Deutsch-jüdische Realität:
Anders atmen?
Eine Tagung in Stuttgart gab einen
Einblick in jüdische Gegenwart fern aller Klischees
Von Thomas Meyer
Süddeutsche Zeitung,
04.06.2004
Auch der verstorbene Schriftsteller Jurek Becker entkam
der einen Frage nicht: "Ist das, was Sie schreiben, jüdische Literatur?" Mit
seiner Antwort "Das ist Sache der Ornithologen - ich bin der Vogel!",
verwies er die selbst in der Forschung noch immer traktierte Formel: "Jude
und Autor gleich jüdischer Autor" in die Sphäre unerbetener
Identitätszuschreibungen.
Den Rollenbildern, auf welche die so gerne "Mitbürger"
genannten Juden der zweiten und dritten Generation nach der Shoah in
Deutschland festgelegt werden, haben die Betroffenen längst politische und
künstlerische Konzepte entgegengesetzt. Weil diese oft dem unterstellten
Selbstbild nicht entsprechen, reagiert die Öffentlichkeit habituell mit den
Kategorien "enttäuschte Liebe" oder "Provokation". Daher wirkt es wie eine
Flucht vor dem Diskurs mit den lebenden Juden, wenn die Auseinandersetzung
mit der Jahrhunderte alten deutsch-jüdischen Geschichte immer wieder in den
Mittelpunkt von Konferenzen gerückt wird. Eine von Robert Jütte und Abraham
Kustermann konzipierte Tagung in der Akademie der Diözese
Rottenburg-Stuttgart durchbrach die eingespielten Muster, indem sie jüdische
Architekten, Filmemacher, Künstler und Literaten von ihrer Arbeit erzählen
ließ, die alles andere als ständige Selbstfindung ist.
Mit dem 1961 in Tel-Aviv geborenen, seit 1964 in Wien
lebenden Schriftsteller und Historiker
Doron Rabinovici begab sich
nicht nur ein Virtuose im Spiel mit Klischees auf das Podium, sondern ein
Verfechter radikaler Subjektivität. Natürlich denke er bei dem, was er
schreibe und tue, die Geschichte mit. Und natürlich lebe er sein Leben mit
vielen unbeeinflussbaren Fragen, die man ihm immer von Außen beantworten
möchte. Doch die bloße Addition von Geschichte und Gegenwart mache in der
Summe weder ihn noch sein Schreiben aus. Rabinovici wehrte sich gegen jede
Art "jüdischen Expertentums" aufgrund seiner Herkunft und Religion. Dem
politischen Menschen Rabinovici geht es um konkrete Gefahren, die ihn und
seine Umwelt betreffen. Deshalb habe er Initiativen gegen Jörg Haider
organisiert. Als Grabinschrift wünscht sich Rabinovici den Satz: "Ich bin
unter Euch!" Hier spricht nicht der Fremde, den die Heimischen mal
einbürgern, mal ausweisen möchten, sondern der Andere, der immer schon dazu
gehört, aber nicht darin aufgeht.
Auch die Aktionen und Werke der Künstlerin Anna Adam stehen
quer zu festen Erwartungshaltungen. Ihre Ausstellung "Feinkost
Adam", die 2002 im Jüdischen Museum Fürth zu sehen war, sorgte für
hitzige Diskussionen. Vorurteile über das Verhältnis von Juden und
Nichtjuden wollte sie mit "Satire" so überzeichnen, dass die eingeübten
Bilder und das Scheinwissen in Frage gestellt und durch neue, an der
Wirklichkeit orientierte Vorstellungen ersetzt werden. Doch Adam, die in
Stuttgart einige der Ausstellungsgegenstände nochmals vorführte, geriet
zwischen unbelehrbare Philosemiten und selbst ernannte Vertreter eines
offiziellen Judentums. So sehr sich seinerzeit die Gemüter erhitzten, so
wenig scheint heute Adams pädagogisch-aufklärerische Arbeit irgendwie
anstößig. In ihren Ausführungen wurde lediglich erkennbar, dass sie sich
gegen Zuschreibungen plattester Art wehrt.
Glaubt denn wirklich jemand, wie sie behauptet, dass Juden
anders atmen? Unwillkürlich fragte man sich, warum niemand auf die Idee kam,
Adam mache einfach schlechte oder mittelmäßige Kunst?
Der Architekt Alfred
Jacoby setzt sich auf andere Weise mit der deutsch-jüdischen
Realität auseinander: Er baut Synagogen. In Aachen, Chemnitz, Kassel und
Offenbach hat er Projekte realisiert, die auf ganz unterschiedliche Weise
auf Zerstörung und Wiederaufbau reagieren. Immer geht es ihm aber darum,
einen Raum zu schaffen, der Vergangenheit und Zukunft in eine jüdische
Gegenwart übersetzt. In genau kalkulierter Weise haben Jacobys Bauten das
stattfindende religiöse jüdische Leben mit der Forderung "Erinnere Dich!"
aufeinander bezogen. Diese wichtige Tagung gab einen Einblick in jüdische
Gegenwart: Jenseits von Klezmer und falscher Romantik herrscht reges
Treiben.
hagalil.com 06-06-2004 |