Zerstörung zu bewahren. Aber alle Versuche, die
Kriegspartei zum Nachgeben zu bewegen, schlugen fehl. Da griff er zu einem
Gewaltmittel und ließ sich von seinen Jüngern in einem Sarg durch Jerusalems
Tore in das feindliche Lager der Römer tragen, um auf eigene Faust mit dem Feind
zu verhandeln. Er bat um die Stadt Jamnia mit ihren Weisen zur Rekonstituierung
des Synhedrions und zur Begründung eines Lehrhauses. Die Bitte wurde ihm
gewährt. Er übersiedelte mit seinen Schülern nach Jamnia, wohin ihm dann die
Nachricht vom Fall Jerusalems überbracht wurde. Damit ist die grundlegende
Eigenart des rabbinischen Judentums geschaffen. Das Volk lebt ohne Staat und
späterhin ohne gemeinsames Territorium und ohne gemeinsame lebendige Sprache. Es
vermag zu leben, physisch allein durch das Blut und das Schicksal gebunden, weil
seine Schwerkraft in der Sphäre des Metaphysisch-Religiösen liegt. Rabbi
Jochanan ben Zakkai drückte das klar aus, wenn er sagt:
»Wohin Israel vertrieben wird, zieht Gott mit." Rabbi Jochanan ben Zakkai und
seine Nachfolger zogen auch die praktischen Konsequenzen aus der veränderten
Situation. Das Synhedrion zu Jawneh [Jamnia] erhielt die volle Autorität einer
Oberbehörde der Juden Palästinas. Das Tempelopfer wurde endgültig durch das
Gemeindegebet ersetzt und so die völlige Loslösung vom Staat vollzogen.
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