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Schalom
Ben-Chorin
Jerusalem 07-05-99 - Der israelische Schriftsteller
und Religionsphilosoph Schalom Ben-Chorin (85) ist tot. Er starb heute
morgen in einem Jerusalemer Krankenhaus. |
Mein Judentum
Martin Buber schloß seine 1951 gehaltene Rede 'Judentum und
Kultur' im Blick auf die Wurzeln unserer jüdischen Existenz mit den
Worten: 'Erkennen wir uns selber: Wir sind die Hüter der Wurzeln. Wir sind
es. Wie können wir es werden? Wie werden wir, die wir sind?' Mit dieser
Frage scheint mir die Existenz der heutigen Juden - und damit auch meine
eigene - klar umrissen.
Mein Judentum habe ich im Laufe meines Lebens als das
Vorgegebene und Aufgegebene empfunden. Jude ist man sicher von Geburt. Die
Halacha, das kanonische Recht des Judentums, statuiert: Jude ist, wer von
einer jüdischen Mutter geboren wird. Damit ist wohl die Herkunft, in
mutterrechtlicher Urtümlichkeit, umrissen, aber noch nichts über die
geistige Gestalt der Existenz ausgesagt.
Es mag frappierend wirken, daß das Gesetz die Volkszugehörigkeit
zu Israel von den Müttern herleitet: 'Vom Weibe geboren und unter das
Gesetz getan.' In dieser knappen Aussage ist aber der zweite Teil nicht zu
übersehen: unter das Gesetz getan, das meint, der Thora unterstellt. Die
Thora, sicher mehr als Gesetz, Weisung, Führung im Leben, will erlernt
werden. Das war in den Jahrtausenden Israels primär das Männerwerk, so daß
die geistige Existenz von den Vätern herrührt. Der betende Jude ruft den
Herrn mit den Worten an: 'Unser G'tt und G'tt unserer Väter.'
Ein großer jüdischer Dichter des Wiener Kreises, Richard
Beer-Hofmann, schrieb in seinem berühmten 'Schlaflied für Mirjam' im Jahre
des ersten Zionistenkongresses 1897:
Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt
Blut von Gewesnen - zu Kommenden rollts.
Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz.
In uns sind Alle. Wer fühlt sich allein?
Du bist ihr Leben - ihr Leben ist dein.
Die Hinterfragung als die Dauerkraft des Judentums
In diesen Versen ist das Generationsbewußtsein artikuliert, das
das Wesen jüdischer Tradition und damit jüdischer Existenz ausmacht. Das
Tradieren eines Heilsgutes verbürgt allein die Dauerkraft des Judentums.
Wo dieses Heilsgut aber aus dem Bewußtsein geschwunden ist, also bei dem
assimilierten Diasporajuden unserer Zeit oder bei dem säkularisierten und
'normalisierten' Israeli der Gegenwart (auch bei ihm!), wird diese
Existenz fraglich, weil sie nicht mehr hinterfragt wird.
Das Volksbüchlein der Passah-Nacht, die Haggada, spricht
gleichnishaft von vier Söhnen, vier Typen: dem Klugen, dem Bosen, dem
Einfältigen und dem, der nicht zu fragen versteht. Dieser vierte Sohn der
Haggada scheint mir typisch für die Situation des heutigen Judentums: der
Jude, der nicht mehr zu fragen versteht, der nicht mehr die Grundfrage
nach Sinn und Aufgabe seiner jüdischen Existenz stellt.
Vor einem halben Jahrhundert, in den Monaten August bis Oktober
1927, schrieb der französisch-jüdische Schriftsteller Edmond Fleg sein
kleines Bekenntnisbuch 'Warum ich Jude bin'. Es ist in der Form eines
Schreibens an seinen noch ungeborenen Enkel gehalten, dem er das
Vermächtnis der Väter weitergeben wollte. Flegs Fragestellung ist heute
weithin unbekannt. Wir tragen an dem unseligen Erbe einer grauenvollen
Vergangenheit des Holocaust, der NS-Verfolgungen von 1933 bis 1945, zu
schwer.
Die 'Endlösung der Judenfrage' hat in den 'Wohnungen des Todes',
in Auschwitz, Maidanek, Treblinka und all den anderen Schreckensorten,
nicht nur Millionen Juden vernichtet, sondern für Millionen Juden das
Judentum vernichtet. Diese Endlösung hat dem Juden sogar die Würde des
Martyriums geraubt, die ihm noch die Kreuzfahrer und die Inquisition
belassen haben. Die namenlose Masse, die für die Gasöfen bestimmt war,
wurde nicht auf ihr jüdisches Bekenntnis hin befragt. Die Karmeliternonne
Edith Stein wurde ebenso vergast wie ein chassidischer Rabbi, ein
begeisterter Zionist oder ein deutscher Jude, der noch 1914 bekannte:
'Deutschland muß leben, auch wenn wir sterben müssen.' Das Judentum wurde
so zu einer ethnischen, ja 'rassischen' Einheit degradiert, und das schlug
nach innen, so daß viele Juden von heute ihr Judentum nur noch als eine
Vorgabe und nicht mehr als die Aufgabe erkennen.
Individuation - Nicht Vorgabe sondern Aufgabe
Es ist aber nicht richtig, daß man Jude nur durch die Geburt
wird. Die immer häufiger werdenden Fälle von Konversionen zum Judentum in
Israel und in der westlichen Diaspora zeigen, daß es auch den Weg ins
Judentum gibt, wobei dieses primär in seiner Sinnhaftigkeit erfaßt und
erfahren wird. Für den Juden ist das Judentum die mit ihm geborene
Aufgabe. Für den Nicht-juden kann das Judentum, dieses 'unbekannte
Heiligtum' (Aimé Palliére), eine ferne Möglichkeit sein, ich spreche hier
nicht theoretisch, sondern aus Erfahrung; ich kenne Menschen aus
verschiedenen Völkern, Deutsche und Skandinavier, Holländer und Japaner,
weiße und schwarze Amerikaner, die Juden wurden und ein erfülltes
jüdisches Leben führen, dem lauen Juden zu Stachel und Vorbild. Auch das
gibt es.
Was ist ihnen gemeinsam, den geborenen und den gewordenen Juden?
Das Prinzip der Individuation. Es kommt darauf an, die Möglichkeiten zu
entfalten, die in uns liegen. Das scheint mir der Sinn des Lebens zu sein.
Des menschlichen Lebens im allgemeinen und des jüdischen Lebens im
besonderen. Hier nun geht es um die Entfaltung der jüdischen Möglichkeit.
Israel ist das Bundesvolk G'ttes. Der Bund ist Stern und Kern
jüdischer Existenz. Die Legende spricht davon, daß beim Bundesschluß am
Berge Sinai alle Generationen Israels versammelt waren: die früheren, bis
zurück zu Abraham, dem Vater des Glaubens und des Glaubensvolkes, die
damals lebende Generation des Exodus - und alle kommenden Geschlechter
Israels bis in die Tage des Messias hin. Das ist die Una Sancta Israels,
die als ein Objektives vorgegeben bleibt, die aber immer wieder in das
Bewußtsein der jeweiligen Generation und jedes Juden gehoben werden muß.
Aber am Sinai standen auch noch andere, ein bunter Haufen von
Hergelaufenen, die sich den ausziehenden Stämmen Jakobs angeschlossen
hatten. Auch sie wurden in das Licht des Bundes gestellt und tasten sich
nun zurück zu dem Israelfunken, der noch heute (und gerade heute) in ihrer
Seele glüht.
In meiner Seele war der Funke fast erstickt. Aber der kalte Wind
des Hasses auf uns Juden blies hinein und ließ den Funken auflodern und zu
einem Feuer werden, das weiterbrennt und brennen wird, solange ich lebe.
Es war das Jahr 1923 in meiner Vaterstadt München, als der
Hitlerputsch die Juden der Isar-Metropole erzittern ließ. Auch bei uns, in
meinem kleinbürgerlichen Elternhaus, verschloß man Fenster und Türen,
duckte sich, hielt sich still, bis der Sturm vorüber war. Ich war damals
ein Knabe von zehn Jahren und erlebte diesen Schrecken tiefer, als mir
zunächst bewußt sein konnte. Die Sinnfrage brach in mir auf: Warum? Warum
werden wir gehaßt? Warum will man uns ans Leben? Warum sind wir anders als
unsere Nachbarn? Fragen über Fragen drangen aus mir heraus und in mich
hinein. Ich bekam keine zureichenden Antworten.
Zurück in's Judentum
Ich wußte wohl, daß wir Juden waren; aber das hatte wenig
spezifische Inhalte. Ich habe Milieu und Situation im ersten Teil meiner
Autobiographie 'Jugend an der Isar' beschrieben und kann hier nur
zusammenfassend sagen: Die Paradoxie der assimilierten deutschen Juden,
die man spöttisch als Dreitagejuden bezeichnete, war auch der dialektisch
spannungsreiche Grund und Hintergrund meiner Kindheitsjahre. Dreitagejuden
sagte man, da Juden unserer Prägung sich praktisch nur an drei Tagen des
Jahres, an den beiden Neujahrstagen im Herbst, Rosch Haschana genannt, und
am darauffolgenden Versöhnungstag, dem Jom Kippur, ihres Judentums inne
wurden. Im übrigen feierte man die Feste, wie sie fielen, die Feste der
Umwelt, vor allem Weihnachten - und in der Weihnachtsnacht des Jahres 1928
fiel für mich die Entscheidung. Ich wollte dieses Fest, das für uns
keineswegs die Botschaft von der Menschwerdung G'ttes in der Krippe von
Bethlehem beinhaltete (man stand dem Christentum wohl noch ferner als dem
Judentum), sondern nur Ausdruck einer gedankenlosen Angleichung an die
Formen der umgebenden Wirklichkeit war, nicht mehr mitfeiern. Ich hatte
erkannt, daß ich den Weg nach innen anzutreten hatte, den Weg zurück ins
Judentum.
Diese Rückkehr führte paradoxerweise in den Verlust des Heims.
Ich verließ mein Elternhaus, stand ratlos in der Winternacht auf der
Straße und fand Zuflucht im Hause einer jüdisch-orthodoxen Familie, mit
deren Sohn ich befreundet war. Nun begann für mich das, was ein großer
Heimkehrer in das Judentum,
Franz Rosenzweig, den 'Salto mortale in die Welt des Schulchan
Aruch' genannt hat. Der Schulchan Aruch ist der berühmte rabbinische Kodex
des Joseph Karo aus Safed aus dem 16.Jahrhundert, der bis heute für die
jüdische Orthodoxie als normativ gilt. Ein Salto mortale ist immer ein
halsbrecherisches Kunststück. Wenn ich mir dabei auch nicht den Hals
brach, so doch gewisse Teile der Seele, falls man das sagen kann. Ich bin
nicht ungebrochen aus diesem Versuch herausgegangen.
Die Religion der Tat
Judentum, so ist oft gesagt worden, ist primär Religion der Tat.
Der Glaube, der lebendige Glaube, ist zwar die unabdingbare Voraussetzung
für alles religiöse Tun; aber er wird wenig diskutiert und fast nicht
definiert; denn die Ausführung der Gebote und das Erlernen dieses Systems
absorbieren die seelischen und geistigen Kräfte. Das gilt vor allem für
einen Rückkehrer, wie ich es war, der von einer äußersten Randposition in
das Zentrum der Gesetzesfrömmigkeit übersiedelte. Ich machte alles falsch;
denn was für meine Umwelt in diesen Kreisen Selbstverständlichkeit war,
mir erschien es als ein dorniges Gestrüpp von Paragraphen und Formeln, von
Gesetzen und Bräuchen. Ich lebte mich ein, schmerzlich und nicht ohne
Vorbehalte. Und doch bin ich dankbar, daß ich diese selbstgewählte harte
Schule der Einübung ins Judentum mitgemacht und durchgemacht habe. Man
kann das Judentum nicht nur aus Büchern kennenlernen, sondern muß es als
gelebte Wirklichkeit erfahren, mit der Schönheit des Sabbats und der Feste
und mit den Härten eines Anspruchs, der oft unsere Möglichkeiten
übersteigt, und der Gefahr einer Erstarrung in Traditionen, die den
lebendigen Glauben zu ersticken drohen.
Volk, Lehre und Land Israels
Es war mir von Anfang an, das heißt seit meiner fragenden
jüdischen Bewußtwerdung, klar, daß jüdische Existenz beides meint:
Zugehörigkeit zur Bundesgemeinde des Glaubens und zum jüdischen Volk. Die
Auseinanderreißung dieser beiden Elemente ist die permanente Gefahr der
Mißinterpretation des Judentums. Ich habe später diese
geschichtstheologische Erkenntnis in meinem Buch. 'Die Antwort des Jona'
dargestellt. So ging bei mir der Rückweg in das Judentum mit der
Hinwendung zum Zionismus Hand in Hand. Zum Mißvergnügen meiner orthodoxen
Umgebung schloß ich mich gleichzeitig der 'Kadima' an, einem
nationaljüdischen Pfadfinderbund. Es war mir klar, daß die volle
Verwirklichung jüdischen Lebens nur im Lande Israel (wir sagten damals
noch Palästina oder aber unter uns schon Erez Israel, Land Israel) möglich
ist.
Die Bewältigung jüdischer Existenz außerhalb der starren Form
der Orthodoxie konnte ich nur in einem langen Prozeß von Bindung und
Lösung und wieder neuer Bindung, in ständiger Beschäftigung mit der Lehre
des Judentums vollziehen. Auch heute noch, in der Mitte des siebenten
Lebensjahrzehntes stehend, kann ich diesen Prozeß nicht als abgeschlossen
bezeichnen. Ich meine, daß nur die immer weiter geführte Konfrontation der
sich wandelnden Wirklichkeit mit den unwandelbaren Ansprüchen aus der
Transzendenz der biologischen Evolution entspricht, der wir ohne unser
Zutun ausgesetzt bleiben, solange Atem in uns ist.
Wer sich zu Israel bekennt, bekennt sich zu einem Volk und
zugleich zu einem G'ttesbund, der im Bewußtsein dieses Volkes geschlossen
wurde. Das dritte Element aber ist: das Land. Im Bundesschluß verheißt
G'tt seinem Volk sein Land. So ist diese Dreiheit eine Einheit: G'tt, Volk
und Land Israel. Das war für mich nicht nur ein Theologumenon, sondern
Leitwort meines Lebens. 1935 entschied ich mich. Es war mir nach mehreren
Verhaftungen klar, daß ich in München, das nun 'Hauptstadt der Bewegung'
geworden war, nicht mehr länger bleiben konnte. Auch mein Studium hatte
ich abbrechen müssen. Meine Schwester, die bereits in Argentinien Zuflucht
gefunden hatte, sandte mir Visum und Schiffskarte nach Buenos Aires. Ich
ließ beides zurückgehen; denn es wurde mir klar, daß meine Destination das
Land Israel war.
München - Jerusalem
Im zweiten Teil meiner Autobiographie 'Ich lebe in Jerusalem'
habe ich geschrieben, wie ich langsam in diese Stadt hineinwuchs und wie
sie mir zuwuchs. Nun lebe ich seit über vierzig Jahren in Jerusalem; habe
also ein Prozent ihrer Geschichte miterlebt, die bis in Urvätertage
Abrahams zurückreicht, wo hier Melchisedek, der König von Salem (wohl eine
Kurzform von Jerusalem), schon als Priester des höchsten G'ttes waltete.
Noblesse oblige. Die Adresse wurde oft zur Aureole. Man muß sich
bemühen, vor allem im Auslande, kreditwürdig zu bleiben. Dem Jerusalemer
wird ein hoher jüdischer Kredit eingeräumt; denn von Zion geht die Lehre
aus und das Wort des Herrn von Jerusalem. Sind wir daher wirkliche
Botschafter dieser Lehre und dieses Worts, wenn wir aus Jerusalem kommen,
hier zu Hause sind? Das wäre eine hybride Simplifizierung. Jerusalem, so
habe ich es empfunden, wurde für mich nicht nur der Wohnort für den
größten Teil meines Lebens, sondern zugleich auch eine Verpflichtung. Aus
der Stadt und ihrer Geschichte erwuchs mir vieles, was Leben und Werk
formte. Hier entstand vor allem meine Trilogie 'Die Heimkehr', die die
tragenden Gestalten des Neuen Testamentes, Bruder Jesus, Paulus und Mutter
Mirjam, in meiner jüdischen Sicht darstellt und mit dazu beitragen durfte,
das Gespräch zwischen Juden und Christen, vor allem im deutschen
Sprachraum, anzuregen und zu vertiefen.
Im deutschen Sprachraum - das habe ich wahrheitsgemäß angemerkt,
denn aus meiner Muttersprache bin ich nie ausgewandert. Sicher ist mir in
den Jahrzehnten in Israel die hebräische Sprache, die Ursprache meines
Volkes, zugewachsen, und doch blieb sie eine erlernte und leider nie ganz
bewältigte. Nur wer sehr schlecht hebräisch spricht, behauptet, daß diese
Sprache nicht ausreichend sei für alle Varianten moderner Terminologie.
Sie ist unendlich reich und schön, diese Sprache - und wenn sie der Herr
selbst zu seiner Selbstmitteilung wählte, dürfte sie auch für uns genügen.
Aber wir genügen nicht immer der Sprache, können die feinsten Schwingungen
nur dem Instrument der in uns gewachsenen Muttersprache entlocken.
Ein Schriftsteller, sagte Thomas Mann in der Emigration, ist ein
Mensch, der eine Sprache schwerer erlernt als andere. So gesehen darf ich
das Prädikat des Schriftstellers voll für mich in Anspruch nehmen. Der
Schriftsteller, der auf der Klaviatur seiner Sprache bereits zu gewisser
Virtuosität gelangt ist, klimpert nur ungern auf den Tasten einer anderen.
So blieb es vorrangig beim Deutschen für mich. Wenn ich auch in Alltag und
Vortrag, in den Massenmedien und in der Literatur kein Fremdling im
Hebräischen blieb und vor allem in den Bezirken der religiösen Tradition
die hebräischen Quellen für mich erschloß, so blieb doch das Medium meiner
schöpferischen Arbeit das Deutsche. Und dies wurde mir zum Schicksal - zum
jüdischen Schicksal.
Gespräch mit dem Judentum?
Als nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland ein bisher
ganz unbekanntes (und heute schon wieder fast vergessenes) Schuldgefühl
aufbrach, erwuchs aus diesem Bewußtsein der Wunsch nach dem Gespräch mit
dem Judentum. Ich habe es oft erlebt und gesagt, daß dieses Gespräch, das
christlich-jüdische Gespräch in Deutschland, im deutschen Sprachraum, was
noch mehr ist, als Gespräch aus der Schuld begann. So ergab es sich, daß
ich in dieses Gespräch hineingezogen wurde, als ein Jude, der eine
gemeinsame Sprache im philologischen Sinne mit dem Gegenpart sprach und
nun eine gemeinsame Sprache in einem psychologischen Sinne finden mußte.
Ob mir das gelungen ist, kann ich selbst nicht entscheiden. Ich habe aber
viele Anzeichen dafür, daß der Versuch nicht mißlungen ist. Die
Bereitschaft, die ich bei vielen Besuchen in der Bundesrepublik fand,
etwas über das Wesen des Judentums nicht nur theoretisch, sondern aus der
Existenz zu erfahren, war für mich beglückend, vor allem die Begegnung mit
einer jungen, fragenden deutschen Generation, die mir sicher nicht weniger
gegeben hat als ich ihr. Ich habe ihr etwas vom Geist des Judentums
gegeben; sie hat mir den Glauben an den Menschen zurückgegeben.
Es war Paulus, an den ich bei meiner Tätigkeit oft erinnert
wurde, so etwa als ich für ein Gastsemester im Sommer 1975 an der
Universität Tübingen Vorlesungen hielt, die nun auch als Buch unter dem
Titel 'Jüdischer Glaube' vorliegen. Was ist das Paulinische an dieser
Existenz? Die Aufgabe, jüdische Inhalte in einer anderen Sprache als der
hebräischen zu referieren. Bei Paulus trat die Verfremdung durch das
Medium des Griechischen ein. Ich spürte sie und spüre sie, bei aller
Vertrautheit, im Deutschen. Franz Rosenzweig sagte: 'Ubersetzen heißt zwei
Herren dienen. Also kann es niemand. Also tut es jeder. ' Übersetzen ist
in diesem Bereiche sicher weit mehr als ein philologischer Vorgang.
Heterogene Denkstrukturen müssen übertragen werden. Das bleibt im Kern
tragisches Unterfangen, eine Paradoxie, der wir uns nicht entziehen
können.
Und nun muß ich meinen Hörern und Lesern meiner jüdischen
Vorträge, Bücher und Aufsätze in deutscher Sprache noch einmal besonders
danken. Dadurch, daß sie mich nötigten, jüdische Begriffe, die hebräische
Begriffe sind, in deutscher Sprache aufzudecken, wurde ich genötigt, diese
Positionen immer wieder neu und immer tiefer zu durchdenken. Nichts blieb
mehr selbstverständlich, alles mußte ich mir selbst verständlich machen,
um es anderen verständlich zu machen. So wurde mir im dialogischen Prozeß
mein Judentum klarer, reiner, schöner und tiefer erschlossen, als es in
monologischer Selbstbescheidung je möglich gewesen wäre. Von Martin Buber
hatte ich die Dialogik, das dialogische Denken gelernt. Durch die mir
zugewachsene Lebensaufgabe eines Dolmetschers zwischen Judentum und
Christentum, zwischen Israel und Deutschland, ist die Dialogik
unveräußerlicher Bestandteil meiner Existenz, meiner jüdischen Existenz,
geworden.
Jüdisches Denken denkt im Dialog
Buber hat uns in seinem philosophischen Hauptwerk 'Ich und Du'
diese Dimension erschlossen. Sie scheint mir eine wesentlich jüdische
Dimension zu sein. Jüdisches Denken ist dialogisches Denken. Milan
Machovec hat, wie ich meine, mit Recht darauf hingewiesen, daß der G'tt
Israels primär der redende G'tt ist. Menschliche Rede ist, so gesehen,
Antwort auf den göttlichen Anspruch und Zuspruch. Dialogische Existenz im
zwischenmenschlichen Bereich kann so transparent werden zur Imitatio Dei.
Das hat schon vor über dreihundert Jahren der christliche Mystiker Angelus
Silesius erkannt:
Nichts ist als Ich und Du
Und wenn wir zwei nicht sein
So ist G'tt nicht mehr G'tt
und fällt der Himmel ein.
Es darf uns nicht wundernehmen, daß der schlesische Mystiker
Johannes Scheffler, der ursprünglich Protestant und später Katholik war,
etwas ausspricht, was mir für das Judentum, im Sinne Bubers, so wesentlich
scheint. In der Konfrontation mit christlicher Frömmigkeit ist mir oft
bewußt geworden, daß wir nicht nur von derselben Wurzel herkommen (das zu
erkennen sollte eine Selbstverständlichkeit sein), sondern auch in
späteren Phasen, ohne voneinander zu wissen, zu ähnlichen, oft zu gleichen
Erkenntnissen gelangen, Erkenntnissen nicht nur des Intellekts, sondern
des Glaubens und der Seele.
Jude kann man nicht allein sein
Meine Bemühungen gingen und gehen aber nicht nur nach außen. Was
wäre das Judentum und damit mein Judentum ohne die jüdische Gemeinschaft?
Jude kann man nicht allein sein. Es ist sicher nichts Zufälliges, daß das
traditionelle Judentum den Minjan, die Zehn-Männer-Gemeinschaft, für einen
vollen G'ttesdienst fordert, daß die Liturgie vorwiegend im Plural
gehalten ist. 'Unser G'tt' kommt viel häufiger vor als 'mein G'tt', und
auch Jesus lehrt seine Jünger beten: 'Unser Vater im Himmel'. Aber sieht
diese Gemeinschaft so aus, wie sie aussehen soll? Israel ist zweifellos
ein überfordertes Volk. Ihm wurde gesagt: 'Ihr sollt mir sein ein
priesterliches Reich und heilig Volk.' Die Wirklichkeit Israels ist davon
ebensoweit entfernt wie die Wirklichkeit der Kirche von der 'Gemeinschaft
der Heiligen', die sie darstellen sollte. Es kann sich bei absoluten
Zielsetzungen dieser Art im Prozeß der Konkretisierung immer nur um eine
schrittweise Annäherung handeln, wobei sich der Jude bewußt sein soll, daß
der Mensch des Weges geführt wird, den er wählt. Diese talmudische
Paradoxie, die das Verhältnis von Wahl und Prädestination umkehrt, hat
mich von Jugend an beherrscht. Ich wählte einen Weg, den ich in einem
Frühwerk als 'Jenseits von Orthodoxie und Liberalismus' bezeichnete, und
wurde weiter auf diesem Wege geführt. Im Lande Israel habe ich bald
erkannt, daß die Alternative: Zion ohne G'tt, also ein rein säkulares
Judentum, oder orthodoxe Gesetzesfrömmigkeit weder dem Wesen noch der
Wirklichkeit entspricht.
BeEmunah schlemah!
Es ging und geht mir darum, eine dritte Position im Judentum
sichtbar und lebbar zu machen. Der lebendige Glaube, das bedingungslose
Vertrauen in G'tt, wie es in dem hebräischen Begriff Emunah zum Ausdruck
kommt, ist weithin verschüttet. Lavamassen von intellektueller Dialektik
einerseits und minutiöser Kasuistik andererseits haben sich über den
Glauben Israels, die Quelle seines Lebens, gelegt. Man hat vergessen, daß
nach einem talmudischen Wort alle 613 Gebote und Verbote des rabbinischen
Kodex in einem Satz kulminieren sollen, der dem Propheten Habakuk
entnommen ist: 'Der Gerechte lebt seines Glaubens.'
Wer im Glauben steht, in der Emuna, in diesem schlechthinnigen
Vertrauen, der hat den Schlüssel zum Gesetz gefunden. Von vielen Hütern
der talmudischen Tradition vergessen oder verdrängt ist diese Aussage doch
talmudisch.
Das Gebet ist weithin im Judentum zur Routine erstarrt und
bedarf wieder der Verlebendigung, von der die Frommen früherer
Generationen beredtes Zeugnis ablegten: 'Wer sein Gebet zu etwas
Statischem macht, dessen Gebet ist kein Flehen', lesen wir in den Sprüchen
der Väter und vergessen wir in den Taten der Söhne.
Das doppelte Liebesgebot, G'tt und den Nächsten zu lieben, ist
die aus zwei Zitaten geformte Quintessenz der Thora. Das wissen wir alle -
und haben es beiseite geschoben.
Die institutionalisierte Religion des orthodoxen Establishments
in Israel hat das Judentum auf einen öden Ritualismus reduziert. Dagegen
versuchte und versuche ich anzukämpfen. 1957 habe ich mit einigen Freunden
Kreise zur religiösen Erneuerung in Jerusalem und anderwärts gegründet.
Daraus haben sich die jüdischen Reformgemeinden in Israel entwickelt, die
sicher nicht das darstellen, was wir uns erträumt hatten, und doch neue
Ansatzpunkte für die Überwindung der falschen Alternative: Säkularismus
oder Orthodoxie bilden.
Es gehört zu den Geschenken, den Gnaden meines Lebens, daß mein
Sohn diese Arbeit nun als seine Lebensaufgabe weiterführt. Ich hatte ihm
im Jahr 1939 meinen Versuch über die jüdische Glaubenslage der Gegenwart
als 'Antwort auf künftige Fragen' gewidmet. Er war damals ein dreijähriges
Kind - aber er hat später diese Fragen gestellt und diese Antworten
erwogen. Ich vermerke das dankbar; denn dieses Weitergehen vom Vater auf
den Sohn bildet die Infrastruktur des Judentums. Wo die Kette der
Tradition abgerissen ist, kann sie nur mühsam wieder aufgenommen werden,
wenn überhaupt.
Wenn Du hineingehst und wenn Du herauskommst
Mein Judentum? Ich kann nicht abgetrennt davon sprechen wie von
einem bestimmten und bestimmbaren Bezirk in meinem Leben und meiner
Person. Es durchdringt alle Phasen meines Seins, und jede Aufspaltung in
das Jüdische zu Hause und das Humane in der Öffentlichkeit lehne ich als
Schizophrenie der Diaspora-Existenz ab. Mein Judesein und mein Menschsein
sind eines. Das bedeutet aber nicht eine irgendwie geartete Überbewertung
des Juden. Der Erwahlungsbegriff könnte leicht in diesem Sinne mißdeutet
werden. Ich glaube an die Erwählung Israels, aber nicht in dem dümmlichen
und falschen Sinne einer Höherwertung des Juden gegenüber anderen
Menschen.
Was meint Erwählung Israels? Dieses Volk hat G'tt zum Modellfall
für alle Völker erwählt. An ihm hat er Gericht und Gnade so deutlich, so
sinnfällig vollzogen und in seinem Wort verkündigt, daß es die Völkerwelt
vernommen und wohl zum Teil auch angenommen hat. Und doch sagt schon der
älteste der Schriftpropheten, Amos: 'Seid ihr mir denn besser als die
Mohren, ihr Kinder Israels, habe ich nicht die Philister aus Kaphtor und
die Aramäer aus Kir geführt...? Euch allein habe ich von allen
Geschlechtern der Erde erkannt, damit ich an euch heimsuche alle eure
Verfehlungen.' Das ist die Erwählung Israels.
Es ist nicht besser als andere, aber mündiger und daher in der
vollen Verantwortung stehend. Zwischen dem prophetischen Pathos und der
Banalität der konkreten Judenheit klafft ein Abgrund. Er kann nur durch
eine Doppelbrücke aus Glauben und Humor überdeckt werden. Franz Rosenzweig
nannte den Humor den Milchbruder des Glaubens. Ausdruck solchen gläubigen
Humors überliefert Friedrich Torberg im Namen Albert Einsteins in einem
köstlichen Vierzeiler:
Schau ich mir die Juden an,
Hab ich wenig Freude dran,
Fallen mir die andern ein,
Bin ich froh, ein Jud zu sein.
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