"Sie sollten es merken":
Interview mit
Doron Rabinovici
Beer Sheva August 2003
haGa: Wie entstand Ihr Kontakt zu Mark Gelber? Und wie
kamen Sie zur Sommeruniversität von Beer Sheva?
D.R.: Mark Gelber hat mich im
Frühling [2003] angesprochen und ich kenne ihn von einem Canetti-Symposium,
das in Wien stattgefunden hat. Und er hat dort einen wirklich wunderbaren
Vortrag gehalten, der alle Canetti-Kenner überrascht hat, denn bei Canetti
kommt ein Doktor Sonne vor, in seinem Roman, und die Canetti-Spezialisten
waren davon überzeugt, daß es sich dabei um eine fiktive Person handelt, die
eben Canetti so begeistert hat, aber in Wirklichkeit ist das eine reale
Figur, die in Wien Hebräisch gelehrt hat, und zwar sogar in der Urania,
sogar in diesem Raum höchstwahrscheinlich, in dem der Vortrag von Mark
Gelber zu hören war und das war sehr beeindruckend. Und ich verdanke diesem
damaligen Zusammentreffen – ich habe dort auch einen Vortrag gehalten – daß
er mich kannte. Vielleicht – also ich weiß es nicht, letztes Jahr war ja
Ruth Klüger da. Die wiederum kenne ich auch – Vielleicht war das auch ein
Grund, zusätzlich noch, daß die beiden sich meiner entsannen, aber es ist
auch möglich, daß es er alleine gewesen ist auf Grund unseres damaligen
Zusammentreffens.
haGa: Sie sind Historiker und
zugleich Schriftsteller. Wie verbinden Sie das? Üben Sie auch eine
Lehrtätigkeit aus?
D.R.: Ich habe keine
Lehrtätigkeit. Die Instanzen der Ohnmacht sind meine Dissertation.
Ich habe auch über andere Themen geschrieben, aber ich möchte mich
eigentlich mehr der Literatur zuwenden und daß die historische Forschung
eher in den Hintergrund gerät. Das hat damit zu tun, daß ich auf der Ebene
der Literatur für mich glaube, mehr zu können, nämlich für mich . Ich
sage jetzt nicht, daß ich mehr kann als Schriftsteller, sondern das ist
etwas, was mit mir ganz persönlich zu tun hat. Ich habe bei der historischen
Arbeit weniger das Gefühl, daß das mein Text ist, obwohl er das
natürlich genauso ist, ganz klar, aber trotzdem: In der Literatur hab' ich
das Gefühl, im Unterschied zur Geschichtswissenschaft, daß das noch näher an
mich herankommt und daß das noch eher so ist, daß ich das machen muß, weil
es kein anderer machen würde. Aber das Gefühl hatte ich bei Instanzen der
Ohnmacht schon auch ein bißchen, daß dieses Thema in Wien mir zukommt,
mir zufällt.
haGa: Weil Sie in Wien leben und
da auch aufgewachsen sind ...
D.R.: ... und weil in Wien
dieses Thema für einen nichtjüdischen Historiker noch prekärer ist.
haGa: Sie sind als dreijähriger
mit Ihren Eltern und Ihrem sechs Jahre älteren Bruder von Tel Aviv nach Wien
gekommen. Wie haben Sie sich überhaupt in diese Welt, diese Sprachwelt
einleben können?
D.R.: Für mich war es so, diese
Sprache zu lernen, das war ein unbedingter Triumph, den ich haben wollte,
ein Triumph gegenüber dieser Gesellschaft, die meine Muttersprache nicht
sprechen konnte und sicherlich auch der Triumph des Migrantenkindes,
insofern auch "zweite Generation" – nicht nur zweite Generation in einer
Familie der Überlebenden, sondern auch zweite Generation der Migration – und
wir zwei Brüder, wir wollten so schnell wie möglich Deutsch lernen und
wollten es richtig lernen und gut lernen. Das war wichtig.
Dann ist da noch hinzugekommen, daß ich eine merkwürdige
Beziehung hatte zu den Büchern meiner Eltern. Ich konnte die Bücher auf
Hebräisch nicht lesen, denn ich war ja in einer österreichischen Schule. Ich
konnte die slawischen Bücher, die da auch standen, nicht lesen. Das einzige,
was ich lesen konnte, waren die deutschen Bücher, die deutschsprachigen
Bücher. Die waren aber zumeist keine Kinderbücher. Überhaupt war es so, daß
die typischen, die klassischen Kinderbücher bei uns nicht vorhanden waren.
Das heißt, ich wurde sehr schnell in die Literatur gestoßen, und da gab es
ein Buch in der Bibliothek meiner Eltern, das Kinderbuch von Bertolt
Brecht. Das war natürlich kein wirkliches Kinderbuch. Es war schon ein
bißchen auch für Erwachsene, aber es war mit Zeichnungen und es war in
Reimen und es war auch für Kinder lesbar und das hat mich begeistert. Und
nachdem mich dieses Buch begeistert hat, habe ich dann gleich weitergelesen,
die Brechtbücher. Und das war sehr merkwürdig für die anderen Kinder und
Altersgenossen, daß ich dastand und ohne Unterbrechung von Brecht sprach und
Brecht kannte, Leben des Galilei und auch Baal, also
eigentlich Sachen, von denen ich überhaupt nicht so richtig verstand, was
das sollte – ich hab's dann später natürlich nochmal gelesen, um es wirklich
zu verstehen – aber dann habe ich auch etwas bemerkt, was sehr interessant
war, nämlich: ich habe zwar als Kind nicht alles verstanden, aber ich habe
Sachen verstehen können, als Kind, die sich aus dem Vers ergeben, aus der
Sprache ergeben, die einem nicht klar sind als Erwachsener, weil man ja auf
andere Dinge hören muß und ganz bestimmte Formen des Verständnisses einem
abgehen. Das hat für mich den Zugang zur Sprache verstärkt.
Dann kommt noch etwas hinzu: Die Sprache blieb mir auf
eine gewisse Art und Weise dennoch fremd. Ich sag' nicht, daß die deutsche
Sprache mir jetzt fremd ist, das wäre wirklich Koketterie und übertrieben,
aber eine Zeit lang waren manieristische Metaphern etwas, womit ich länger
spielte, glaube ich, weil ich einen eigenen Zugang, einen nicht durch die
Eltern schon durchprobierten Zugang zur deutschen Sprache hatte. Und ich
habe dann sehr früh in der Schule begonnen, Gedichte und ein Theaterstück zu
schreiben und jedem damit auf die Nerven zu gehen, der um mich herumsaß.
haGa: In Ihrem Buch Suche
nach M. beschreiben Sie so etwas wie einen Anspruch oder eine Forderung
der Überlebenden an ihre Kinder, an die Kinder der sogenannten 2.
Generation, dieses "Sei wie die anderen in Deiner Klasse, aber vergiß nicht,
Du bist nicht wie sie!" – Wie haben Sie das erlebt? Einmal als Kind und
stärker vielleicht noch als Teenager?
D.R.: Ja, es war so, daß ich in
einer gewissen Art und Weise ein Botschafter sein sollte. Ich glaube nicht,
daß ich wirklich ein guter Botschafter gewesen bin, aber ich sollte
eigentlich beweisen, daß die Juden und die Israelis etwas gutes sind. Ich
hatte beinahe einen Auftrag zu erfüllen und gleichzeitig hatte ich auch auf
die Differenz zu verweisen. Ich hatte also nicht nur die Differenz in mir zu
tragen, sondern ich sollte auch selbstbewußt sein. Das ging so weit, daß
meine Mutter mir auch auftrug, als es zu einem antisemitischen Vorkommnis in
der Klasse kam, das nächste Mal dafür zu sorgen, daß das nicht glimpflich
verläuft. Es sollte sogar zu einem Kampf kommen, ich erhielt in diesem Fall
die Erlaubnis und den Auftrag zurückzuschlagen, mit meinen Fäusten ein
Zeichen zu setzen, damit man sich das merkt, damit nicht nur die Kinder sich
das merken, sondern auch die Eltern. Sie sollten es merken,
daß etwas passiert war, und wenn es Komplikationen geben würde, dann, so
versprach meine Mutter, dann würde sie in die Schule kommen. Und so war's
dann auch. Sie kam zwar nicht in die Schule, weil so weit ging's nicht, aber
ich hatte eine tätliche Auseinandersetzung und nahm mir den Schulatlas zur
Hilfe dazu. Also ich war in einer Position, die auf jeden Fall exponiert war
und dazu kam der Name, Doron Rabinovici. Wenn ich den Namen auf irgendeiner
Party nannte, war für zwei Stunden Gesprächsstoff gesorgt: Über den Nahen
Osten, über Geschichte, über all das.
haGa: Ja, Sie sagten auch
einmal, daß in dem Moment, wo Sie als jüdischer Autor in Erscheinung treten,
die Diskussion schon in eine bestimmte Richtung geht. Glauben Sie, daß das
in Österreich noch einmal anders ist als in Deutschland?
D.R.: Es ist natürlich auch noch
in Österreich anders als in Deutschland, weil in Österreich die Debatte
nicht so lange läuft wie in Deutschland, sondern erst 1986 richtig einsetzte
mit Waldheim, mit dem damaligen Wahlkampf und der damaligen antisemitischen
Kampagne. Das hat dann sehr viel verändert und ich würde sagen, das war ein
starker Beweggrund für das Gedenkjahr 1988 und für die Erklärung von
Vranitzky, daß Österreich eben nicht nur das Opfer des Nationalsozialismus,
sondern sehr wohl auch Österreicher Täter und Komplizen gewesen sind.
Es ist so, daß aber in Österreich und in Deutschland ich
zunächst erstaunt war, wie Geschichten, von denen ich gar nicht gedacht
hatte, daß sie jüdisch seien, gelesen werden. Dazu muß ich sagen, daß ich ja
auch nicht der bin, der wissen kann, wie meine Geschichten gelesen werden.
Ich bin da teilweise auch blind, habe einen blinden Fleck gegenüber meinen
eigenen Geschichten. Ich schreibe Geschichten, und die haben nicht unbedingt
eine jüdische Konnotation – manchmal haben sie sie, manchmal ist ganz klar
das jüdische auch dabei – aber eigentlich versuche ich Geschichten zu
schreiben, die mir in den Sinn kommen, wo oft eben keine Juden vorkommen,
und trotzdem werden sie vor dem jüdischen Hintergrund gelesen.
haGa: Ein anderes Thema: Ihr
Bruder ist irgendwann nach Israel gegangen und lebt heute als Arzt in Tel
Aviv, und in einem Ihrer Essays schreiben Sie, Ihre Familie habe eigentlich
nicht in Österreich gelebt oder in der Diaspora, sondern in einem
"Provisorium", das von dem Versprechen der Eltern begleitet war, nächstes
Jahr, nächstes Jahr ... . Was hat Sie oder vielleicht auch Ihre Eltern in
Österreich gehalten und gab es es innerfamiliär Diskussionen zu dem Thema?
haGa: Naja, das "Provisorium"
war sehr lange Zeit nicht eingestanden. Mein Bruder kam ja viel älter nach
Österreich. Ich hatte eigentlich vor nach Israel zu gehen und zwar dachte
ich, ich würde hierher zum Militärdienst kommen, aber dann hieß es von allen
Seiten: "Na studier' zuerst einmal!" und wenn ich sage von allen Seiten,
dann meine ich auch die israelischen Seiten, die sagten: "Ist doch gescheit!
Mach das doch! Und dann aber ...!"
Und dann aber verfing ich mich in österreichischen
Debatten und verliebte mich etc. .. also es war eigentlich nicht geplant. Es
war keine geplante Überlegung 'Ich will in Wien leben!' Und die Frage, ob
ich in Wien leben will, diese Frage habe ich mir bis heute nicht wirklich
gestellt. Ich lebe halt dort. Natürlich bin ich mittlerweile auch schon sehr
stark beeinflußt von Wiener Kultur und auch natürlich von israelischer
Kultur. Hinzu kommt, daß heutzutage das sehr leicht überall geht. Also man
kann jederzeit hier 3sat schauen und man kann jederzeit hier STANDARD lesen,
über das Internet und umgekehrt kann ich HAARETZ lesen in Wien. Insofern
lebt man de facto zwar außerhalb eines Landes, wird aber Teil einer
"Landsmannschaft". Ich glaube, das ist nicht einmal eine spezifisch
jüdisch-israelische Geschichte oder eine spezifisch österreichisch-jüdische
Geschichte. Das ist höchstwahrscheinlich eine Zukunft für viele, für
Österreicher in Rom, für Italiener in Berlin und so weiter.
haGa: Woher kommen Ihre Eltern?
Und was hat Sie eigentlich bewogen von Tel Aviv nach Wien zu gehen?
D.R.: Meine Mutter kommt aus
Wilna und hat über ihr Überleben auch ein Buch geschrieben, das meiner
Meinung nach wirklich sehr gut ist. Das heißt Dank meiner Mutter.
Mein Vater kommt aus Rumänien, aus dem rumänischen Moldawien, und hat auch
eine abenteuerliche Fluchtgeschichte nach Palästina hinter sich. Meine
Eltern haben sich in Israel kennengelernt. Meine Mutter kam Anfang der 50er
Jahre nach Israel, mein Vater noch während des Krieges.
Sie haben mit der Kultur kein Problem gehabt, sie haben
mit dem Leben hier kein Problem gehabt. Meine Mutter sagt, sie hätte meinen
Vater deswegen geheiratet, weil er immer Karten bekommen hat auf irgendeine
Art und Weise – auch für die ausgebuchteste Kinovorstellung. Also ohne Film
wäre ich höchstwahrscheinlich gar nicht auf der Welt. Aber sie gingen auch
ins Theater und in die Oper. Das gab's ja alles in Tel Aviv.
Sie gingen nicht nach Wien, weil sie sich nach der
deutschen Sprache sehnten, oder weil sie die Wiener Oper besuchen wollten.
Meine Eltern stammen aus Wilna und Rumänien. Meine Mutter hatte Deutsch als
Kind wohl vor allem als Sprache der Mörder kennengelernt. Der Grund für den
Umzug war, daß mein Vater als Handelsagent für ein, zwei Jahre beruflich in
Wien tätig war und ja, - die blieben dann einfach, weil das entwickelte sich
alles sehr gut. Dann gingen die Kinder in die Schule. - Na gut, dann reißt
man die Kinder nicht aus der Schule heraus und so weiter. Und irgendwann war
meine Mutter so weit, mich überzeugt zu haben, daß ich Medizin studieren
sollte. Warum Medizin? - Ärzte wird man immer und überall brauchen. Und dann
sollte ich das in Wien fertig machen. Also das waren alles Zufälligkeiten
und keineswegs irgendwie geplant.
haGa: In Deutschland findet man
gelegentlich so etwas wie "Schuldbeflissenheit", also so eine Szene von
meistens Nichtjuden, die irgendwie meinen, etwas beweisen zu müssen, sich
überall engagieren. Gibt es so etwas auch in Österreich?
D.R.: Ich würde es einmal so
sagen: Diese Szenerie ist jünger, also das meine ich jetzt nicht
altersmäßig, sondern sie ist erst in den 90er Jahren stärker gewachsen. Es
gibt in Österreich aber seit Jahrzehnten das Dokumentationsarchiv des
Österreichischen Widerstandes mit Historikern, und es gibt natürlich das
Zeitgeschichte-Institut. Es gibt abgesehen davon jetzt in Österreich auch
den Gedenkdienst, der kurz, als diese neue Regierung im Jahr 2000 ins Amt
kam, von der FPÖ angegriffen worden ist, aber noch immer existiert, und das
könnte man vielleicht als eine solche Szenerie bezeichnen.
In den 90er Jahren, glaube ich, daß sich im Bezug auf die
Auseinandersetzung mit der Geschichte Positives in Österreich entwickelt
hat. Das ist seit dem Jahr 2000 in den Hintergrund geraten, und andere
Formen der Erinnerung und des Verleugnens sind wieder stärker geworden. Das
heißt, eigentlich müßte man sagen, die 90er Jahre waren jener Zeitraum, in
dem sehr viel geschehen ist an positivem. Es wurde ein jüdisches Museum der
Stadt Wien gegründet, auch das wieder ein Nukleus, wo Leute arbeiten können,
die sich mit dieser Geschichte stärker auseinandersetzen.
Hinzu kommt, daß in Deutschland, in den letzten zehn
Jahren eine neue russisch-jüdische Immigration dazugekommen ist. In
Österreich gibt es russische Juden seit die Einwanderung nach Israel über
Wien gelaufen ist, aber viel weniger und insofern ist das Bewußtsein auch da
wieder in Deutschland größer, weil ja auch das Bewußtsein größer war, daß
man Juden aufnehmen sollte, auf Grund der Geschichte.
In Österreich läuft die Diskussion eher unter dem Motto,
daß man alle Zuwanderung – und auch die Zuwanderung der Juden fällt
dann unter die gesamte Zuwanderung – in den letzten Jahren einschränken
möchte. Eigentlich ist der politische Wunsch etwas, das man
Null-Zuwanderung nennt. Das geht natürlich nicht, aber das bedeutet
letztlich auch, daß die jüdische Zuwanderung aus dem Osten nicht so erfolgt
wie in Deutschland. Das sind alles große Unterschiede.
Kurz und gut, diese Idee, daß Österreich als erstes Opfer
Hitlers die Geschichte nach Deutschland exportieren kann, das ist immer
wieder da und es ist ein mühsamer Aufklärungsprozess.
haGa: Wo sehen Sie Parallelen
oder auch Unterschiede zu Ereignissen in Deutschland. Zum Beispiel Walser
oder auch Möllemann. Wie weit wird so etwas in Österreich wahrgenommen?
D.R.: Naja, in Österreich ist
die Öffentlichkeit anders organisiert. In Deutschland gibt es vielmehr
Feuilleton, und deswegen eine viel breitere Diskussion - und in Deutschland
gibt es auch, würde ich sagen, ein viel stärkeres politisches
Elitebewußtsein, damit meine ich jetzt etwas positives, nämlich daß auf
einer ganz bestimmten Ebene ganz bestimmte Sachen nicht gehen, und die wären
dann auch ein internationaler Skandal. In Österreich denkt man sich oft "Na,
das ist ein Kleinstaat, bissel merkwürdig, was da alles geht."
Möllemann hat ja letztlich keinen Erfolg gehabt. - Das ist
eine Untertreibung, was ich jetzt gerade sage, wenn man sich überlegt, daß
er sich aus dem Flugzeug gestürzt hat.
haGa: Möglicherweise, ja, aber
es wird wohl nie ganz klar sein, ob es ein Unfall war, oder Selbstmord.
D.R.: Ja, es wird nie ganz klar
sein, aber auf jeden Fall hat er keinen Erfolg gehabt. Ich kann natürlich
nicht sagen, was gewesen wäre, wenn. Ich kann nur sagen, daß in Österreich
eine Partei, die mit Rassismus Politik gemacht hat – nicht mit
Antisemitismus unbedingt, aber mit Rassismus zunächst einmal und mit der
Verharmlosung des Nationalsozialismus – daß die in den 90er Jahren wirklich
Wahlen gewinnen konnte. Jetzt hat sich das ein bißchen umgedreht. Momentan
ist es so, als meinten die Leute, daß, wenn diese Partei schon in der
Regierung ist, dann braucht es diesen Surplus an Populismus nicht mehr.
Bei den letzten Wiener Wahlen 2001 hat Jörg Haider im
Wahlkampf zwei Sachen gesagt, die er immer wieder wiederholt hat. Das eine
war, daß der Präsident der israelitischen Kultusgemeinde in Wien, Ariel
Muzikant, daß es merkwürdig sei, daß dieser Mann Ariel heißt, wo er doch so
viel Dreck am Stecken habe. Das war das eine, was er sagte, und das andere
war, daß der Bürgermeister als Wahlkampfberater einen Mann hatte von der
"Ostküste Amerikas", wie er das genannt hat. Greenberg, hieß er, also jemand
mit einem jüdischen Namen, und dann sagte Jörg Haider, das habe ich noch im
Ohr, die Wiener hätten jetzt "die Wahl zwischen einem Spin-Doktor von der
Ostküste oder dem wahren Wiener Herz". Das war schon ziemlich eindeutig. In
Deutschland, glaube ich, hätte das zu größeren Konsequenzen geführt. Aber
das ist sozusagen meine Erfahrung. Ich kann nur folgendes sagen, daß Dinge
in Österreich schon möglich sind, die in Deutschland so nicht möglich sind.
Allerdings verloren die freiheitlichen bei diesen Wiener Wahlen dann auch
Stimmen.
haGa: Sie sind ja in der
entsprechenden Gegenbewegung auch sehr engagiert.
D.R.: Ja, ich bin der Meinung,
daß diese Regierung einen Bruch bedeutet mit einem Grundverständnis
liberaler Demokratie. Natürlich ist es möglich, mit jedem den man möchte und
der im Parlament sitzt, eine Regierung zu bilden. Ich glaube nur, daß es
sich für eine demokratische Partei verbietet, mit einer Partei eine
Regierung zu bilden, die bereit ist, Rassismus im Wahlkampf anzuwenden und
die sich nicht klar gegenüber dem Nationalsozialismus abgrenzt. Das hat auch
im Jahr 2000 dazu geführt, daß 300 000 Leute auf die Straße gingen und
demonstrierten. Mittlerweile haben sich sehr viele Menschen gewöhnt und sind
ruhig geworden. Es gibt auf beiden Seiten, auf der Seite der Gegner wie auf
der Seite der Freiheitlichen, den Wunsch nach einer gewissen Beruhigung,
"jetzt einmal nicht darüber reden." Ich glaube, daß sich das wieder umdrehen
wird. Ich halte das auch für eine Gefahr, weil à la longue kann man nicht so
tun, als ob es egal wäre, wer auf dem Regierungsparkett steht und was er da
alles auf dem Parkett runterspuckt.
Es hat sich auch gezeigt, daß wir recht hatten. Diese
Regierung ist ja nach drei Jahren zersprungen an der unkalkulierbaren
freiheitlichen Partei. Jetzt ist das natürlich eine andere, wieder
schwarz-blaue Regierung, aber mit einer viel schwächeren freiheitlichen
Partei, und trotzdem ist es eine unruhige Zeit für den Bundeskanzler
Schüssel, der immer wieder damit rechnen muß, daß aus Kärnten irgendwelche
Unkenrufe kommen.
Es ging uns nie darum, zu sagen: "Und jetzt kommt der
Faschismus!" Unser Slogan war: "Keine Koalition mit dem Rassismus"
und wir haben uns genau überlegt, warum dieser Slogan der Richtige
ist und warum nicht "Keine Koalition mit dem Faschismus" Das
Problem ist, wenn das in Österreich passiert und wenn das in Italien auf
noch gefährlichere Art und Weise teilweise passiert, obwohl Österreich
historisch gesehen prekärerer Boden ist, und wenn jetzt die Osterweiterung
kommt, und wir wissen, daß dort auch in manchen Staaten solche Gruppierungen
da sind und bereit stehen zur Koalition, dann sind Österreich und Italien
sozusagen Paradebeispiele, und eben dieser Grundkonsens, der seit 1945 doch
vorherrschte, der Grundkonsens einer liberalen Demokratie mit liberalen
Grundwerten und mehr noch einer wehrhaften Demokratie, dieser Grundkonsens
wird damit aufgeweicht oder sogar zerstört, und das wäre, glaube ich,
wirklich gefährlich.
Ich glaube, daß Haider nicht eine Gestalt ist, wie Hitler.
Ich glaube, daß wenn man Haider mit einer Figur aus der Geschichte eher
vergleichen könnte, und das ist immer problematisch, aber wenn, dann hat er
eher Parallelen zu Karl Lueger, ist er ebenso wie Lueger jemand, der bereit
ist, mit Populismus des Ressentiments Stimmen zu gewinnen. Das Gefährliche
aber ist, daß, wenn wir das Beispiel Lueger nehmen, tatsächlich Hitler von
ihm gelernt hat. Und ich glaube, als das muß man auch Haider sehen, als die
Möglichkeit, daß von ihm eine nächste Generation lernt: 'So kann's gehen.
Man muß nur vielleicht ein bißchen radikaler, ein bißchen rigoroser sein.' –
Deswegen sollte man sich mit diesen Kräften überhaupt nicht einlassen,
Regierungspolitik zu machen.
haGa: Zum Antisemitismus in
Deutschland und Österreich: In Deutschland tritt Antisemitismus gelegentlich
sehr brutal und massiv auf, im Gegensatz zu Österreich. Sie sagten einmal,
in Wien käme Antisemitismus gewissermaßen höflicher daher.
D.R.: Es ist sehr schwer, über
ganz Deutschland zu reden, aber man muß sagen, es gibt doch Gegenden
in Deutschland, wo es ja wirklich rassistische Übergriffe gibt, und daß es
in Österreich zwar – also es ist nicht so, daß es überhaupt keine
rassistischen Übergriffe in Österreich gibt – aber das ist doch etwas
anderes in manchen Teilen Deutschlands, wo es wirklich kleine Städte mit
einer relativ starken rechtsextremen Jugendkultur gibt. Was aber in
Österreich auffällt, ist, daß der Antisemitismus beiläufiger vorkommt und
daß er einem richtiggehend freundlich gegenübertritt, beinahe naiv. Das ist
Ausdruck unterschiedlicher Mentalität und öffentlicher Kultur. Die Deutschen
schauen mit Pessimismus in die Zukunft. Die Österreicher schauen mit
Optimismus in die Vergangenheit.
Möglich ist zum Beispiel, daß sich in Kärnten die
Kameradschaftsverbände der SS und Waffen-SS treffen und daß dort hohe
kirchliche Würdenträger, Repräsentanten des Landes zusammenkommen und dabei
nichts finden. Möglich ist zum Beispiel, daß beim Totengedenken auf
Kommunalfriedhöfen diese Verbände der Ehemaligen ihre Aufmärsche machen
dürfen, daß aber die Gedenkfeiern der Gegner es dabei oft viel schwerer
hatten – ich sage hatten, weil das ist ein Kampf, der in Entwicklung ist und
es wäre falsch so zu tun, als ob es keine Fortschritte gäbe.
Mich beschäftigt aber nicht nur die Frage des
Antisemitismus. Mich beschäftigt gegenwärtig auch die Frage des
Rassismus. Mich beschäftigt zum Beispiel tatsächlich, daß in den letzten
Wochen in Österreich ein Mauretanier bei einer Polizeiaktion zu Tode kam.
Und die Art und Weise, wie darauf reagiert wird, von dem Innenminister, wie
darauf reagiert wird von den Medien, ist unter jeder Kritik und unter jedem
Niveau. Das sind Sachen, von denen ich überzeugt bin, daß sie nicht nur in
Österreich passieren können, aber darum geht's nicht. Weil ich komme sonst
in die Situation, olympische Wettbewerbe in Sachen Rassismus und
Antisemitismus veranstalten zu wollen, und das sind nicht so sportliche
Disziplinen. Es genügt halt, daß es da so passiert, daß ich mich darüber
aufregen kann.
haGa: Was wird Ihr nächstes
Projekt sein?
D.R.: Im Frühling erscheint ein
Roman bei Suhrkamp. Sein Titel lautet "Ohnehin".
Ich schreibe derzeit an neuen Prosatexten.
haGa: Vielen Dank für das
Gespräch.
Interview: Franziska Werners und Markus Gick.
hagalil.com
16-10-2003 |