4.2. Die Abstraktionen des Marktes
[ZUR
DISKUSSION IM FORUM]
In der Epoche des Feudalismus hat der Markt nur
einen Bruchteil der Produktion umfasst. Von daher sind auch die Verhältnisse
in der Gesellschaft von persönlichen Abhängigkeiten geprägt gewesen und
haben vor allem in Naturaldiensten bestanden. Die Beziehung zwischen
Produzenten, die oftmals zugleich Verkäufer ihres Produkts waren und
Abnehmern ist also oftmals auch eine persönliche gewesen. Auch wird ein
Großteil für den direkten Verbrauch, bzw. die Aneignung durch die
Herrschaft, v.a. Feudalherren und Kirche, hergestellt.
Dies ändert mit zunehmendem technischen Fortschritt
in der Produktion und sich ausdehnenden Absatzmärkten. So ist im 13. und 14.
Jahrhundert im "Schatten der Burgen und mehr noch in reichsunmittelbaren
Markt- und Handelsstädten "eine Kaufmannschaft entstanden, die, indem sie
wichtige Zweige der Ökonomie (Geldwesen, Tuchhandel, Fischhandel,
Salzhandel, Bergbau) vollständig unter ihre Kontrolle bringt, auch zunehmend
Einfluss auf die Politik gewinnt."
Der Charakter des Marktgeschehens ändert sich
dementsprechend. Die Produzenten, also die kleinen Bauern und Handwerker,
werden zunehmend auf ihre Arbeitskraft reduziert und somit auch weniger als
‚gütererzeugendes Subjekt’ wahrgenommen. Das erweiterte Marktgeschehen
erfordert von den Produzenten eine zunehmende Spezialisierung und
Konzentration auf bestimmte Produkte. Um dem nachkommen zu können wird
notwendig die Produktion von Gütern, die das tägliche Überleben sichern
aufgegeben. Diese müssen fortan getauscht oder mit Geld erworben werden,
während die eigenen Produkte zum Erwerb des Geldes an die Märkte getragen
werden. Dort finden sich die nur warenbesitzenden Produzenten im Nachteil
gegenüber den geldbesitzenden Marktrepräsentanten: Sie müssen erfahren, dass
sie ihre Produkte zu einem geringeren Wert eintauschen können, als
diejenigen Produkte, welche sie am Markt erwerben.
"Der Grund dafür ist denkbar einfach: Der Preis des Produkts, das sie zum
Kauf anbieten versteht sich abzüglich des Gewinns, den der Händler oder
Kaufmann, der Repräsentant des Markts, beim Wiederverkauf zumachen
beansprucht, wohingegen sie für das Gut, das sie durch Kauf erwerben, dessen
vollen Preis entrichten müssen."
Dieses Wertverhältnis, dass sich in den Waren am
Markt ausdrückt, wird in der Folge auf die Arbeitkraft ausgedehnt, indem
diese von den Repräsentanten des Marktes als "warenanaloge Sache"
behandelt wird. Damit signalisieren die Marktrepräsentanten, dass sie nicht
länger mit den geschaffenen Gütern als Tauschwerten im Rahmen des Marktes
rechnen. Vielmehr wird bereits, unabhängig von der sinnlichen Erfahrung, die
Arbeitskraft selbst zur Ware gerechnet und somit Teil des Marktes. Nun sind
auch die Produzenten gezwungen ihre Ware Arbeitskraft, wie vorher ihre
Produkte mit Wertabschlag zu verkaufen. So "firmiert erstmals in der
Zirkulationssphäre eben das selber als Ware, als Wertbestimmtes, was doch
zugleich in der Produktionssphäre als Schöpfer der Waren, als Quell allen
Werts funktioniert."
Dieser abstrakte Prozess wird von den Produzenten
kaum durchschaut und abgelehnt. Nicht durchschaut ist auch der doppelte
Charakter der Ware, nämlich Gebrauchswert und Tauschwert zu besitzen. Die
Ware, eben auch die Ware Arbeitskraft, repräsentiert gesellschaftliche
Verhältnisse. In der Ware vergegenständlicht sich als Folge einer
arbeitsteiligen Produktion eine "gewisse Menge gesellschaftlicher
Arbeitszeit".
Ihr Tauschwert, also der "Gebrauchswert für andere"
tritt allerdings erst in der Zirkulationssphäre, ergo weitab vom Produzenten
in Erscheinung. Der Austauschprozess jedoch, in dem die Waren am Markt in
Geld verwandelt werden, verleiht ihnen ausschließlich ihre Wertform: eben
jenes Geld. Mit der Ausdehnung des Marktes und der Geldwirtschaft erscheinen
die neuen kapitalistischen Verhältnisse als etwas sachlich und unpersönlich.
Zugleich scheinen sie dem Einfluss und Handeln der Produzenten entrückt zu
sein. Dies schlägt sich nieder in der Entgegensetzung von Ware und Geld. Die
Ware wird reduziert als etwas konkretes, stoffliches betrachtet, ihr
gesellschaftliches Verhältnis wird dabei ignoriert: Die in der Ware
materialisierte gesellschaftliche Arbeit. Während das Geld als einziger Ort
des Wertes erscheint und mit dem Abstrakten, Besonderen, fetischhaft
identifiziert wird. Die Ware ist also, wie Marx schrieb, zu einem
"vertrackten Ding", das voller metaphysischer Spitzfindigkeiten und
theologischer Mucken"
ist, geworden: Sie drückt die sozialen Verhältnisse aus und verschleiert sie
zugleich.
Auf der Ebene des Kapitals setzt sich die Aufspaltung
in Konkretes und Abstraktes fort. Das Kapital erscheint sowohl in der Geld-,
als auch in der Warenform, besitzt also keine feste Gestalt. "Kapital
erscheint als rein abstrakter Prozess."
So erscheint das zinsbringende Finanzkapital als Abstraktes, Unnatürliches,
und steht zugleich für die Dynamik des Kapitalismus. Es wird in der
Wahrnehmung des verdinglichten Bewusstseins abgespalten von der Kategorie
des Kapitals, welches nur in seinen beiden Erscheinungsformen auftritt: als
prozessuale und abstrakte Kategorie, als sich selbst verwertender Wert. Oder
wie es Horkheimer und Adorno plastisch beschrieben haben:
"Die Herren als Bürger haben schließlich den bunten Rock ganz ausgezogen und
Zivil angelegt. Arbeit schändet nicht, sagten sie, um der der anderen
rationaler sich zu bemächtigen. Sie selbst reihten sich unter die Reihen der
Schaffenden ein, während sie doch die Raffenden blieben wie ehedem. Der
Fabrikant wagte und strich ein wie Handelsherr und Bankier. (...) Am Markt
konkurrierte er mit jenen um den Profit, der seinem Kapital entsprach. Nur
raffte er nicht bloß am Markt sondern an der Quelle ein."
Wie das Abstrakte als bedrohlich und unbegreiflich
erfahren wird, so wird es verteufelt, ebenso wie das Konkrete vergötzt und
als naturhaft betrachtet wird. Dies findet auch seinen Niederschlag in der
Aufwertung körperlicher Arbeit, als ‚schaffender Arbeit’, mit gleichzeitiger
Abwertung der kapitalistischen Vermittlungsebene und all dessen, was mit
dieser assoziiert wird.
"Der Versuch, dieses neue Prinzip der Gesellschaft
zu bekämpfen, wurde auf den Nebenschauplatz des Zinsgeschäftes verlagert.
Das Verleihen von Geld gegen Zins, welches lediglich die unverschleiert
sichtbare Ausbeutungsrate darstellt, wird als ‚halsabschneiderischer Wucher’
erfahren. Erscheint in der am Markt angebotenen Ware die besondere Form der
Verausgabung von Arbeitskraft und der Gebrauchswert noch vermittelt, so
erscheint der Wert des Geldes nur noch imaginär und zufällig. Im Juden wird
mittels Projektion das Abstrakte personifiziert: Wucherer und Jude werden in
eins gesetzt. Es war der Versuch, das abstrakte Prinzip des Tauschs zu
konkretisieren, um es dadurch bannen zu können."
Diese Denkweise, eine verkürzte Sichtweise
kapitalistischer Vergesellschaftung, die seit dem 19. Jahrhundert ihren
politischen Ausdruck in einem völkischen Romantizismus findet, geht einher
mit der Fetischisierung des Konkreten: Einer Hervorhebung der Natur, des
Blutes, des Bodens, der konkreten Arbeit, der Gemeinschaft, des ‚Volkes’.
Sie geht auch einher mit einer Verherrlichung von Technik und des
industriellen, ‚schaffenden’ Kapitals, welches scheinbar als direkter
Nachfolger des Handwerks fungiert.
Eine solche Form antikapitalistischen Denkens, das lediglich die
Erscheinungsform des Kapitalismus als Finanzkapital begreift, hat sich bis
heute erhalten und aus dieser Denkform heraus wird noch immer der einseitige
"Angriff auf das Abstrakte"
betrieben. Er ist Ausdruck des verdinglichten, autoritätsfixierten
Bewusstseins, welches in pathischer Projektion die Geldform des Kapitals in
den Juden personifiziert. Diesen Prozess für Deutschland näher zu
betrachten, erscheint für ein erweitertes Verständnis des Antisemitismus
vonnöten.
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