Neue Entwicklung im Mordfall Ilan Halimi:
Untersuchungsrichter nehmen antisemitisches
Tatmotiv auf
Öffentliche Mobilisierung am
Sonntag geplant
Von Bernhard Schmid, Paris
Nach
dem grausamen Entführungs- und Mordfall
um den jungen französischen Juden Ilan Halimi, der die jüdische
Gemeinschaft und die sonstige Öffentlichkeit schockiert hat, gab es
in den letzten Tagen einige neue Entwicklungen. Unterdessen gehen
auch die Kriminalermittlungen voran, am Dienstag wurden drei weitere
Personen wegen mutmaßlicher Komplizenschaft festgenommen.
Seit Montag Abend sind inzwischen auch zwei
französische Ermittler in dem westafrikanischen Bürgerkriegsstaat
Elfenbeinküste unterwegs, denn dorthin - in das Herkunftsland seiner
Eltern - hat sich höchstwahrscheinlich der Kopf der Bande, Youssouf
Fofana, geflüchtet. Die Behörden dort geben an, tatsächlich
vergangene Woche die Einreise eines Mannes dieses Namens verzeichnet
zu haben, konnten aber die Identität dieser Person mit dem gesuchten
mutmaßlichen Haupttäter bisher noch nicht bestätigen.
Am Montag entschieden sich die beiden, die
Ermittlungen leitenden Untersuchungsrichter Corinne Goetzmann und
Baudoin Thouvenot das vermutete antisemitische Tatmotiv in die
Begründung für das von ihnen gegen sieben Personen (als
wahrscheinliche Zentralfiguren der Bande) eingeleitete
Strafverfahren aufzunehmen. Dieses Verfahren läuft jetzt unter dem
Tatvorwurf "Bildung einer kriminellen Vereinigung, um
gemeinschaftlich einen vorsätzlichen Mord aufgrund der tatsächlichen
oder vermeintlichen Zugehörigkeit des Opfers zu einer Bevölkerungs-
oder Religionsgruppe zu begehen". Das mutmaßliche antisemitische
Motiv, das den für den Tatbestand des Mordes gegenüber dem
"reinen" Totschlag, der rein juristisch ohne besonderes Motiv
auskommt - erforderlichen niederen Beweggrund liefert, wirkt Tat
erschwerend.
Gleichzeitig können deshalb die Befugnisse der ermittelnden Beamten
ausgedehnt werden, weshalb die beiden Untersuchungsrichter zu diesem
Zeitpunkt das verschärfende Tatmotiv festhielten. Nach Angaben von
Le Monde in ihrer Mittwochsausgabe bedeutet dies nicht unbedingt,
dass die Qualifizierung der Tat als antisemitisch bis zum Ende der
Ermittlungen aufrecht erhalten werde; Polizei und Staatsanwaltschaft
seien in dieser Hinsicht skeptischer und gingen nach wie vor von
Geldgier als dominierendem Antrieb aus.
Staatspräsident Jacques Chirac rief am Dienstag persönlich die
Familienangehörigen des ermordeten Ilan Halimi an und versprach
ihnen volle Aufklärung des Verbrechens, besonders auch bezüglich der
Frage, ob es antisemitischer Natur sei. Innenminister Nicolas
Sarkozy erklärte, ebenfalls gestern, vor der französischen
Nationalversammlung: "Die Wahrheit lautet, dass diese Gangster
zuerst aus kriminellen Motiven, aus Geldgier gehandelt haben. Aber
sie waren der Überzeugung, in Anführungszeichen, dass 'Juden Geld
haben', und dass im Falle, dass die Entführten selbst keines hätten,
die Familie und die jüdische Gemeinschaft zusammenhalten würden. Das
nennt sich Antisemitismus durch Amalgambildung."
Diesen klaren Worten kann kaum widersprochen worden. Zweifelhafter
war hingegen der in Sarkozys Rede am Rande enthaltene Hinweis, bei
einem der Tatverdächtigen seien Unterlagen moslemischer
Wohlfahrtsorganisationen gefunden worden. Wie einer der Ermittler am
Mittwoch in Libération klar stellte, haben diese Unterlagen mit den
Tätern und dem Verbrechen nichts zu tun, sondern gehörten den Eltern
eines der jugendlichen Tatverdächtigen und scheinen darüber hinaus
ziemlich banaler Natur gewesen zu sein. Auch hier wäre vor
Amalgambildung zu warnen.
Am kommenden Sonntag Nachmittag rufen mittlerweile fünf
Organisationen dazu auf, sich an einer Demonstration in Paris für
das Andenken an Ilan Halimi und die Verurteilung des Mordes und der
Tätermotive zu beteiligen. Diese soll auch an dem
Handy-Verkaufsladen am Boulevard Voltaire, in dem Ilan Halimi zu
Lebzeiten arbeitete, vorüber ziehen. Dazu rufen die unterschiedlich
ausgerichteten Antirassismusgruppen - also die eher liberale und in
der jüdischen Gemeinschaft verwurzelte LICRA (Internationale Liga
gegen Rassismus und Antisemitismus), die früher KP-nahe und vor
allem mit arabischen Einwanderergruppen arbeitende MRAP (Bewegung
gegen Rassismus und für Völkerfreundschaft) sowie die
sozialdemokratische SOS Racisme - zusammen mit der Union jüdischer
Studenten in Frankreich (UEJF) und der jüdischen
Wohltätigkeitsorganisation B'nai B'rith auf. Die MRAP hat darüber
hinaus angekündigt, als Nebenkläger im Strafprozess gegen die Täter
aufzutreten, da das antisemitische Motiv mittlerweile durch die
ermittelnden Untersuchungsrichter festgehalten wurde.
Die fünf aufrufenden Gruppen haben Präsident Jacques Chirac und
Regierungsmitglieder dazu aufgefordert, sich an der Demonstration zu
beteiligen. Sie zogen eine Parallele zu der Demonstration von
200.000 Menschen nach der Schändung des jüdischen Friedhofs im
südfranzösischen Carpentras, im Mai 1990. Damals hatte erstmals ein
amtierender Staatspräsident, François Mitterrand, an einer
Protestdemonstration in Paris teilgenommen.
Partout en France s’organisent des
rassemblements citoyens pour rendre
[HOMMAGE AU
JEUNE ILAN HALIMI]...
Fotostrecke:
Demonstration zum Andenken an
Ilan Halimi
Am Sonntag kamen zu einer Pariser Demonstration für das Andenken an
Ilan Halimi rund 50.000...
Der Mord an Ilan Halimi:
Geld vom Juden
Entführung, Folter, Mord: Das brutale Verbrechen
an einem jüdischen Jugendlichen in einer Pariser Vorstadt hat in
Frankreich Angst vor einer neuen Welle des Antisemitismus
ausgelöst...
Gesellschaftliche Verantwortung:
Der Judenmord
So wird der Foltermord zu etwas mehr als "nur"
einer Einzeltat. Er wird zu einer Tat, die eine ganze Gesellschaft
in die Verantwortung nimmt: Weil alle, die wussten, hätten wissen
können, schwiegen und so Komplizen wurden...
Youssouf Fofana gefasst:
Chef der "Gang der
Barbaren" festgenommen
Der wahrscheinliche Gruppenguru und Anstifter jener Vorstadtgang,
die den jungen französischen Juden Ilan Halimi entführt,
festgehalten und gefoltert hatte, hatte sich in der Vorwoche in das
Herkunftsland seiner Eltern abgesetzt. Sein Fluchtversuch wurde
jedoch vereitelt...
Der ehem. Botschafter Israels kondoliert:
Awi Pazner an Ruth Halimi
"Die KH-Familie trauert mit Ihnen"...
Zum Mord an Ilan Halimi:
"Marsmenschen" oder Juden?
Überlegungen zu einem Verbrechen an der Schnittstelle zwischen
moslemischem Judenhass und zunehmend barbarischer Jugendkriminalität
in Frankreich...
Mörderische Antisemiten?
"Geht und bettelt in euren Synagogen!"
Ilan Halimi (23), lebte in einem Pariser Vorort und war
Angestellter in einem kleinen Laden für Mobiltelefone. Er wurde
entführt und von seiner Familie wurden 450.000 Euro Lösegeld
gefordert. Eine so hohe Summe könnten sie unmöglich aufbringen,
antworteten die Angehörigen, worauf die Erpresser spotteten: "Geht
und bettelt in euren Synagogen!"...
Spektakulärer Mord bei Paris:
"Die Gang der Barbaren"
Ein außerordentlich brutales Verbrechen hält
Frankreich in Atem: Am Montag voriger Woche wurde an einem
Eisenbahngleis in der Nähe eines Vorstadtbahnhofs dreißig Kilometer
südlich von Paris der 23jährige Ilan Halimi nackt, gefesselt und
geknebelt aufgefunden... |