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Kapitel 3. / Das jüdische Volk und sein Gesetz:
Von der Form im allgemeinen und dem jüdischen Gesetz im besonderen

Nur ein kreatives Volk kann sinnvoll Formen leben. Ist ein Volk unschöpferisch, dann wird das Formensystem zum Formalismus. Versteht das Volk nicht mehr, dass die Form nur ein Vorletztes ist, wird sie ihm selbst zum Inhalt - und es müssen neue Propheten kommen, es zu erwecken...

Von Erich Fromm


 

Das jüdische Volk wird durch die gemeinsame Form des Gesetzes konstituiert, wobei das Gesetz der Träger des religiösen Inhalts ist.
Welches ist die allgemeine Bedeutung der Form als gesellschaftliches Handeln - als formaler Ausdruck religiösen Inhalts verstanden - und welches ist ihre Beziehung zum Sinn?

Die Bedeutung der Form ist zunächst negativ in dem Schutz zu sehen, den sie gewährt. Sie schützt das Heilige, das sich in ihr birgt, den Inhalt, dem sie als Hülle dient. Der heilige Inhalt darf nur in seltenen Augenblicken unmittelbar ausgesprochen und enthüllt werden. In der Geschichte lässt sich immer wieder beobachten, dass dann, wenn heiligste Inhalte unverhüllt der Masse übergeben werden, sie immer mehr ihre Heiligkeit verlieren und schließlich als Plattheiten enden, die nur noch von Unwissenden im Munde geführt werden. Das Heilige darf nur im Augenblick der Weihe oder in der Heimlichkeit intimer Menschengemeinschaft gefahrlos ausgesprochen werden. Dies ist der tiefere Sinn des jüdischen Verbots, den Namen Gottes auszusprechen, und erklärt zugleich, warum es dennoch dem hohen Priester einmal im Jahr, in der Weihestunde des Versöhnungstages, erlaubt war, den Namen Gottes auszusprechen.

Die Form schützt den in ihr geborgenen heiligen Inhalt; sie schützt aber auch die Individualität des von diesem Inhalt erfüllten Menschen. Zwar lässt schon die Sprache, insofern sie die Form ist, in der ein Inhalt ausgedrückt wird, der Individualität des Einzelnen eine gewisse Freiheit, den Inhalt so zu verstehen und ihn sich neu zu schaffen, wie er allein es kann und muss; um wieviel größer ist aber die Freiheit, wenn der ungesagte Inhalt in der Form verhüllt bleibt. Erst dann kann der Einzelne diesen Inhalt ganz seiner Eigenart entsprechend gestalten, ohne dennoch - und hierin liegt eine weitere Bedeutung der Form - den Zusammenhang mit den Menschen seiner Generation, mit der Gesamtheit des Volkes und mit den Generationen vor ihm und nach ihm, also den Zusammenhang mit der Geschichte zu verlieren. Formen sind unmittelbare Träger des "Sinns", sie sind Vermittler zwischen religiöser Idee und Gesamtheit. Sie wahren ebenso die Individualität des Einzelnen im Rahmen der Idee, wie den Zusammenhang der Gesamtheit und die Kontinuität der Geschichte.

Die Form gibt nicht den Inhalt selbst, sie deutet ihn nur an. Der Einzelne muss sie mit Inhalt erfüllen und immer wieder von neuem erfüllen. Er selbst muss Inhalt schaffen, muss schöpferisch, muss Künstler sein. Die Form erzieht Menschen, erzieht ein Volk zum Schöpfertum. Und nur ein schöpferisches Volk kann sinnvoll Formen leben. Ist ein Volk unschöpferisch, dann wird das Formensystem zum Formalismus. Versteht das Volk nicht mehr, dass die Form nur ein Vorletztes ist, wird sie ihm selbst zum Inhalt - und es müssen neue Propheten kommen, es zu erwecken.

Gemeinsame Formen erziehen zur Liebe. Liebe zielt auf den Menschen an sich, unabhängig von seiner Eigenart und Qualifikation. Die Form ist eine Bindung, die unabhängig von der Eigenart des Einzelnen ist. Sie schafft Gemeinsames zwischen den Menschen, zwischen guten und schlechten, armen und reichen, klugen und dummen. An der Fülle gemeinsamer Formen ist sowohl die Verbundenheit eines Volkes zu erkennen wie auch das Maß der Liebe, das in ihm ist. Aus der Gemeinsamkeit der sinnerfüllten Form erklärt sich auch die Eigenart der durch die Form gebundenen Masse. Dort, wo eine Masse durch keine oder nur durch unwesentliche Formen verbunden ist, da ist ihr gerade das triviale Geringwertige gemeinsam. Der Einzelne mag in ihr der Wertvolle, Sittliche sein, doch die Masse vieler solcher Einzelner ist unsittlich, ist zu Handlungen fähig, deren der Einzelne nie fähig wäre, weil jeder nur einen Teil der Verantwortung trägt und den größeren Teil auf alle anderen abwälzt.

Hat jedoch die Masse eine Gemeinsamkeit von Formen, die zum Heiligsten und Höchsten in Beziehung stehen, wird die Psychologie der Masse gerade umgekehrt sein. Mag der Einzelne zu Schlechtem fähig sein, die Masse, die Gemeinde ist heilig, weil die Menschen dadurch, dass ihnen gerade ihr Heiligstes gemeinsam ist, tiefe Ehrfurcht voreinander haben; sie wälzen auch nicht die Verantwortung auf den anderen ab, vielmehr wird ihre eigene Verantwortung durch seine Gegenwart noch erheblich verstärkt. Hierin liegt die Gegensätzlichkeit der Psychologie der formlosen europäischen Masse und der formgebundenen jüdischen Masse. Die Liebe schaffende Bedeutung des Gesetzes drückt Leopold Zunz (1843, S. 174f.) besonders schön aus: "So oft dann an unserm äußern Menschen das Symbol sichtbar wird, regt in dem Innern sich die alte Liebe und zieht in ihre geweihten Kreise Alle, die in gemeinschaftlicher Überzeugung mit uns sich erbauet, die mit dem religiösen Brauch uns Tugenden eingepflanzt haben; ja, es werden Alle uns nahe gerückt, die mit uns dasselbe Weh gefühlt, oder mit denen wir gleiches Leid tragen, und in ein Meer glühender Liebe versinkt und schmilzt die kalte Selbstsucht... Dahingegen wirst du, wenn deine Seele an dem religiösen Gesetze Ergötzen hat, denen zugethan bleiben, welche in demselben Gesetze dasselbe Heiligthum verehren."

Was für die Form im allgemeinen gilt, gilt natürlich auch für das jüdische Gesetz im besonderen. Das Gesetz, das - wie bereits gezeigt wurde - Handeln, und nicht Glauben verlangt, ist für die Gesamtheit geschaffen, nicht für den Einzelnen, für das Volk, nicht für eine Schicht. Vor ihm sind alle gleich; es besagt einen inhaltlichen, nicht einen formalen Demokratismus. Das Judentum verneint prinzipiell eine nur für eine gesellschaftliche Schicht mögliche oder bestimmte Kultur; das Gesetz ist stärkster Ausdruck dieses Prinzips. Es soll dem ganzen Volke die Wege zum Ziel bahnen. Deshalb hat sich ihm auch der zu unterwerfen, der die Stützen des Gesetzes gar nicht nötig hätte, weil er den Weg zum Ziel alleine finden könnte. Gerade die Führer der Nation haben diesen Grundsatz mit ihrem Blute besiegelt, als sie zur Zeit der Hadrianischen Verfolgungen dem Volk erlaubten, bei Todesgefahr das Gesetz zu verletzen (es sei denn, es ging um Mord, Unzucht oder Götzendienst), und selbst aber, die sie gewiss am wenigsten des Gesetzes bedurften, von dieser Erlaubnis Gebrauch zu machen verschmähten.

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Seit frühester Zeit hat sich das Judentum in unterschiedlichen Gesellschaften behauptet. Erich Fromm untersucht  die Faktoren, aus denen das "Jüdische Gesetz" des Zusammenlebens entstand.
Erich Fromm
, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Nach seiner Promotion in Soziologie 1922 in Heidelberg kam er mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds in Berührung und wurde Psychoanalytiker. 1933 emigrierte er in die USA, wo er an verschiedenen Instituten lehrte, und anschließend, von 1950 bis 1974, an der Universität von Mexiko City unterrichtete. Er starb 1980 in Locarno in der Schweiz.

haGalil onLine 13-02-2003


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