Gewerkschaftsbund spart sich Kultur:
DGB will der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Esther
Dischereit kündigen
Sie betreute neben Ausstellungen auch die
Antirassismus-Website des Bezirks
Von Martin Jander
Erschienen in: Der Tagesspiegel
v. 06.06.2006 Die
Schriftstellerin und Gewerkschaftssekretärin Esther Dischereit soll Ende
Juni 2006 arbeitslos werden. Mit ihrer Entlassung will der Deutsche
Gewerkschaftsbund (DGB) im Bezirk Berlin-Brandenburg seine Kulturarbeit und
die hauptamtliche Betreuung seines Antirassismus-Angebots im Internet (www.respekt.dgb.de)
aufgeben. Ein Gütetermin
vor dem Arbeitsgericht verlief ergebnislos. Seit 2001 arbeitet die
international renommierte deutsch-jüdische Autorin für den Dachverband der
Gewerkschaften in Berlin-Brandenburg. Ihre Arbeit wurde in den
Geschäftsberichten regelmäßig ausführlich gewürdigt. Ihre Projekte –
Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, Kampagnen – erfreuen sich regen Zuspruchs
und werden auch außerhalb der Gewerkschaften hoch gelobt.
Andreas Köhn, Mitglied der Landesbezirksleitung der Gewerkschaft Verdi in
Berlin und verantwortlich für das Thema Rechtsextremismus, ist überrascht
von der Entlassung der Autorin. Dischereit sei im Unterschied zu manchem
"Gewerkschaftsbürokraten sehr engagiert" gewesen und habe eine "sehr gute
Arbeit geleistet", sagt er. Der Vorsitzende des DGB Berlin-Brandenburg,
Dieter Scholz, will derzeit nichts zur Kündigung sagen.
Die Entlassung der Kulturbeauftragten des DGB Berlin-Brandenburg steht
offenbar im Zusammenhang mit einer veränderten Strategie des
Gewerkschaftsdachverbandes. Dazu zählen Einsparungen und eine Konzentration
auf Aufgabenbereiche, die den Gewerkschaften – die einen großen
Mitgliederschwund verzeichnen – wieder neue Beitragszahler zuführen sollen.
Der Verzicht auf die von Esther Dischereit betreute Antirassismus- und
Kulturarbeit falle dem DGB schwer, erklärt der Geschäftsführer der
Organisation Stefan Collm, "aber gegenüber Fachbereichen wie Arbeitsmarkt-,
Wirtschafts-, Jugend- oder Sozialpolitik musste die Kulturarbeit
zurücktreten".
Ob der DGB mit der Einstellung der Kulturarbeit und der hauptamtlichen
Betreuung der Antrassismus-Website die richtigen Akzente setzt, wird
innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften aber auch bezweifelt. Die
Psychologin Birgit Rommelspacher, Expertin für die Themen Rechtsextremismus
und interkultureller Dialog, äußerte sich betroffen über die vorgesehene
Kündigung. Dischereits Arbeiten hätten sich vor allem durch die
"Originalität des Zugangs und der Form" ausgezeichnet. Sie habe Themen
bearbeitet, die "bei den Gewerkschaften gewöhnlich nicht sehr präsent"
seien. Sie erinnerte an Kunstaktionen, die das Ost-West-Verhältnis
thematisierten, aber auch an Ausstellungen, die sich mit dem
Nationalsozialismus beschäftigten. Als Autorin ist Dischereit vor allem mit
Essays, Gedichten, Hörspielen und Theaterstücken hervorgetreten, die das
Thema der "zweiten Generation" der Shoah-Überlebenden behandeln. Ihre Mutter
hatte den Nationalsozialismus in einem Versteck in Berlin überlebt.
Die vorläufig letzte – von Esther Dischereit betreute – Ausstellung ("Plätze
im Westen – Plätze im Osten") eröffnet am Mittwoch um 19 Uhr im DGB-Haus in
der Keithstraße 1-3 in Schöneberg.
Neuer Sammelband mit politisch-literarischen
Essays:
Die etwas andere
Geschichte
Esther Dischereit erzählt von den schweigsamen
Nachfahren der Opfer und den desinteressierten Erben der Täter...
hagalil.com 07-06-2006 |