Mystische Aspekte im
Judentum
Aus der Geschichte der
jüdischen Literatur:
Kabbala
Teil 2
Chassidej Aschkenas
Neben der
kabbalistischen geht noch eine andere mystische Strömung,
ähnlich wie die beiden Strömungen eines Flusses im Frühjahr, durch die
jüdische Literatur jener Epoche, die man eher als eine Fortsetzung der
gaonäischen Geheimlehre ansehen könnte, und die in Deutschland ihre
Heimat, in den Leiden und Verfolgungen der Juden in jenem Lande aber
ihren Ursprung haben mag.
Noch lebten in Deutschland, in
Böhmen und Oesterreich die letzten Thosaphisten oder deren Schüler, und
das Talmudstudium hatte in jenen Ländern eifrige Pfleger und Förderer.
Die trübe soziale Lage der Juden in Deutschland gestattete ihnen aber
nicht, im Geiste ihrer Brüder in den romanischen Ländern zu forschen und
zu lehren. Vielmehr suchten sie in der rigorosesten Frömmigkeit und in
der Versenkung in das Gotteswort den einzigen Trost. Die religiöse
Strenge der deutschen Juden wurde sprichwörtlich in der Galluth, und
diese wurden den minderfrommen Glaubensgenossen Spaniens und der
Provence oft als Muster aufgestellt.
Die tiefe Versenkung in den Geist
der Vorzeit förderte aber andererseits auch wieder eine mystische
Richtung zutage, die mit analogen Erscheinungen innerhalb der
christlichen Kirche eine auffallende Verwandtschaft zeigt, so daß die
Ansicht berechtigt ist, die Geistesrichtungen der Bekenner beider
Religionen seien vielleicht niemals verwandter und beziehungsreicher
gewesen, als im dreizehnten Jahrhundert, in welchem sie im Leben sich am
feindseligsten gegenüber gestanden und durch die tiefste Kluft von
einander geschieden waren.
Jehuda haChasid
Diese Wahlverwandtschaft tritt in
der Erscheinung und den Ansichten eines von der Sage mit besonderer
Geschäftigkeit verherrlichten Mannes hervor, des Jehuda b. Samuel
ha-Chasid (der Fromme), der gegen Ende des zwölften und anfangs des
dreizehnten Jahrhunderts in Regensburg lebte.
Er hat das Gebiet der mystischen
Theosophie in Deutschland wahrscheinlich zuerst in eine Bahn gelenkt,
die ziemlich verschieden von der war, welche die Kabbala in Spanien
einschlug. Seine mystische Richtung entsprang nicht aus Opposition gegen
die Philosophie, welche ja den deutschen Juden nicht fremd war, sondern
aus dem Schmerz des Lebens und aus dem Leid der Zeiten. So bildete
Jehuda der Fromme sich eine eigene Lebensanschauung, der man sogar
zuweilen eine gewissermaßen oppositionelle Richtung gegen das
vorwiegende Talmudstudium kaum wird absprechen können. "Einem Ideal der
Erkenntnis und der Frömmigkeit hingegeben, schritt sein Leben und sein
Denken über die Zeitgenossen hinweg."
Seine Aussprüche und
Lehrmeinungen wurden später gesammelt und unter seinem Namen
herausgegeben; wieviel von der ursprünglichen Fassung dabei
verlorengegangen, ist kaum noch zu ermitteln. Sicher aber sind jene
Ansichten, die den Grundstock seiner Weltanschauung bilden, verschieden
von denen der Zeitgenossen gewesen, deren übereifriges Talmudstudium er
zu tadeln wagt, und von denen er sich in manchen Dingen, die auch in das
Gebiet der religiösen Praxis hineinragen, entschieden trennt.
Über die auf halachische Quellen
sich stützende Rigorosität stellt er die Liebe zu Gott und das Versenken
in seine heiligen Geheimnisse - die "Gottesminne der christlichen
Mystik" - die ungleich wichtiger seien als die praktische Frömmigkeit.
Das Edle in dem Menschlichen, das Höchste in dem Tun des Israeliten zur
Geltung zu bringen, in den Andeutungen der heiligen Bücher die innerste
Wahrheit aufzufinden, das wird als Ziel seines tiefen und reinen Geistes
bezeichnet, in dem "Dichterisches, Sittliches und Göttliches" ineinander
verschmolzen erscheinen. Von seinen Schriften, die, wie gesagt, nur noch
in Trümmern erhalten sind, wird hauptsächlich das später sehr
hochgehaltene Sepher hach- Chasidim (Buch der Frommen) genannt.
Das Buch der Frommen
Erhabenes und Kleinliches,
Schönes und Abstoßendes liegen hier neben- und untereinander,
Edelsteine, die unvergänglichen Glanz ausstrahlen, sind unter Gerölle
verschüttet, Goldkörner unter Schlacken und Sand verstreut, duftende.
Blumen sprießen aus Schutt und Moder auf, das Bild frischesten Lebens
neben dem der Verwesung und des Todes. Der Grundzug des Buchs aber ist
die Liebe zu Gott und den Menschen. Und darum führt es mit Recht den
Titel des "Buches der Frommen".
Sein Begründer - denn als solcher
darf Jehuda ha-Chasid unbedingt angesehen werden - ist von dieser Liebe selbst
so schwärmerisch erfasst und durchdrungen, dass er sie für alle Beziehungen des
Lebens und des Glaubens geltend macht. So ist der Eindruck seines Werkes ein
seltsamer: neben den zartesten Tönen reiner Liebe und edler Menschlichkeit
erklingen die dumpfen Laute des tiefsten Aberglaubens und einer
weltverzweifelnden Mystik, der Jehuda ha-Chasid mit Leib und Seele angehört.
Eine Versöhnung zwischen diesen himmelweit auseinandergehenden Richtungen bietet
allein die ethische Weltanschauung des Mannes.
Für das Verhalten des Menschen zu
Gott wie zu seinen Nebenmenschen, des Juden und Christen, der Kinder und
Eltern gegeneinander, bietet das "Buch der Frommen" Anweisungen lauterer
Sittlichkeit und Idealität, von denen nur einige wenige zur
Charakteristik des Werkes herausgehoben seien:
"Auch der Frömmste hat keinen Anspruch auf göttliche Belohnung,
und lebte er Tausende von Jahren, er kann auch nicht die kleinste der vielen
Wohltaten vergelten, die ihm Gott erzeigt. Darum diene niemand seinem
Schöpfer wegen des zu erwartenden Paradieses, sondern aus reiner Liebe zu
ihm und zu seinem Gebote.
Täusche niemanden absichtlich durch
deine Handlungen, auch keinen Nichtjuden; sei nicht zänkisch gegen die
Leute, wes Glaubens sie auch seien. Handle ehrlich in deinem Geschäfte.
Man soll niemandem Unrecht tun, auch
nicht anderen Glaubensgenossen. In dem Verkehr mit Nichtjuden befleißige
dich derselben Redlichkeit als mit Juden; mache den Nichtjuden auf seinen
Irrtum aufmerksam, und besser, du lebst von Almosen, als dass du zur Schmach
des Judentums und des jüdischen Namens mit fremdem Gelde davon läufst.
Übrigens richtet sich das Verhalten der Juden an den meisten Orten nach dem
der Christen. Sind diese in einer Stadt unsittlich, so sind es auch die
Juden daselbst.
An dem Geld von Leuten, die die
Münzen beschneiden, Wuchergeschäfte machen, unredlich Maß und Gewicht führen
und im Handel nicht ehrlich sind, haftet kein Segen; ihre Kinder und
Helfershelfer kommen an den Bettelstab.
Wer Erbarmen hat mit den Menschen,
dessen erbarmet sich Gott.
Der größte Fehler ist Undankbarkeit;
sie ist auch gegen das Tier nicht gestattet.
Sprich nicht: "Ich werde das Böse
vergelten!" Hoffe auf Gott, und er wird dir helfen.
Neid und Hass tue ab von dir; sei
still, wenn man dich schmähet.
Wenn deine Frau dich kränkt und du
sie hassest, so bitte Gott, nicht dass er dir eine andere gebe, sondern dass
er diese in Liebe dir zuwende.
Die Alten haben Werke verfasst, aber
ihre Namen nicht an die Spitze geschrieben; sie wollten den Genus ihres Tuns
nicht in diesem irdischen Leben haben.
Wer sich durch Fasten kasteit,
sündigt. Hätte Gott am Fasten Gefallen, so würde er es verlangt haben. Man
soll nur in der Sprache beten, die man versteht. Das Gebet erfordert
Andacht, die ohne Verständnis dessen, was man betet, nicht möglich ist.
Von Frommen, die Gutes getan, sie
seien Juden oder Christen, soll man sagen: Sie seien zum Guten gedacht!
Eine unrichtige Äußerung eines
frommen Mannes soll man nicht verbreiten, denn es heißt: Liebe deinen
Nächsten wie dich selbst, und man wünscht die eigenen Irrtümer auch nicht
verbreitet zu sehen.
Am Tage des jüngsten Gerichtes
werden die zusammen sein, die ihren Verdiensten nach zusammengehören. Es
trauert aber dann der Vater nicht über den abwesenden Sohn, weil die Freuden
des Paradieses und die Wonnen an dem Abglanz der Gottheit allen Schmerz
überwinden."
So mündete die Ethik Jehuda
des Frommen in den Hafen der Mystik ein. Aber sind auch seine
Ideale wie seine Werke nur in Trümmern geblieben, so hat seine
Richtung doch in den Schülern und Nachfolgern nach der ethischen
Seite hin, leider allerdings auch nach der mystischen, weitere
Ausbildung erhalten. Dagegen gelangten die Keime jener leisen
und schüchternen Opposition, die in seiner Weltanschauung gegen
die halachische Zeitrichtung kaum zu verkennen ist, nicht zur
Reife.
Ein Tropfen philosophischen
Oels hätte vielleicht diese schüchterne Opposition zur hellen
Flamme angefacht; aber auch dieser Tropfen fehlte den Juden
jener Zeit, die in der Sorge um das Leben, dessen sie jeder neue
Tag zu berauben drohte, das Studium der Wissenschaften
vernachlässigen mussten. Als dann vielleicht die dunkle Kunde
von einer geistigen Bewegung in den südlichen Ländern und von
dem daran sich knüpfenden Streit für und gegen
Maimuni zu ihnen gedrungen, da wurde diese
Vernachlässigung der Wissenschaften geradezu gelehrt und als
Gebot, als verdienstliche Tat gepriesen. Nur allein in der
Wissenschaft des Talmuds leisteten sie Bedeutendes, wenn auch
nichts Schöpferisches.
Aus dem Kapitel
"Kabbala",
dem II. Kapitel des II. Bandes der
"Geschichte der jüdischen Literatur"
von Gustav Karpeles
Erschienen im Verlag
M.Poppelauer
Berlin, 2. Aufl. 1909 p57ff
Zum Inhaltsverzeichnis: Jahaduth
Zum Inhaltsverzeichnis: haGalil onLine
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