Kriegsverbrecher:
Hunderte Anzeigen unbearbeitet
Antifaschistische
Historiker wünschen mehr Eifer der Staatsanwälte
Von Ulrich Sander
Unterlagen von Ermittlungsverfahren gegen Hunderte
ehemaliger Wehrmachtssoldaten aus Gebirgsjägereinheiten liegen noch immer
unbearbeitet im Archiv der Zentralen Stelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg.
Antifaschistische Rechercheure hatten diese Verfahren ausgelöst, so die VVN-BdA
und die Gruppe Angreifbare Traditionspflege. Sprecher dieser Organisationen
erklärten nun: "Leider haben wir seit drei Jahren nichts mehr aus Ludwigsburg
und von anderen angeschriebenen Staatsanwaltschaften gehört."
Recherchiert wurde wegen nationalsozialistischer Gewalt-
und Kriegsverbrechen in Italien, Frankreich, Jugoslawien, Polen, Albanien,
Griechenland und der UdSSR. Obwohl allein von Angehörigen der
Wehrmachts-Gebirgsjäger Massaker in 58 Orten nachweisbar sind wurde bisher kein
einziger Gebirgsjäger vor eindeutsches Gericht gestellt.
Einzelne Ermittlungsverfahren wurden von Ludwigsburg an
regionale Staatsanwaltschaften abgegeben. Doch – so wird von den Rechercheuren
vermutet - die zuständigen Staatsanwaltschaften verschleppen die Verfahren bis
die Kriegsverbrecher verhandlungsunfähig oder gestorben sind.
Wegen folgender Mord- und Gräueltaten einzelner
Gebirgsjägerregimenter wird zur Zeit staatsanwaltschaftlich ermittelt:
Am 16. August 1943 überfiel die 12. Kompanie des
Gebirgsjägerregiments 98 den griechischen Ort Kommeno und ermordete 317
Kinder, Frauen und Männer. Vorermittlungen gegen Angehörige des
Gebirgsjägerregiments wegen dieses Massakers sind zwar 2003 auch auf Grund auch
von Protesten bei Traditionstreffen der Gebirgsjäger von der Staatsanwaltschaft
München aufgenommen worden, Entscheidungen lassen aber auf sich warten. Bisher
wird lediglich Material gesammelt, es wird geprüft, welche möglichen Täter noch
leben und es muss entschieden werden, welche örtliche Staatsanwaltschaft
zuständig ist.
Auch die Staatsanwaltschaft der Zentralstelle für die
Bearbeitung von NS-Massenverbrechen in Dortmund ermittelt seit 2002 nach noch
lebenden Tätern des Gebirgsjägerregiments 98. Sie waren im September 1943 an der
Massenerschießung von circa 5.000 italienischen Soldaten auf der griechischen
Insel Kephallonia beteiligt. Der Münchner Staatsanwalt Konstantin
Kuchenbauer sagt, das Verfahren gegen einen ehemaligen Leutnant und einen
ehemaligen Feldwebel des Gebirgsjägerregiments 98 wegen der Erschießungen auf
Kephallonia sei nahe an einer Anklage. Der Leutnant gab den Hinrichtungsbefehl,
der Feldwebel vollstreckte ihn.
Letztes Jahr übergaben der Arbeitskreis Angreifbare
Traditionspflege und die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes VVN-BdA dem
Polizeichef in Garmisch-Partenkirchen eine Strafanzeige gegen Angehörige des
SS-Polizei-Gebirgsjägerregiments 18 wegen Beihilfe zum Massenmord, unter
anderem wegen deren Beteiligung an der Deportation der Athener Jüdinnen und
Juden nach Auschwitz. Auf zusätzlichen Druck des Simon Wiesenthal Institutes
nahm die Zentrale Stelle der Staatsanwaltschaften in Ludwigsburg Ende 2005
deswegen Ermittlungen auf. Der Traditionsverein des
SS-Polizei-Gebirgsjägerregiments 18 gehörte bis Juni 2005 als Untergliederung
zum Kameradenkreis der Gebirgstruppe und wurde letztes Jahr auf Grund von
Protesten und Recherchen aus dem Kameradenkreis ausgeschlossen. Eine Sprecherin
von "Angreifbare Traditionspflege": "Wenn der Kameradenkreis sich tatsächlich
mit den NS-Verbrechen deutscher Gebirgstruppen innerhalb der
nationalsozialistischen Wehrmacht auseinandersetzen wollte, würde er jedoch
nicht nur eine einzelne Kameradschaft ausschließen, sondern auch deren
Angehörige, die als Einzelpersonen nach wie vor Mitglied des Kameradenkreises
sind - wie der in Garmisch-Partenkirchen lebende ehemalige Offizier des
SS-Polizei-Gebirgsjägerregimentes 18 Karl Staudacher."
Eine Liste mit 196 Namen ehemaliger Gebirgsjäger,
deren Einheiten für Massaker und Geiselerschießungen in verschiedenen
europäischen Ländern verantwortlich sind, wird seit 2003 bei der
Staatsanwaltschaft München immer noch geprüft und geprüft. Ermittlungsverfahren
wegen NS-Kriegsverbrechen während der deutschen Besatzungszeit machen derzeit
jedoch in Italien Fortschritte.
Mitte der 90er Jahre wurde bei der
Militärstaatsanwaltschaft in Rom ein Bestand alter Vorermittlungsakten von
deutschen Kriegsverbrechen in Italien im sogenannten "Schrank der Schande"
entdeckt. Auf Grund dieser Akten verurteilte das Militärgericht in La Spezia im
Juni 2005 zehn ehemalige SS-Angehörige in Abwesenheit wegen vorsätzlichem Mord
zu lebenslanger Haft. Sie gehörten zum 16. SS-Panzergrenadier-Division
"Reichsführer SS" und sind verantwortlich für das Massaker in dem toskanischen
Dorfes Sant’Anna di Stazzema, wo am 12. August 1944 560 Menschen ermordet
wurden. Die Überlebenden von Sant’Anna wollen erreichen, dass die
verantwortlichen Massenmörder, endlich auch in Deutschland verurteilt werden.
Sie haben eine anwaltliche Vertretung in Deutschland, die eine der Nebenklage
durchführen will. Um das deutsche Schweigen über diese Kriegsverbrecher zu
beenden, fanden im Mai dieses Jahres zwei Wochen vor ihren Haustüren oder in
unmittelbarer Nähe Kundgebungen von Antifaschisten in neun deutschen Städten vor
den Wohnungen der Beschuldigten statt. Es handelt sich um Werner Bruß (Hamburg),
Alfred Mathias Concina (Freiberg), Ludwig Göring (Karlsbad, BaWü), Karl Gropler
(Wollin, Brandenburg), Georg Rauch (Rümmingen, BaWü), Horst Richter (Krefeld),
Heinrich Schendel (Ortenberg, Hessen), Alfred Schöneberg (Düsseldorf) und
Gerhard Sommer (Hamburg).
Anfang Februar 2006 wurde vor dem Militärgericht La Spezia
die Eröffnung eines weiteren Mordverfahrens beantragt. Es richtet sich ebenfalls
gegen ehemalige Angehörige der 16. SS-Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS".
Die in Deutschland lebenden Angeklagten stehen unter Verdacht, im Herbst 1944 im
italienischen Marzabotto und den umliegenden Ortschaften mehr als 900
Zivilisten massakriert und ermordet zu haben.
Gegen einen 84-jährigen ehemaligen Soldaten der
Fallschirm-Panzer-Division "Hermann Göring", der im Raum Tübingen lebt, hat die
Staatsanwaltschaft Stuttgart Ende Januar 2006 Anklage erhoben. Ihm wird
vorgeworfen, am 19. Juni 1944
an der Ermordung von etwa 20 Menschen des Ortes Civitella
beteiligt gewesen zu sein.
Die 5. Große Strafkammer des Landgerichts Tübingen muss nun entscheiden,
ob ein Verfahren eröffnet wird.
Gegen den ehemaligen Wehrmachtsoffizier des 274.
Infanterieregiments Klaus Konrad ist seit 2004 ein Ermittlungsverfahren in
Italien wegen eines Massakers in San Polo bei Arezzo in der Toskana
anhängig. Der zweiundneunzigjährige biedermännische Bürger aus
Schleswig-Holstein, der von 1969 bis 1980 für die SPD im Bundestag saß, leugnet
bis heute Schuld und Verantwortung an der Ermordung von 48 italienischen
Männern.
Die bei der Dortmunder Staatsanwaltschaft befindliche
Zentralstelle NRW für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen ermittelt gegen
Heinrich Nordhorn aus Greven im Münsterland, während des Zweiten Weltkrieges
Angehöriger der Schweren
Heeres-Panzerjägerabteilung 525. Vor der Militärstaatsanwaltschaft La Spezia
läuft das Verfahren seit dem 19. April 2006 in Abwesenheit des Angeklagten.
Nordhorn wird vorgeworfen, im September 1944 an der Erhängung von zehn
Zivilisten, die im Gefängnis Forli einsaßen, beteiligt gewesen zu sein.
Die recherchierenden Gruppen sind der Meinung: Die
Anstrengungen, die von der deutschen Justiz gegen überlebende mutmaßliche
deutsche Kriegsverbrecher unternommen werden, entsprechen weder in Tempo noch
Intensität den Notwendigkeiten angesichts der vorgeschrittenen Zeit und der
Bedeutung für die Bearbeitung der deutschen Vergangenheit.
|