Frankreich nach der Präsidentschafts- und vor der Parlamentswahl
Von Bernard
Schmid, Paris
Rückblick auf den ersten
Wahlgang…
Am 22. April 2007 erhielt
Jean-Marie Le Pen im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl noch 10,44
Prozent der Stimmen im frankreichweiten Durchschnitt (einschließlich
Überseegebiete, sonst 10,7 Prozent). Das ist sein schwächstes Ergebnis bei
einer Präsidentschaftswahl seit über zwanzig Jahren; sogar sein
schlechtestes Ergebnis bei einer solchen Wahl überhaupt, sieht man von Le
Pens Präsidentschaftskandidatur im Jahr 1974 (0,74 Prozent) ab, als der FN
noch eine Splitterpartei bildete. 1981 hatte der rechtsextreme Politiker aus
formalen Gründen nicht kandidieren können, und bei seinen drei Kandidaturen
von 1988, 1995 und 2002 erhielt er zwischen 14,4 und gut 17 Prozent.
Wo sind die
Wähler abgeblieben? Die Antwort fällt ebenso einfach wie eindeutig aus: größtenteils
bei Nicolas Sarkozy. Übrigens nicht oder kaum in der Stimmenthaltung, denn
die Wahlbeteiligung war in diesem Jahr außerordentlich
hoch (85 Prozent im ersten, 84 Prozent im zweiten Wahlgang) und die
Mobilisierung der Stimmbürger quer durch alle sozialen Klassen und Schichten
hindurch sowie in allen politischen Lagern ungewöhnlich stark. Eine solche
Beteiligungsquote war seit der ersten Direktwahl des französischen
Staatsoberhaupts durch das Volk im Jahr 1965 nicht mehr erreicht worden.
Rund 23
Prozent der Wähler Jean-Marie Le Pens aus dem Jahr 2002, glaubt man den
Zahlen der Tageszeitung Libération, haben fünf Jahre später im ersten
Wahlgang Nicolas Sarkozy gewählt. Hingegen gibt die Pariser Abendzeitung
Le Monde
(1)
diesbezüglich sogar einen Anteil von 28 Prozent an. Das
bedeutet den Transfer von rund einer Million Stimmen zugunsten Sarkozys, wie
Jean-Marie Le Pen übrigens selbst in seiner Rede vom 1. Mai 2007 angeben
wird.
Hinter
diesen globalen Angaben entdeckt man jedoch deutliche regionale
Disparitäten, die auch unterschiedlichen sozialen Phänomen entsprechen. Der
Übergang von vormaligen Wählern der extremen Rechten zum konservativen
Kandidaten ist in jenen Regionen besonders ausgeprägt, wo die
Stammwählerschaft Jean-Marie Le Pens historisch (ab 1984) von der
konservativ-liberalen Rechten gekommen war. Dies gilt insbesondere für das
Elsass sowie die südfranzösische Region Provence-Alpes-Côte d'Azur
(PACA).
Dort erhält
der FN-Kandidat im April dieses Jahres noch 13,6 respektive 13,8 Prozent der
Stimmen, was jeweils einem Rückgang um gut zehn Prozentpunkte entspricht.
Zählt man für das Jahr 2002 die Stimmenanteile für Jean-Marie Le Pen und
seinen rechtsextremen Rivalen Bruno Mégret, und für 2007 jene Le Pens und
seines nationalkonservativen Konkurrenten Philippe de Villiers
(frankreichweit 2,2 Prozent) zusammen, so kommt man für die Region PACA
sogar auf einen Rückgang von um die zwölf Prozentpunkte. Parallel dazu ist
der starke Anstieg des konservativen Kandidaten schon im ersten Wahlgang
festzustellen. Im Elsass hatte Jacques Chirac im April 2002 in der ersten
Runde noch gut 18 Prozent der Stimmen erhalten und damit spürbar hinter Le
Pen gelegen. Nicolas Sarkozy hingegen erobert im April 2007 den ersten Platz
in der Region, mit 36,2 Prozent im ersten Wahldurchgang. Ähnlich der Zuwachs
des rechtsbürgerlichen Präsidentschaftsanwärters in der Region PACA:
Gegenüber Jacques Chirac vor fünf Jahren gewinnt er in der ersten Runde
knapp 20 Prozent hinzu und landet mit 37,0 Prozent auf Platz Eins.
In beiden
Fällen handelt es sich um Regionen, wo die Wählerschaft des FN in den 1980er
Jahren von der bürgerlichen Rechten gekommen war. Im Falle der beiden
elsässichen Départements Haut-Rhin und Bas-Rhin handelt es
sich überwiegend um geschlossene soziale Milieus, oft in dörflichen oder
kleinstädtischen Verhältnissen, die in einer relativ wohlhabenden Region
leben und häufig über das "soziale Chaos" im übrigen Frankreich (aber am
Rande auch in den Grobstädten
Strasbourg und Mulhouse) die Nase rümpfen. Historisch hatte die französische
Christdemokratie – seit den späten 1940er Jahren zunächst durch den MRP (Mouvement
républicain populaire, ungefähr "Republikanische Bewegung der kleinen
Leute") verkörpert, seit den 1970er Jahren Bestandteil des
konservativ-liberalen Parteienbündnisses UDF (Union für die französische
Demokratie) – dieses Milieu politisch repräsentiert. Doch im Zuge der
"Entkonfessionalisierung" der französischen Gesellschaft hatte die religiöse
Bindung, im Laufe der Jahrzehnte, ihre Funktion als sozialen "Kitt"
verloren. Seit den achtziger Jahre erfüllte der "identitäre" Diskurs der
extremen Rechten dann diese Aufgabe(2). Aber im
Jahr 2007 ist es Nicolas Sarkozy gelungen, diese vor allem die soziale
"Ordnung" liebende Wählerschaft größenteils an sich zu ziehen (3).
Im
südfranzösischen PACA-Land hingegen handelt es sich bei der "historischen"
Stammwählerschaft Jean-Marie Le Pens hingegen zum Gutteil um Pieds Noirs,
also ehemalige Algeriensiedler, die sich infolge der Entkolonialisierung
(1962) in der Nähe der französischen Mittelmeerküste niederlieben,
und die aus dem kolonialen Apartheidsystem der früheren Algérie française
einen soliden Rassismus mitbrachten. Ihre Stimmen gingen vor dem Auftauchen
des FN als Wahlpartei in der Regel an die politische Rechte; aber bevorzugt
ihre nicht-gaullistischen Komponenten, da Präsident Charles de Gaulle
aufgrund seiner – späten – Zustimmung zur Unabhängigkeit Algeriens in ihrer
Augen einen "nationalen Verräter" darstellte. Auch hier ist es Nicoals
Sarkozy gelungen, einen Gutteil dieser Wählerschaft anzusprechen. Der
Kandidat, der in seiner Rede von Toulon vom 7. Februar 2007 (4)
die "Leistungen" der ehemaligen Kolonialsiedler positiv hervorhob und die
Kritik an ihrer Geschichte als Nationalmasochismus abtat, wurde offenkundig
nicht mehr der historischen Bilanz des Gaullismus in Verbindung gebracht.
Unbeschadet seiner politischen Herkunft aus dem neogaullistischen RPR, der
2002 in der neu gegründeten konservativ-wirtschaftsliberalen Einheitspartei
UMP aufging, wird er allem Anschein nach nicht mehr mit dieser
Traditionslinie identifiziert.
Die
Stimmentransfers von Le Pen hin zu Nicolas Sarkozy fielen hingegen in jenen
Regionen weniger stark aus, wo die Stammwählerschaft des FN-Kandidaten aus
den letzten Jahren historisch nicht von der bürgerlichen Rechten kam. Dies
gilt insbesondere für die ehemaligen Industrie- und Arbeiterregionen
Picardie und Nord-Pas-de-Calais, die heute Krisenzonen darstellen und wo
Jean-Marie Le Pen seit den 1990er Jahren bedeutsame Stimmenzuwächse erhielt.
Die Stimmen für den rechtsextremen Kandidaten kamen hier aus allen
politischen Himmelsrichtungen - zum Teil auch von ehemaligen Linkswählern,
die beispielsweise ob der Bilanz frührer Linksregierungen politisch
frustriert, aufgrund des Wegfalls des "Systemgegensatzes"
Kapitalismus/Sozialismus desorientiert oder von der Unmöglichkeit
erfolgreichen sozialen Widerstands überzeugt sind.
In diesen beiden Regionen
hält sich Jean-Marie Le Pen im Jahr 2007 relativ gut, verglichen
insbesondere mit seinen Verlusten in früheren Hochburgen des FN wie dem
Elsass und PACA. In der Picardie erhält er seinen höchsten diesjährigen
Stimmenanteil unter allen französischen Regionen, mit 15,4 Prozent, was
einen Verlust von fünf Prozentpunkten gegenüber dem ersten Wahlgang von 2002
darstellt. In dieser Region nördlich des Grobraums
Paris besteht die FN-Wählerschaft aus einer brisanten Mischung von
Arbeitermilieus - vor allem in kleinen und isolierten provinziellen
Industriezentren - sowie ehemaligen Algerienfranzosen (Pieds noirs)
und im Algerienkrieg kämpfenden Militärs, die vorwiegend im Département Oise
angesiedelt worden sind. In einem von drei Départements der Picardie erhält
Jean-Marie Le Pen zwischen 2002 und 2007 sogar, in absoluten Zahlen
gemessen, Stimmenzuwächse (auch wenn der prozentuale Anteil aufgrund der
sehr hohen Wahlbeteiligung sinkt). So gewinnt er zwischen den beiden
Wahljahren im Département Somme, wo die historisch sehr starke örtliche KP
in einer ernsten Krise steckt, rund 1.200 Stimmen hinzu. Freilich sinkt der
prozentuale Anteil von 16,3 auf 14,3 Prozent ab. Hingegen erleidet er im
Département Aisne einen bescheidenen Verlust von rund 1.800 Wählern. Im
Département Oise jedoch, wo die Stammwählerschaft Le Pens weitaus eher von
der konservativen Rechten kam, bübt
er weitaus mehr ein und verliert in absoluten Zahlen rund 16.500 Wähler, mit
66.000 Stimmen statt zuvor 82.500, was einem gesunkenen Prozentanteil von
nunmehr 14,9 Prozent (statt 22,8 Prozent) entspricht. Die Pariser
Abendzeitung Le Monde (5)
schreibt dazu u.a.: "Nicolas Sarkozy profitiert eindeutig von diesem
Rückgang (Anm.: Le Pens im Département Oise). Die Zugewinne des
konservativen Kandidaten von einer Präsidentschaftswahl zur anderen (Anm.:
verglichen mit dem Abschneiden Chiracs im April 2002) entsprechen ziemlich
genau den Verlusten der extremen Rechten."
In der Region
Nord-Pas-de-Calais, einem ehemaligen Industrierevier nahe der belgischen
Grenze, erfährt Jean-Marie Le Pen mit einem Gesamtergebnis von 14,7 Prozent
zwar ebenfalls einen Verlust. Aber im Département Pas-de-Calais sinkt er
dabei nur von 18,4 Prozent (im Jahr 2002) auf 16 Prozent, was in absoluten
Zahlen einem Zuwachs um 4.900 Wähler (auf 140.200) entspricht. Es sei darauf
hingewiesen, dass diese frühere Bergbaubezirk insofern eine Ausnahmestellung
einnimmt, als der Front National hier an bestimmten Orten tatsächlich noch
eine konkrete Politik vor Ort – auf Tuchfühlung mit der örtlichen
Bevölkerung und den sozialen Unterklassen – durchführt. Anders als in großen
Teil des übrigen Frankreichs, wo die rechtsextreme Partei ihre "einfache"
Wählerschaft oftmals nur noch über das Fernsehen sowie in Form von
Wahlplakaten anspricht, ist die Partei hier im Alltag präsent und greift
lokale Probleme binnen kürzester Zeit auf.
Diese Fähigkeit zu realer
Verankerung in der Gesellschaft hängt an der Anwesenheit eines besonders
fähigen jungen Kaders, Steeve Briois - der nach der Parteispaltung von 1999
den FN zunächst zusammen mit den Anhängern Bruno Mégrets verlieb,
aber später zurückkehrte. Bei den Parlamentswahlen vom Juni 2002 wählte die
Cheftochter Marine Le Pen ihren Wahlkreis in seinem Bezirk, in Lens und
Umland, und erhielt dort über 32 Prozent der Stimmen. Auch zur
Parlamentswahl im Juni 2007 möchte Marine Le Pen dort selbst wieder
antreten. In gewisser Hinsicht verfügt die rechtsextreme Partei in diesem
Département also über ein "Laboratorium". Im Jahr 2004 ist darüber sogar ein
eigener, knapp einstündiger Dokumentarfilm gedreht worden (Au pays des
gueules noires, Regisseur: Edouard Mills-Affif). Es lässt sich
feststellen, dass diese Politik offenkundig längerfristig ihre Früchte
getragen hat. Aber auf die Verhältnisse in ganz Frankreich übertragen lässt
sich dieses Phänomen derzeit nicht. Was aber wäre, falls die extreme Rechte
objektiv und subjektiv in der Lage wäre, überall so aufzutreten, lässt sich
kaum realistisch beurteilen.
Jean-Marie Le Pens Aufruf zur
Stimmenthaltung
Es hatte durchaus einen
realen soziologischen Hintergrund, wenn Jean-Marie Le Pen im Hinblick auf
den zurückliegenden ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahl
in seiner Rede zum 1. Mai 2007 vor der Pariser Oper ausrief: "Wie immer
waren es die einfachsten Leute, die Bedürftigsten, die am treuesten gewesen
sind. Jene, die wissen, dass es das Vaterland ist, das den Armen bleibt,
wenn sie gar nichts mehr haben, und die wissen, dass wir die
wahren Patrioten, die wahren Verteidiger des Vaterlands sind. Ich bin der
erste Kandidat (Anm.: vom Stimmenanteil her) unter den Arbeitern, und ich
bin stolz darauf."
Die letzte zitierte
Aussage war freilich in diesem Jahr glatt gelogen: Jean-Marie Le
Pen erhielt im April 2007, je nach Angaben, 13 bis 15 Prozent der Stimmen
aus der Arbeiterschaft (ebenso viele wie unter den Kleingewerbetreiben) und
war damit dort bei weitem nicht der bestplatzierte Kandidat.
Überdurchschnittlich hoch lag sein Anteil allerdings unter den
Zeitarbeitern, mit 24 Prozent (6): Allem Anschein
nach schlägt sich die alltäglich erlebte wirtschaftliche und soziale
Unsicherheit dieser besonders prekarisierten Lohnabhängigengruppen
tatsächlich in einem relativ hohen Maße
in einem ideologisierten "Sicherheitsbedürfnis" nieder.
Aber generell betrachtet, hatte Le Pen
in den sozialen Unterklassen dieses Jahr nicht so sonderlich hoch
abgeschnitten. Anders hatte es tatsächlich noch bei der Präsidentschaftswahl
vom 23. April 1995 ausgesehen: Damals lag Jean-Marie Le Pen, mit
über 20 Prozent der abgegeben gültigen Stimmen aus der Arbeiterschaft, in
dieser sozialen Gruppe im ersten Wahlgang auf Platz Eins – freilich vor dem
Hintergrund einer enorm starken Stimmenthaltung in den Arbeiterhaushalten.
Im Frühjahr 2007 lag unterdessen (bei einer Rekordwahlbeteiligung, die
insbesondere eine Konsequenz der Polarisierung "pro oder kontra Sarkozy" in
einem Grobteil
der Wählerschaft war) die Quote der Wahlteilnahme auch in den Unterklassen
auf hohem Niveau. Damit ging der prozentuale Anteil Jean-Marie Le Pens
automatisch zurück; hinzu kam dann noch dessen generelles Absinken, da der
rechtsextreme Kandidat auch in absoluten Wählerzahlen gemessen zwischen 2002
und 2007 an Stimmen verloren hat.
In absoluten Zahlen
ausgedrückt, hat Jean-Marie Le Pen am 22. April dieses Jahres 3,8 Millionen
Wähler angezogen. Das sind gut eine Million weniger als beim ersten
Durchgang, und anderthalb Millionen Stimmen weniger als im zweiten Durchgang
der Wahl von 2002. Damals hatte Jean-Marie Le Pen 4,77 Millionen Wähler in
der ersten Runde (zuzüglich 660.000 für seinen rechtsextremen Konkurrenten
Bruno Mégret) und 5,45 Millionen im zweiten Wahlgang. Dies entsprach damals
einem Stimmenanteil von jeweils 16,8 bzw. 17,8 Prozent.
Der rechtskatholische
Politiker und nationalkonservative Graf Philippe de Villiers, Chef der
Kleinpartei Mouvement pour la France (MPF, "Bewegung für
Frankreich"), erhielt seinerseits in diesem Jahr 2,2 Prozent der Stimmen und
gut 800.000 Stimmen. Seine Stimmen wären wohl, hätte de Villiers nicht
antreten können, gut zur Hälfte an Le Pen und zu rund einem Drittel an
Nicolas Sarkozy gegangen. Er war vor fünf Jahren nicht angetreten. Aber 1995
hatte Philippe de Villiers bereits einmal zur französischen
Präsidentschaftswahl kandidiert und damals einen Anteil von 4,74 Prozent
sowie 1,4 Millionen Stimmen erzielt. Sein diesjähriges Ergebnis ist ein
klarer Misserfolg. Ihm war es im Vorfeld der Wahl nicht gelungen, einen
eigenständigen Platz zwischen Jean-Marie Le Pen auf der einen Seite, und den
Konservativen unter Nicolas Sarkozy auf der anderen Seite zu behaupten.
Waren seine Angaben zu seinem eigenen Abschneiden in der
Arbeiterschaft also unzutreffend und übertrieben, so hatte Le Pen doch
Recht, was die generelle Tendenz betrifft: Je wohlhabender seine früher
Wählerschaft war, desto eher fühlte sie sich (grob gesprochen) in diesem
Jahr schon in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl zum konservativen
Kandidaten Nicolas Sarkozy hingezogen.
In derselben Ansprache forderte Jean-Marie Le Pen seine
Anhänger dazu auf, sich im zweiten Wahlgang fünf Tage später "in großer Zahl
der Stimme zu enthalten" (s'abstenir massivement). Die Wähler des
FN-Kandidaten sollten weder Sarkozy noch seine Gegenkandidatin Ségolène
Royal unterstützen, sondern ihre Mobilisierung für die Parlamentswahlen im
Juni 2007 "reservieren" und dann für die Kandidaten der rechtsextremen
Partei stimmen. Die Cheftochter Marine Le Pen ihrerseits kündigte drei Tage
vor der Stichwahl zwischen Sarkozy und Royal öffentlich an, dass sich nach
ihrer Vorhersage "50 Prozent der Wähler Le Pens am Sonntag der Stimme
enthalten werden". Hingegen würden rund 20 Prozent unter ihnen für
Ségolène Royal stimmen, und "die Übrigen" – also circa 30 Prozent – wohl für
Nicolas Sarkozy. Dies war auch eine Form des Feilschens, da die Ankündigung
Marine Le Pens im Prinzip für die beiden groben
Kandidaten die Möglichkeit offen lieb,
durch politische Stellungnahmen noch einen bestimmten Prozentsatz der
Wählerinnen und Wähler der rechtsextremen Partei anzuziehen.
Eine exakte Prognose hatte Marine Le Pen unterdessen nicht
abgegeben: Real votierten am 06. Mai dann rund zwei Drittel der Wähler
Jean-Marie Le Pens aus dem ersten Wahlgang für Nicolas Sarkozy. Rund ein
Fünftel enthielt sich der Stimme, der Rest entschied sich für die
sozialdemokratische Bewerberin Ségolène Royal (7).
Trifft diese Berechnung zu, dann tendierte die Wählerschaft Le Pens aus der
ersten Runde der Präsidentschaftswahl nicht in höherem Maße
zur Stimmenthaltung als die Wählerschaft anderer Kandidatinnen und
Kandidaten, die in der zweiten Runde nicht mehr vertreten waren. Unter den
Wählerinnen und Wählern des christdemokratischen Zentrumspolitikers François
Bayrou vom 22. April enthielten sich ebenfalls rund ein Fünftel in der
Stichwahl der Stimme, während sich jeweils rund 40 Prozent unter ihnen auf
die beiden übriggebliebenen Bewerber um das höchste Staatsamt aufteilten.
Und von den Wählerinnen und Wähler der unterschiedlichen Linkskräfte
außerhalb
der französischen Sozialdemokratie (KP, Grüne, Globalisierungskritiker,
Trotzkisten), die im ersten Wahlgang zusammen 10 Prozent der Stimmen holten,
enthielten sich 20 Prozent in der Stichwahl, während 71 Prozent unter ihnen
Ségolène Royal wählten. Sofern diese Zahlen zumindest tendenziell die
Wirklichkeit richtig wiederspiegeln, dann hat die Le Pen-Wählerschaft also
in der Stichwahl von 2007 ein ähnliches Wahlverhalten an den Tag gelegt wie
die übrigen politischen Spektren, die nicht mehr mit "ihren" Kandidaten in
der zweiten Runde vertreten waren. Jean-Marie Le Pens Appell an seine
Anhänger vom 1. Mai fruchtete demnach, zumindest unter den "einfachen"
Wählern, nicht.
Dieser Aufruf war aber auch ein Versuch, die auseinander
divergierenden Tendenzen innerhalb des FN auf den kleinsten gemeinsamen
Nenner zu bringen. Denn aus diesem Anlass wurden schnell unterschiedliche
Bestrebungen innerhalb der extremen Rechten im weiteren Sinne, aber auch –
sogar – innerhalb des Parteiapparats des Front National spürbar.
So riefen die örtlichen Führer der Partei in Neukaledonien,
dem französischen "Überseeterritorium" im Westpazifik – de facto eine
Restkolonie, über deren Unabhängigkeit im Jahr 2014 abgestimmt werden soll,
und die eine gemischte Bevölkerung aus weißen
Zuwanderern aus Europa und einer altansässigen melanesischen Einwohnerschaft
aufweist – unzweideutig zur Stimmabgabe für Nicolas Sarkozy in der Stichwahl
auf. Ihre Begründung lautete, Sarkozy habe "im Gegensatz zur Ségolène Royal
klar zur Beibehaltung Neukaledoniens als Bestandteil Frankreichs", also
gegen eine spätere Unabhängigkeit, Stellung genommen - in
den Worten des FN-Vorsitzenden auf der Insel, Guy George (8).
Im übrigen nahm mindestens ein regionaler Kader des FN, André Troise,
ehemaliger Regionalparlamentarier in Montpellier, am 29. April an der
Wahlkampf-Abschlussveranstaltung Nicolas Sarkozy in der Pariser Bercy-Halle
teil. Die linksliberale Tageszeitung Libération ergänzt in ihrem
Bericht aus Paris-Bercy, wo Sarkozy in einer Kampfrede versprach, "die Ideen
des Mai 1968" endlich "zu liquidieren", dazu: "Am morgigen Tag (dem 1. Mai)
wird er zusammen mit Le Pen an dessen alljährlicher
Parade für Jeanne d'Arc teilnehmen. In
seiner Region rührt er seit Anfang der Woche intensiv die Werbetrommel für
den UMP-Kandidaten" im zweiten Wahlgang (9). Dabei
mag es sich freilich um eine individuelle Initiative gehandelt haben, die
dem Chef möglicherweise missfiel.
Tatsache ist, dass ein Aufruf Le Pens, für
Nicolas Sarkozy zu stimmen, der ohne sichtbare "Gegenleistung" des
konservativen Kandidaten erfolgt wäre, den harten Kern seiner Partei mutmaßlich
ebenso zerrissen hätte wie ein denkbarer (10)
provokatorischer Aufruf zur Stimmabgabe für Ségolène Royal. Insofern war die
Aufforderung, zwischen den beiden Kandidaten die Enthaltung zu wählen, der
sicherste Ausweg für ihn.
Die Stimmenwanderungen im zweiten Wahlgang
Auch im zweiten Wahlgang 2007,
ähnlich wie im ersten, sind stärkere regionale Disparitäten hinsichtlich des
Verhaltens der Le Pen-Wähler festzustellen.
Die Übergänge von Stimmen Le Pens
aus dem ersten Wahlgang zu Nicolas Sarkozy in der zweiten Runde sind dort
besonders stark, wo die FN-Wählerschaft historisch von der konservativen
Rechten kam. Dies trifft insbesondere für das Elsass und die südfranzösische
Region PACA zu, wo einerseits die Stimmenanteile des FN-Kandidaten in der
Vergangenheit hoch waren, und wo andererseits der konservative Kandidat im
Jahr 2007 einen fast erdrutschförmigen Wahlsieg erntet. So erhält Nicolas
Sarkozy in der Stichwahl 65,6 Prozent der Stimmen im Elsass, und über 61,8
Prozent in der Region PACA. Im zweiten Falle konstatiert die Pariser
Abendzeitung Le Monde in ihrer Auswertung der Wahlergebnisse: "Im
zweiten Wahlgang bestätigt der UMP-Kandidat seinen Erfolg auf spektakuläre
Weise, indem er gegenüber der ersten Runde um fast 25 Prozentpunkte zulegt,
dank der massiven Zufuhr der Stimmen von Jean-Marie Le Pen, Philippe de
Villiers und François Bayrou. Nirgendwo sonst ist ihm (Anm.: Sarkozy) auf
derart glänzende Weise die Übernahme der FN-Wählerschaft gelungen."
Hingegen sieht es auch im zweiten
Wahlgang wiederum in jenen Regionen anders aus, wo die FN-Wählerschaft vor
dem Aufstieg Jean-Marie Le Pens nicht immer rechts gewählt hat. In der
Picardie, wo historisch früher eher die Linke stark war, bevor der FN in den
1990er Jahren einen Durchbruch erlebte und in diesem Jahrzehnt seine
Position nochmals ausbauen konnte, gewinnt Nicolas Sarkozy in diesem Jahr
mit 54,4 Prozent der Stimmen. Le Monde notiert, dass "die Aufrufe Jean-Marie
Le Pens zur Enthaltung in dieser Region anscheinend nicht befolgt worden
sind." Hingegen schreibt dieselbe Zeitung über das ehemalige Industrierevier
Nord-Pas-de-Calais, und insbesondere über dessen zweiten Bezirk, das
Département Pas-de-Calais: "Es ist festzustellen, dass die hohen (Anm.:
Prozent-)Ergebnisse Ségolène Royals im Pas-de-Calais oft mit einer
überdurchschnittlichen Wahlenthaltung einhergehen, vor allem in den Städten,
wo der Front National gute Ergebnisse erhielt. Die Aufrufe Jean-Marie Le
Pens (...) sind anscheinend in diesem Bezirk eher gut befolgt worden." Im
Pas-de-Calais liegt Ségolène Royal insgesamt mit einem prozentualen
Stimmenanteil von 52,0 Prozent vorne.
>>
Weiter: Richtungskampf innerhalb der extremen
Rechten
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zum "Marsch für die Nationalheilige
Jeanne d'Arc"
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Anmerkungen:
(1) Ausgabe vom 25. April 2007.
(2) Die ostfranzösische Region weist dabei die
Besonderheit auf, dass es Abspaltungen vom Front National gibt, die die
"regionale Identität" ebenso wie die "nationale" hochhalten wollen und einen
rechten Regionalismus propagieren. Heute wird die Strömung durch die
Wahlplattform Alsace d’abord (Elsass zuerst!) des ehemaligen FN-Abgeordneten
Robert Spieler repräsentiert.
(3) In ihrer Ausgabe vom 30. April 07 publiziert die
linksliberale Tageszeitung Libération eine Reportage aus der
elsässischen Kleinstadt Eywiller, die im April 2002 noch zu 45,7 Prozent (im
ersten Wahlgang) Le Pen gewählt hatte. Dieses Mal landete dern FN-Kandidat
nur auf dem dritten Platz, Nicolas Sarkozy dagegen wurde Nummer Eins. Es
kommen eine Reihe von Wählerinnen zu Wort, die die Auffassung vertreten, die
reiche Region Elsass solle aufhören, "die Melkkuh" anderer Regionen oder gar
von Zuwanderern zu sein, die gegen "die Araber und die Schwarzen" stänkern –
aber Jean-Marie Le Pen mit bald 79 Jahren "zu alt" finden und mit ihrem
Stimmzettel nicht länger "nur protestieren" möchten. Auch wird der Ausspruch
Le Pens in der Schlussphase des Wahlkampfs, mit dem er den in Frankreich
geborenen und aufgewachsenen Nicolas Sarkozy wegen der ungarischen Herkunft
seines Vaters als "Zuwanderer" abstempelte, als zu extrem und exzessiv
empfunden. Ein Kneipenwirt wird mit den Worten zitiert, bei seinen Kunden
heibe Sarkozy "der neue Le Pen oder der kleine Le Pen"; er selbst stimmte im
Jahr 2007 für "den groben Le Pen" im ersten Wahlgang, will sich aber in der
zweiten Runde dem konservativen Kandidaten anschlieben. Das ist sicherlich
keine ernstzunehmende Analyse des politischen Phänomens Sarkozy, sondern
widerspiegelt eher die emotionale Umorientierung einer bisher dem
rechtsextremen Kandidaten verpflichteten Wählerschaft. Aber es kennzeichnet
die Wählerwanderung, die in diesem Bereich ganz offenkundig stattgefunden
hat.
(4) Vgl. dazu
http://www.ldh-toulon.net/spip.php?article1838.
(5) Sonderbeilage zum Ausgang des ersten Wahlgangs,
Ausgabe vom 24. April 2007.
(6) Angaben nach der französischen Wirtschaftstageszeitung
La Tribune, Ausgabe vom 23. April 2007.
(7) Die näheren Zahlenangaben variieren. Der Fernsehsender
TF1 beziffert am Wahlabend die Anzahl der Le Pen-Wähler aus dem ersten
Wahlgang, die in der Stichwahl für Sarkozy votiert hatten, auf
der Grundlage von Befragungen durch Meinungsforschungsinstitute am Ausgang
der Wahlergebnisse (die normalerweise relativ genaue Ergebnisse
liefern) auf 66 Prozent. Die Tageszeitung L’Humanité gibt ihren
Anteil in ihrer Ausgabe vom 09. Mai 2007mit "63 bis 66 Prozent" an, hingegen
Libération
vom 08. Mai mit "nur" 55 Prozent. Die Anzahl der Le Pen-Wähler vom
22. April, die sich zwei Sonntage später der Stimme enthielten, beziffert
TF1 auf 19 Prozent, L’Humanité auf "19 bis 25 Prozent",
hingegen
Libération auf 36 Prozent. Es bleiben, je nach vorausgehender Rechnung,
zwischen 09 und 15 Prozent, die für Ségolène Royal votierten.
(8) Zitiert nach Le Monde vom 04. Mai 2007.
(9) Vgl. Libération vom 30. April 2007.
(10) Denkbar insofern, als Jean-Marie Le Pen tatsächlich
in den 1990er Jahren wiederholt zur Wahl sozialistischer oder anderer linker
Parlamentskandidaten aufrief, um die bündnisunwillige bürgerliche Rechte
abzustrafen. Dies war etwa im Frühjahr 1996 bei "Nachwahlen" für einzelne
freigewordene Parlamentssitze der Fall, zugunsten einer sozialdemokratischen
Kandidatur im Bezirk Orne (Normandie), aber aber auch zugunsten des
KP-Bürgermeisters im südfranzösischen Sète, François Liberti. Eine
Besonderheit liegt im letzteren Falle freilich darin, dass Liberti nicht nur
Parteikommunist ist, sondern auch ein ehemaliger Algerienfranzose, dessen
Sichtweise auf die französische Kolonialvergangenheit in Nordafrika sich
durchaus von jener seiner Parteifreunde unterscheidet. Insofern mag
neben der kalkulierten "Provokation", die im Aufruf Jean-Marie Le Pens zur
Stimmabgabe "für einen Kommunisten" und gegen die konservativliberale Rechte
(um letztere zu strafen) lag, auch eine gewisse Solidarität unter
"algerienfranzösischen" Wählern eine Rolle gespielt haben. Allerdings
ergaben zum damaligen Zeitpunkt Umfragen, dass frankreichweit nur 14 Prozent
der Wählerinnen und Wähler des Front National diese besondere
Wahltaktik Le Pens billigten. |