Juden in Deutschland - Fragen 2006:
Die Heuchelei korrumpiert
Erster Teil des Essays "Reden und Taten: Die deutsch-jüdische
Frage 2006" von Daniel Haw
Es heißt, worüber man nicht reden kann, darüber soll man
schweigen. Über die Schoah, den so genannten Holocaust, kann das überwiegend
christlich geprägte Deutschland nicht reden, tut es jedoch oft und
beflissen.
Sollen sich deutsche Juden, die nach 1945 in Deutschland geboren wurden, für
diese endlosen Reden interessieren? Interessieren sie nicht eher Taten, die
ihnen folgen sollten, - könnten, - müssten?
Das christlich geprägte Deutschland glaubt aber, die Rede sei der Tat genug.
So ist es gar nicht erstaunlich, eine neue Divergenz zwischen deutschen
Juden und der Gesellschaft, in der sie leben, beobachten zu können.
Den verfolgten, beraubten, gedemütigten, missbrauchten und ermordeten Juden
wird in - zum Teil - absonderlicher Weise gedacht: Da verlegt man
"Gedenk-Stolpersteine" auf den Trottoirs, da hält man Feierstunden ab und
peinigt Schüler der allgemeinen und weiterführenden Schulen immer noch nach
alter Väter Sitte mit dem statistischen Leid der europäischen Judenheit
während der Schoah. In allen Medien wird in seriöser Betroffenheit das Credo
"So-etwas-darf-sich-niemals-wiederholen!" wiederholt, als hegten seine
Apologeten den heimlichen Wunsch, durch seinen inflationären Gebrauch den
Wert zu schmälern und somit die Notwendigkeit, dem Wertlosen Taten folgen zu
lassen. Aber der Gedanke dieses Vorsatzes ist wohl zu boshaft.
Die Heuchelei korrumpiert
Andererseits, so lehrt die Geschichte, hinterlassen Gebetsformeln einen
nachhaltigen Eindruck in Volkes Seele. Der Mensch ist so kompliziert wie er
simpel ist. Er glaubt dem gedruckten Wort, auch wenn er um dessen
Fragwürdigkeit weiß, ebenso vertraut er dem wiedergekäuten Credo.
Es liegt wohl an der Sehnsucht nach Sicherheit, die ihn korrumpierbar macht,
sobald man ihm die auflagenstarke Lüge präsentiert. Der Mensch soll glauben
und er glaubt gern, besonders der Deutsche.
Und was haben die Juden davon?
Nichts!
Ein hochrangiger Politiker äußert betroffen: "So etwas darf
sich niemals wiederholen!", eine christlich-jüdische Interessengemeinschaft
verlegt einen bedenklichen "Stolperstein", ein ambitionierter
Fernsehschauspieler liest Brecht zum Gedenken an die Bücherverbrennung, der
Kantor singt ein Lied dazu und irgendwo wird eine Gedenktafel an eine
uninteressante Fassade geschraubt.
Und dann? - Dann herrscht Ruhe und alle sind zufrieden - außer den Juden.
Etliche unter ihnen fragen sich, woran es liegen mag, dass sich die
Deutschen christlicher Prägung scheinbar so sehr für ihre ermordeten Eltern
und Großeltern interessieren, jedoch nicht für deren Kinder und Enkelkinder,
für die Träger jüdischen Lebens, jüdischer Kultur.
Und je länger sie über diese Frage nachsinnen, desto stärker
drängt sich ihnen ein Verdacht auf: Wer angeblich das Leid von
schätzungsweise 6 Millionen ermordeten Menschen beklagt, müsste
notwendigerweise am Schicksal ihrer Nachkommenschaft interessiert sein!
- Notwendigerweise!
- Müsste!
Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Die übelsten und
dümmsten Nazis von 1933 wussten zum Teil mehr von Tradition, Religion und
Kultur der Judenheit, als deutsche Studenten, Hochschullehrer und engagierte
Christen des Jahres 2006, da den dummen Bösewichtern von einst Begriffe wie
Brachah, Tachles, Schabath, Goi, Schickse und Mazal nicht nur bekannt,
sondern auch sprachbewusst waren.
Was nützt deutschen Juden nun ein gut geöltes Credo
"So-etwas-darf-nie-wieder-geschehen!", wenn die Deutschen nicht einmal
wissen, wem es nicht wieder geschehen darf. Davon abgesehen ist den meisten
von ihnen auch nicht bekannt, was da eigentlich exakt geschehen ist. Das
Insistieren auf Detailwissen wird überdrüssig abgelehnt: das sei doch bei
dem übergroßen Gesamtschrecken des Holocausts nicht notwendig, ja geradezu
geschmacklos!
Die Geschmacklosigkeit beweist sich allerdings in der Ignoranz des
Detailwissens; das furchtbare Ganze setzt sich schließlich aus Einzelheiten
zusammen, und nur mit dem detailliertem Grauen kann sich der menschliche
Geist auseinandersetzen, um es zu begreifen und sich darüber auszutauschen.
Der Horror als Ganzes ist ein bequemes Grausen, das die nötige persönliche
Distanz schafft, um treuherzig seufzen zu können: "Ja, ja, so etwas darf
sich nie wiederholen!"
Symbolisierende Entrückung in Ferne und Vergangenheit
verhindert respektvolles Interesse in der Gegenwart
"So etwas" wiederholt sich nur dann nicht, wenn die Kinder
und Kindeskinder des Tätervolkes bemüht sind, sich zumindest ein
morphologisches Bild vom Judentum zu verschaffen. Hierzu müssten sich die
Deutschen christlicher Prägung allerdings die Mühe machen, sich deutschen
Juden zu nähern, sich über ihre Religion und Kultur zu informieren. Es
reicht bei weitem nicht aus, den Klappentext eines Multi-Kulti-Taschenbuchs
zu überfliegen. Selbst das Fernsehen hilft hier kein Deut weiter. Selbst die
eilige Stippvisite im Internet kann nur ein Anfang sein.
Tatsächlich leben zur Zeit ungefähr 100.000 Juden in
Deutschland, von denen die überwiegende Zahl willens oder sogar begierig
wäre, Deutsche christlicher Prägung über das Judentum aufzuklären, sobald
man sie darum bäte. Was liegt ihnen daran? Hoffen sie etwa, dass ein
Verständnis der jüdischen Kultur Deutsche davon abhielte, die Schoah zu
wiederholen?
Doch abgesehen vom möglichen Nutzen für die Juden dieser Gesellschaft,
könnten die Deutschen von einem neuen Wissen und einem neuen Bewusstsein
profitieren?
Sie könnten in der Tat: Fragten sie nach der jüdischen Tradition, nach
Geistesgeschichte und Ethik, bekämen sie Antworten, die sie bei der (wenn
auch zweifelhaften) Suche nach ihrer Identität weiterbrächten.
"Wir können dem deutschen Volk nicht verzeihen; das könnten nur die
Toten." Dieser jüdischen Replik auf das deutsche Selbstmitleid, dessen
naiver Drang anscheinend erst gestillt wird, wenn sich die jüdischen Lippen
zum Bruderkuss gespitzt haben, ist nichts hinzuzufügen. (So ein Kuss lässt
sich übrigens rasch wieder abwischen.)
Weshalb müht sich das offizielle Deutschland so um eine
Holocaust-Gedenkkultur? Etwa, um den Juden zu beweisen, dass es ihre Toten
nicht vergessen kann, dass es ihr Leben erleichtern will oder lediglich, um
das eigene Gewissen zu beruhigen?
Ist ein aufrichtiges Gewissen zu beruhigen?
… Und wenn nicht, sind letztendlich die Juden daran schuld?
>> Zweiter Teil...
[Im
Forum hat sich hierzu eine interessante Diskussion entwickelt]
Daniel
Haw ist Leiter des
Schachar, des
jüdischen Theaters Hamburg. Er ist aber nicht nur Autor, Regisseur,
Schauspieler und Komponist, sondern auch Maler und Grafiker, der in
Frankreich und Deutschland die Aufmerksamkeit des kunstinteressierten
Publikums geweckt hat. Mit seiner surrealen Ausstellung "L'enfant et les
sortilèges", einer Hommage an Maurice Ravel und dessen gleichnamige Oper,
präsentierte er seine Malerei erstmals 1988 in der Hamburger Galerie
"Leopold" und begeisterte Presse und Besucher. Den regelmäßigen Lesern von
haGalil ist er auch als Vater der ersten
jüdischen
Cartoon-Figur der Bundesrepublik bekannt.
Zum Jahrestag der Bücherverbrennung:
Heinrich Heine und das deutsche Wüten
Zwischen dem 10. und 15.Mai 1933 wurden überall in
Deutschland Scheiterhaufen errichtet und Bücher verbrannt. Was Juden und
ihre Freunde sagen, denken und empfinden, sollte nicht weiter Teil der
deutschen Medienlandschaft sein... |