Vergleich auf
Widerruf:
DGB gegen Esther
Dischereit
Der
DGB Berlin Brandenburg will Kultur- und Antirassismusarbeit zukünftig mehr
nebenher betreiben.
Von Martin Jander
"Es
ist anscheinend so, daß der DGB für eine Person wie mich keine
Beschäftigungsmöglichkeiten sieht" sagte Esther Dischereit nach ihrer
Arbeitsgerichtsverhandlung am 9. August in Berlin pessimistisch. "Es ist",
ergänzte sie, "auch offensichtlich, daß an der Entwicklung einer weiteren
kulturellen Profilierung der Gewerkschaften, wie ich sie begonnen habe, kein
Interesse besteht. Gegenüber Gebieten wie Anti-Rassismus und Kultur kommen
gegenwärtig in der gewerkschaftlichen Arbeit eher die traditionellen Felder
der Sozial- und Tarifpolitik zum Zuge."
Während der Verhandlung vor dem Arbeitsgericht einigten sich die Anwälte der
Schriftstellerin und des DGB auf einen "Vergleich auf Widerruf". Er
beinhaltet eine Abfindung und die Zusage von Honoraraufträgen in geringem
Umfang für 2007 und 2008.
Gültig wird er erst
dann, wenn Esther Dischereit innerhalb der nächsten 14 Tage nicht
widerspricht. Ob sie das tun wird, ließ sie nach der Verhandlung offen.
Meinhard Starostik, ihr Anwalt, hält den Vergleich jedoch für einen
"lebbaren Kompromiß". "Der Vorschlag des Arbeitgebers", sagte er nach der
Gerichtsverhandlung, "und die Intentionen des Gerichts trafen sich."
In der Verhandlung vor dem Arbeitsgericht wurden teilweise schwere
Formfehler der Entlassung sichtbar, sie war dem Betriebsrat nicht
fristgerecht zugestellt worden. Der Vertreter des DGB ließ während der
Verhandlung jedoch erkennen, man werde im Falle einer erfolgreichen Klage
gegen die Formfehler, Esther Dischereit dann eben formgerecht kündigen.
Keinen Zweifel ließ er außerdem daran, daß man mit Esther Dischereit nicht
weiter zusammen arbeiten wolle. Die von ihr bislang geleistete Arbeit könne
mühelos auf andere Beschäftigte verteilt werden. Der DGB-Bundesvorstand
wollte auf Nachfrage keinen Kommentar zum vorläufigen Ausgang des
Arbeitsgerichtsverfahrens abgeben.
Der Vertreter des DGB zeigte sich vollkommen unbeeindruckt von dem breiten
Protest, den die Entlassung der Kulturbeauftragten des DGB
Berlin-Brandenburg am 30.6.2006 hervorgerufen hat. In einem "Offenen
Brief" hatten prominente Künstler und Autoren, unter ihnen die
Professoren Wolfgang Benz (Berlin), Peter Steinbach (Karlsruhe), Andrei
Markovits (Ann Arbor, USA), Micha Brumlik (Frankfurt a. M.) und Achim
Leschinsky (Berlin) den DGB gebeten, die Entlassung rückgängig zu machen.
Insbesondere hatten die Unterzeichner kritisiert, daß der DGB
Berlin-Brandeburg mit der Entlassung Dischereits auch die hauptamtliche
Betreuung seiner Antirassismus-Website einstelle.
Innerhalb des DGB Bezirks Berlin-Brandenburg ist die Entlassung Dischereits
umstritten und hat heftige Kontroversen ausgelöst. In der Kritik steht vor
allem die Begründung der Kündigung. Der Geschäftsführer der Organisation,
Stefan Colm, hatte gegenüber der Tageszeitung "Der Tagesspiegel" geäußert,
in der finanziell sehr angespannten Lage des DGB müsse die Kulturarbeit
"gegenüber Fachbereichen wie Arbeitsmarkt-, Wirtschafts-, Jugend- oder
Sozialpolitik ... zurücktreten". Der Landesfachbereichsvorstand Medien,
Kunst und Industrie der Gewerkschaft ver.di in Berlin, hatte sich daraufhin
in einem Brief an den DGB-Bundesvorsitzenden, Michael Sommer, und an den
Vorsitzenden des DGB Berlin-Brandenburg, Dieter Scholz, gewandt. In dem
Schreiben hieß es: "Wir halten diese Kündigung und insbesondere die dafür
gegebene Begründung für einen Skandal. Gewerkschaftliche Kulturpolitik ist
eine Kernaufgabe und keine Nebensache. Die deutschen Gewerkschaften sind aus
Arbeiterbildungsvereinen hervorgegangen. Soziale Gerechtigkeit, Bildung und
Kultur sind seit Beginn die zentralen Bestandteile einer auf Emanzipation
und gesellschaftliche Teilhabe ausgerichteten Arbeiter- und
Gewerkschaftsbewegung. Die Aufgabe dieses Feldes gewerkschaftlicher Arbeit
heißt den Kampf - die Erfolge, wie die Niederlagen - von Millionen
Gewerkschaftsmitgliedern in über 100 Jahren zur Nebensache zu erklären."
Constanze Lindemann, ehrenamtliche Vorsitzende des
Landesfachbereichsvorstand Medien, Kunst und Industrie der Gewerkschaft
ver.di in Berlin, ist deshalb auch empört über den Vergleich. Sie hält ihn
für einen Sieg des Arbeitgebers. Der DGB habe während der
Arbeitsgerichtsverhandlung erkennen lassen, daß er die Kultur- und
Antirassismusarbeit, für die bislang Dischereit zuständig war, nicht
einstellen, sondern weiterführen werde. Allerdings werde er sie in
geringerem Umfang auf andere Mitarbeiter verteilen, oder von Honorarkräften
erledigen lassen. Der "Vergleich" sei ein Sieg derjenigen im DGB, die Kultur
und Antirassismus an den Rand drängen und deshalb auch glaubten outsourcen
zu können.
Ob Esther Dischereit den Vergleich annehmen wird, bleibt abzuwarten. Auch
wie der DGB Berlin-Brandenburg mit der Kultur- und Antirassismusarbeit
weiter umgeht, bleibt spannend. Der Fall Dischereit soll am 25. August in
der Vorstandssitzung des DGB Berlin-Brandenburg beraten werden.
Gewerkschaftsbund
spart sich Kultur:
DGB will der deutsch-jüdischen
Schriftstellerin Esther Dischereit kündigen
Sie betreute neben Ausstellungen auch
die Antirassismus-Website des Bezirks...
Anhang
Berlin 8. August 2006
Landesbezirk Berlin-Brandenburg
www.bb-verdi.de
P R
E S S E I N
F O R M A T I O N
Kündigung von Esther
Dischereit durch den DGB ist unsozial und kulturlos ver.di
Landesfachbereichsvorstand Medien, Kunst und Industrie protestiert
Am 9. August 2006
wird vor dem Berliner Arbeitsgericht die Kündigungsschutzklage verhandelt,
die Esther Dischereit gegen ihre Entlassung als Gewerkschaftssekretärin
durch den DGB Bundesvorstand eingereicht hat.
Um seitens des
DGB-Bundesvorstandes vorgegebene und geforderte Sparmaßnahmen zu erfüllen,
hatte der Geschäftsführende DGB-Bezirksvorstand im Dezember 2005 beschlossen
Esther Dischereit zu entlassen. Der DGB-Bundesvorstand kündigte sie
betriebsbedingt zum 30.6.2006.
Im 'Tagesspiegel'
erklärte der Geschäftsführer des Bezirks, Stefan Colm, "gegenüber
Fachbereichen wie Arbeitsmarkt-, Wirtschafts-, Jugend- oder Sozialpolitik
mußte die Kulturarbeit zurücktreten". Der Betriebsrat hat der Kündigung
widersprochen und die Weiterbeschäftigung gefordert.
Esther Dischereit ist
54 Jahre, alleinerziehend, ihre zwei Kinder sind in der Ausbildung. Sie war
15 Jahre als hauptamtliche Sekretärin erst bei der Gewerkschaft ötv, danach
beim DGB insbesondere im Bildungsbereich beschäftigt. Seit dem Jahr 2000
arbeitete sie beim DGB Berlin-Brandenburg als Referentin für Kunst und
Kultur und betreute die Antirassismus-Website des Bezirks. Mit den von ihr
initiierten und durchgeführten Ausstellungen, Projekten und Arbeiten errang
sie hohe Anerkennung auch außerhalb der Gewerkschaften.
Der ver.di Landesfachbereich Medien Kunst und Industrie, Berlin-Brandenburg
hatte in einem Schreiben an Michael Sommer und Dieter Scholz gegen die
Entlassung scharf protestiert. Wir halten diese Kündigung und insbesondere
die dafür gegebene Begründung für einen Skandal.
Gewerkschaftliche Kulturpolitik ist eine Kernaufgabe und keine Nebensache.
Die deutschen Gewerkschaften sind aus Arbeiterbildungsvereinen
hervorgegangen. Soziale Gerechtigkeit, Bildung und Kultur sind seit Beginn
die zentralen Bestandteile einer auf Emanzipation und gesellschaftliche
Teilhabe ausgerichteten Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Die Aufgabe
dieses Feldes gewerkschaftlicher Arbeit heißt den Kampf – die Erfolge, wie
die Niederlagen - von Millionen Gewerkschaftsmitgliedern in über 100 Jahren
zur Nebensache zu erklären.
Wir protestieren gegen diese unsoziale, kultur- und gewerkschaftsfeindliche
Politik des DGB.
Wir werden Esther Dischereit in ihrem Kampf um den Erhalt ihres
Arbeitsplatzes weiterhin unterstützen. Wir stehen für eine auf Solidarität,
auf Bildung und auf Kultur gegründete Gewerkschaftsarbeit.
Pressestelle des
Landesbezirks der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) |