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Jüdische Weisheit
 
 
Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel
Der Antisemitismus nach und wegen Auschwitz

5.3. Besonderheiten sekundär antisemitischer Muster

Wie unter 5.1. gezeigt, beinhaltet die Abwehraggression eigener Schuld, dass die Opfer von Auschwitz und deren Nachkommen in die Position einer moralischen Instanz, eines veräußerten Über-Ichs, erhoben werden, mit dem permanenten Bestreben dieses aggressiv zu demontieren.

Das autoritär subjektivierte Individuum verbindet diese mit einer weiteren Projektion, welche auf dem Stereotyp der ‚jüdischen Rachsucht’ beruht. Die Juden seien von "Natur rachsüchtig, ihre Rachsucht ist unausrottbar, pathologisch."[217] Das wissen darum was den Juden angetan wurde lässt die Antisemiten nicht ruhen und schürt die Paranoia. Der eigene Sadismus wird auf die Juden als Gruppe projiziert und lässt diese als so rachsüchtig erscheinen, wie man selber ist. Hier scheint im sekundären, der alte Antijudaismus auf, nur ohne dessen christlichen Beiklang. Das Motiv der angeblichen jüdischen Rachsucht betrifft noch die Nachfahren der Opfer oder diese selbst, wo sie auf Entschädigung insistieren. Im Kampf der Überlebenden des Holocaust, um Entschädigungszahlungen[218] amalgamieren die verschiedensten sekundär-antisemitischen Ressentiments. Die unbewusste Sehnsucht nach Erlösung von Schuld, der die Überlebenden in persona entgegenzustehen scheinen, verbindet sich mit den Stereotypen von ‚Rachsucht’ und ‚Geldgier’ und der angeblichen materiellen Ausbeutung des Holocaust. Die Weigerung der deutschen Industrie den wenigen noch überlebenden Opfern ihrer Ausbeutung im Nationalsozialismus eine Entschädigung zu zahlen wird als ‚ausbeutendes Verhalten’ auf die Juden projiziert:

">Geldgierig< ist in dieser die Realität verkehrenden Vorstellung nicht die seit über 50 Jahren zahlungsunwillige deutsche Industrie, sondern die Überlebenden Zwangsarbeiter, nicht die aus der Zwangsarbeit bis heute profitierenden »schutzbedürftigen« Konzerne, sondern eine scheinbar von mächtigen Juden verfolgte deutsche Wirtschaft."[219]

Hier verbinden sich psychische mit handfest materiellen Interessen, die nicht nur seitens der Industrie, sondern auch medial eine verzerrte Sicht auf die Realität wiederspiegeln. In solchen Projektionen erscheinen die jüdischen Opfer als "so schamlos und geldgierig, daß sie sogar ihre Stellung als verfolgte Minderheit noch ausbeuten, um sich besondere Privilegien zu sichern."[220]

Gegenüber dem eigenen infantilen, regressiven Zustand erscheinen die Juden, als personifizierte Moralinstanz, nicht nur groß und mächtig. Die eigene, durch die Regression evozierte, anhaltende Kränkung scheint in diesem Zusammenhang auch auf im Wunsch nach der Aufrichtung eines kollektiven Selbstbildes in Gestalt der Nation. Deutlich wird das an der Haltung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, wenn er im Zusammenhang mit den Entschädigungsforderungen äußert, dass man den Kampagnen gegen den Ruf Deutschlands den Boden entziehen müsse[221]. Der Mechanismus ist nicht neu. Bereits Adorno stellt fest, dass die "Abwehr peinlicher und unangenehmer Erinnerungen höchst realitätsgerechten Zwecken dient", wenn die Abwehrenden selber den Hinweis geben, "daß die allzu konkrete und hartnäckige Erinnerung ans Geschehene dem deutschen Ansehen im Ausland schaden könne."[222]

Was man aber sich selber nicht zumuten mag, das soll den Opfern und deren Nachfahren nicht zugestanden werden, die ihr Leid nicht verdrängen können und für die eine Aufarbeitung der Geschichte einen Beitrag zur Verhinderung einer Wiederholung bedeutet. Rachsüchtig und inhuman erscheinen den Abwehrenden solche Gedenken. In der Projektion werden schließlich die Juden zu den eigentlichen Tätern:

"Brutal waren also nicht die SS-Leute, die die Juden marterten, sondern die Juden, die angeblich die Deutschen zwangen die Untaten der SS zur Kenntnis zu nehmen."[223]

Ähnliches findet sich auch bei Martin Walser, der in seiner bereits erwähnten Friedenspreisrede kundgetan hat:

"Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird".

Walser benennt auch gleich das Motiv der "Instrumentalisierung unserer Schande" durch "maßgebliche Intellektuelle"[224]. Nicht nur verweist die Rede von der Instrumentalisierung auf die Juden, ohne dass diese unmittelbar Erwähnung finden müssten. Walser bedient dieses bei 39 Prozent der Bevölkerung vorhandene sekundär antisemitische Stereotyp[225]. Auch bei der Nennung der Intellektuellen, die in Umkehrung des Sachverhalts "für die Mängel verantwortlich gemacht" werden, klingt die "nur leise verschleierte Stereotypie des Antisemitismus"[226] durch. Erklärlich wird der aufscheinende Anti-Intellektualismus des Intellektuellen Walser, wenn man ihn betrachtet vor dem Hintergrund eines Kulturbegriffs der ideologisch den Zusammenhang zwischen Bildung, als Teil der Kultur, und der Sphäre des Gesellschaftlichen und damit des materiellen Interesses, negiert und zugleich die Intellektuellen auf die Sphäre der Vermittlung, den Juden ähnlich, festlegt. Der Zusammenhang von Kultur und Gesellschaft wird im Kapitel 6. näher dargelegt werden, da er auch auf die Grenzen und Möglichkeiten politischer Bildungsarbeit verweist. Die im Bereich der Erinnerungsabwehr mitschwingende Frage an eine politische Bildungsarbeit gegen Antisemitismus wäre, sofern sie bereit und in der Lage ist sich von ideologischen Diskursen abzusetzen, die auf die Stabilisierung und Vormacht des Nationalen unter Funktionalisierung von Auschwitz zielen, und wie sie dazu beitragen kann, die Vergangenheit in der Gegenwart präsent zu machen.

  • [217] Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation, a.a.O., S. 91.

  • [218] Das betrifft vor allem diejenigen, welche die Vernichtung durch Arbeit überlebt haben.

  • [219] Lars Rensmann: >Alte< und >neue< Formen des Antisemitismus: Judenfeindliche Vorurteile und Bestrebungen in der Bundesrepublik vor und nach den Terroranschlägen in New York und Washington, in: Gruppe Offene Rechnungen (Hg.): The Final Insult, a.a.O., S. 165.

  • [220] Löwenthal, a.a.O., S. 85.

  • [221] Vgl. Rudy Kennedy/Luke Holland: »Zuallererst wollten wir eine individuelle Entschädigung.« Gespräch mit Rudy Kennedy und Luke Holland über den Kampf um Entschädigung und die Zukunft der Erinnerung, in: Gruppe Offene Rechnungen (Hg.): The Final Insult, a.a.O., S. 109.

  • [222] Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, a.a.O., S. 558.

  • [223] Adorno: Schuld und Abwehr, a.a.O., S. 245.

  • [224] Martin Walser: Die Banalität des Guten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 10. 1998

  • [225] Vgl. Lars Rensmann: Enthauptung der Medusa, in: Micha Brumlik / Hajo Funke / Lars Rensmann: Umkämpftes Vergessen, a.a.O., S. 40.

  • [226] Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, a.a.O., S. 132.

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hagalil.com
13-12-2004


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